Der Wunsch einer Gesellschaft ohne Kriminalität ist wohl so alt wie das Aufstellen von Regeln selbst. In seiner 1956 veröffentlichten Novelle «The Minority Report» zeichnet Philip K. Dick eine solche Welt: Mit der Hilfe mutierter Menschen ermittelt die Polizeibehörde bevorstehende Verbrechen und macht die «Täter» unschädlich. Anders als in der Novelle spielt das politische Leben der Schweiz nicht in der Tristesse eines kriegsversehrten Landes. Und doch macht sich auch hier – befördert von Medien und Politik – ein Klima der Angst und ein neuartiges Sicherheitsdenken breit. Dessen fundamentale Auswirkungen werden hinsichtlich des Straf- und Strafprozessrechts unter dem Titel des «Präventionsstrafrechts» rege problematisiert.
Auch die immer weiter reichenden präventiven Massnahmen im Rahmen der Terrorabwehr bleiben nicht ohne Kritik. Nachdem sogar die Uno-Menschenrechtskommission bei der Schweiz intervenierte, hat das Parlament Ende September 2020 zwar ein einschneidendes Anti-Terror-Gesetz (Bundesgesetz über polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus, PMT) beschlossen, vorerst aber auf die beabsichtigte Präventivhaft für «Gefährderinnen und Gefährder» verzichtet. Weniger Beachtung finden demgegenüber die im Gleichschritt laufenden Verschärfungen zahlreicher kantonaler Polizeigesetzgebungen. Im Zentrum stehen dabei immer Massnahmen zur Erkennung und Verhinderung von Kriminalität, ohne dass überhaupt ein Tatverdacht besteht: Die sogenannte «präventive Vorermittlung».
Tarnidentitäten und Trojaner. Konkret heisst das: Die Polizei wird ermächtigt, ausserhalb eines Strafverfahrens und ohne Anfangsverdacht Menschen mit technischen Geräten verdeckt zu observieren, unter Verschleierung der wahren Identität mit ihnen in Kontakt zu treten (verdeckte Fahndung) oder sogar unter Einsatz einer Tarnidentität ein monatelanges Vertrauensverhältnis aufzubauen (verdeckte Ermittlung). Ergänzt werden diese Kernstücke der Vorermittlung durch technische Massnahmen wie der automatischen Fahrzeugfahndung oder dem verdachtsunabhängigen Einsatz von GPS-Geräten, Drohnen oder sogar Trojanern.
Jüngstes Beispiel ist der Kanton Solothurn, der letztes Jahr eine Revision seines Polizeigesetzes in die Vernehmlassung schickte. Eingeführt werden soll auch hier eine ganze Palette an Massnahmen präventiver Vorermittlung. Darunter finden sich selbst Massnahmen, die im Rahmen eines Strafverfahrens unzulässig sind, wie etwa der Einsatz von verdeckten Ermittlern zur Erkennung eines möglichen Landfriedensbruchs. Der aufschlussreiche Kommentar des Solothurnischen Anwaltsverbandes: «Mit den der Polizei eingeräumten Instrumenten rückt man ein weiteres Stück in Richtung Überwachungsstaat.» Während des Gesetzgebungsprozesses in Solothurn hob das Bundesgericht Ende April 2020 in einer mündlichen Urteilsberatung eine Bestimmung zur verdeckten Observation im revidierten Berner Polizeigesetz auf und warnte vor einem erheblichen Missbrauchspotenzial. Ungeachtet dessen verabschiedete der Solothurner Kantonsrat seine Vorlage eine Woche später.
Unbefriedigende rechtsstaatliche und demokratische Kontrolle. Anders als im Strafrecht, wo Zwangsmassnahmen im Rahmen der Strafuntersuchung einer justiziellen Kontrolle unterliegen und sich eine landesweite Kasuistik bildete, fehlen im Rahmen der kantonalen Polizeitätigkeit eine einheitliche Praxis und klare Schranken. Jeder Kanton erlässt seine Polizeigesetzgebung selbständig, sodass ein eigentlicher Wildwuchs besteht.
