Dieser Text ist ungeeignet zum Lesen. Er muss vorgelesen werden, besser gesagt: vorgetragen. In diesem Text geht es also nicht nur um Rhetorik, dieser Text ist Rhetorik. Vielleicht sind Sie gerade in einem Grossraumbüro oder gar in einer Bibliothek. Da geht das Vorlesen nicht so einfach. Denn Sie können nicht davon ausgehen, dass alle Anwesenden genau in diesem Augenblick Ihrem Vortrag lauschen möchten. Suchen Sie sich in diesem Fall einen ruhigen Ort, notfalls gehen Sie an ein stilles Örtchen.
Da dies ein Redetext ist und kein Lesetext, liest er sich auch nicht wirklich gut und flüssig. Das ist ein gutes Zeichen. Eine Rede, die sich gut liest, ist nämlich eine schlechte Rede. Das ist die erste und wichtigste Regel. Aber warum ist das so? Wie muss denn ein Text gestaltet sein, damit er sich gut vortragen lässt?
Anders als ein Lesetext muss ein Redetext für das Ohr geschrieben werden und nicht für das Auge. Für Zuhörer also und nicht für Leser. So trivial das klingt, so häufig wird diese recht simple Regel missachtet.
Sie ist aber sehr wichtig, denn Lesen und Zuhören unterscheiden sich stark voneinander. Beim Lesen kann das Auge beispielsweise noch einmal zurückspringen und einen Satz ein zweites Mal lesen. Der Leser bestimmt auch, wann und in welchem Tempo er einen Text liest. Lesen ist also ein selbstgesteuerter Prozess. Hören hingegen ist etwas ganz anderes als Sehen. Hören ist nämlich ein fremdgesteuerter Prozess. Der Zuhörer ist passiv, denn der Redner gibt das Tempo vor. Wiederholungen sind nicht möglich.
Der Zuhörer ist passiv. Dieser letzte Satz ist übrigens eine Wiederholung. So etwas wäre bei einem Lesetext völlig überflüssig, nicht aber bei einer Rede. Bei einer Rede ist es sogar geboten, wichtige Erkenntnisse zu wiederholen, damit sie merkfähig werden.
Diese Notwendigkeit von Wiederholungen haben die Angelsachsen in eine griffige Formel gepackt: Tell them what you’re going to tell them, then tell them, then tell them what you’ve told them. Natürlich könnte man das auch auf Deutsch sagen. Aber wenn in einer Rede plötzlich ein Satz in einer anderen Sprache ist, dann erhöht das die Aufmerksamkeit. Juristen kennen diesen Trick. Wichtige Rechtssätze werden auch heute noch Lateinisch gelehrt und gelernt. Und Englisch ist ja das neue Latein, sozusagen.
Ursprünglich war unsere Kultur eine mündliche. In einer mündlichen Kultur aber müssen sich die Menschen die Dinge merken. Das Gedächtnis kann nicht wie heutzutage ausgelagert werden – auf Papier oder elektronische Medien. Heute sind wir uns gewohnt, uns wichtige Dinge mittels Verschriftlichung zu merken. Unsere Merkfähigkeit ist deshalb geringer, als sie es bei mündlichen Kulturen war und ist. Genauso wie auch unsere Muskelkraft seit der Erfindung von allerlei Werkzeugen und Gerätschaften auch abgenommen hat (und häufig mittels völlig sinnfreiem Muskeltraining kompensiert werden muss).
Die Verschriftlichung hat umgekehrt auch dazu geführt, dass sich unser Sprechstil verändert hat. Denn plötzlich war es möglich, eine Rede vorgängig in Schriftform niederzulegen. Wir, ja besonders wir Juristinnen und Juristen, wir bedienen uns beim Verfassen rechtlich relevanter Schriftstücke gerne beim schwerfälligen Nominalstil. Weil uns etwas, wofür es ein Substantiv gibt, unveränderlich scheint. Unveränderlicher jedenfalls als Verben. Verben scheinen viel flüchtiger zu sein. Und wegen diesem Irrtum strotzen juristische Reden häufig vor Substantiven. Lesenderweise ist die geistige Aufnahme solcher Wortungetüme einfacher möglich als hörenderweise.
Das Ohr jedoch hat Mühe damit. Der Anfang des letzten Abschnitts ist als Rede deshalb gänzlich ungeeignet. «Vorgängig in Schriftform niederzulegen» beispielsweise – bei so einer Formulierung bleibt das Ohr hängen. «Vorher aufschreiben» hingegen würde richtiggehend durch die Gehörgänge flutschen. Ein Text wird umso flutschiger, je mehr Verben er hat, je einfacher und bildhafter die Wörter sind und je kürzer die Sätze sind. «Flutschen» ist sehr bildhaft. Die Wendung «flutschiger Text» weckt ein Bild, bei dem neben der linken, logischen, auch die rechte, bildhafte Hirnhälfte angeregt wird.
Reden richtet sich an die Zuhörer als ganze Menschen, nicht nur an deren Intellekt. Reden ist viel emotionaler als Schreiben. Reden muss neben dem Kopf auch das Herz ansprechen.
Die letzten drei Sätze haben alle mit dem gleichen Wort begonnen. Man nennt das eine Anaphora. Die Anaphora ist eine rhetorische Figur, bei der das immer gleiche Satzfragment oder Wort in die Rede eingebaut wird. Martin Luther King hat es in seiner berühmten Rede verwendet, die er im August 1963 in Washington vor dem Capitol hielt: «I have a dream… ».
Solche rhetorischen Figuren sind leider in Vergessenheit geraten. Und das völlig zu Unrecht. Denn mit rhetorischen Figuren kann man zweierlei erreichen. Die Rede wird mit ihnen zu Musik und damit emotionaler. So spricht sie auch das Herz an, nicht nur den Kopf. Oder wenigstens beide Hirnhälften und damit den Menschen als Ganzen.
Zudem sind rhetorische Figuren mächtige Stilelemente, die eine Rede würzen und sie unvergesslich machen können.
Die Merkfähigkeit ist ein nicht zu unterschätzender Teil einer Rede. Denn letztlich geht es bei jeder Rede ja darum, den Zuhörern einen Gedanken einzupflanzen. Erste Voraussetzung, damit sich die Zuhörer die Rede merken können, ist, dass sie während des Vortrags wach bleiben. Und dazu ist es vor allem notwendig, dass die Rede für die Ohren geschrieben wird.
Kurz gesagt ist eine Rede unter formalen Gesichtspunkten also dann gelungen, wenn die Gedanken wohlformuliert sind. Die Sprache der Rede muss dafür auf die Ohren abgestimmt werden. Sie muss beim Zuhörer zuerst durch die Gehörgänge flutschen, um dann im Gedächtnis hängenzubleiben.
Eine Rede ist letztlich wie Musik für die Ohren, mit der Kernaussage als Refrain. Dafür muss die Kernaussage auch inhaltlich griffig formuliert sein. So griffig, dass sie auch als Klospruch verwendet werden kann. Mein Vorschlag hier: Emotionale Reden flutschen leichter.
Wenn Sie das erledigt haben, können Sie ja dann wieder an Ihren Arbeitsplatz zurückkehren.
Zehn Punkte für eine gute Rede
1. Einfache Wörter benutzen.
2. Möglichst kurze Sätze verwenden.
3. Verben sind emotionaler als Nomen.
4. Sich einer möglichst bildlichen Sprache bedienen.
5. Rhetorische Stilmittel anwenden.
6. Für das Ohr schreiben.
7. Gezielt Wiederholungen einbauen.
8. Mit Humor die Suppe salzen.
9. Möglichst frei reden.
10. Weniger ist mehr.