Hinzu kommt, dass Betroffene von Massnahmen der präventiven Polizeitätigkeit kaum je Kenntnis erlangen, soweit diese nicht explizit strafprozessual verwertet werden. Die einzelnen geheimen Überwachungsmassnahmen haben teilweise den Charakter von Realakten – man denke etwa an eine «spontane» polizeiliche Observation, deren Anfechtbarkeit ohnehin mit Schwierigkeiten verbunden ist.
Insgesamt ist der Rechtsschutz der präventiven Polizeitätigkeit stark beschnitten. Zur Bestätigung dieser Erkenntnis reicht eine kurze Suche nach Entscheiden zur nachrichtendienstlichen Tätigkeit auf Bundesebene. Trefferquote: quasi null.
Nicht nur die justizielle Kontrolle der konkreten präventiven Polizeitätigkeit fehlt weitgehend. Auch die demokratische Legitimation ist zweifelhaft. Massnahmen der polizeilichen Vorermittlung werden fast immer im Rahmen einer Gesamtrevision oder als umfangreiche Revisionen in die Polizeigesetzgebung eingeführt. Die Vorlagen beschlagen typischerweise in weiten Teilen unbestrittene Massnahmen. Die problematischen Neuerungen wirken im Gesamtpaket häufig unscheinbar. Selbst wenn gegen solche Projekte erfolgreich ein Referendum ergriffen wird, wie dies in den Kantonen Zürich, Bern und zuletzt Solothurn der Fall war, ist eine Abstimmung schwer zu gewinnen.
Schranken der bundesgerichtlichen Rechtsprechung. Eine äusserst wichtige Bedeutung kommt deshalb der sogenannten «abstrakten Normenkontrolle» des Bundesgerichts gemäss Artikel 82 litera b BGG zu. Diese erlaubt es, kantonale Erlasse vor Bundesgericht anzufechten und einer Kontrolle ihrer Verfassungs- und Völkerrechtskonformität zu unterziehen. In den letzten Jahren behandelte das Bundesgericht mehrere solcher Beschwerden und hiess sie teilweise gut:
Polizeigesetz Zürich (2009): Aufgehoben wird unter anderem eine Bestimmung zur Observation, die keinerlei Beschränkungen der Überwachung erkennen liess. Damit werde sie zur grenzen- und konturlosen Blankettnorm (BGE 136 I 87).
Polizeigesetz Zürich (2014): Aufgehoben wird eine Norm zur Chatroom-Überwachung, weil keine richterliche Genehmigung der Überwachung, keine nachträgliche Mitteilung an die Betroffenen und auch kein Rechtsschutz vorgeschrieben war (BGE 140 I 353).
Polizeigesetz Genf (2014): Aufgehoben werden drei Bestimmungen zur Observation, verdeckten Fahndung und verdeckten Vorermittlung, wiederum weil keine nachträgliche Information der observierten Person und kein Beschwerderecht vorgesehen ist. Ausserdem wäre bei verdeckter Fahndung eine staatsanwaltschaftliche oder gerichtliche Genehmigung nach einem Monat erforderlich, bei der verdeckten Vorermittlung eine richterliche Genehmigung ab Beginn (BGE 140 I 381).
Polizeigesetz Bern (2020): Aufgehoben wird unter anderem eine Bestimmung zur Observation, weil sie nicht mindestens dieselben verfahrensrechtlichen Garantien vorsieht, die bei der Standortüberwachung gemäss der schweizerischen Strafprozessordnung (StPO) zur Anwendung kommen (Urteil des Bundesgerichts 1C_181/2019 vom 29. April 2020).
Diese Leitentscheide dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass zahlreiche problematische Normen ohne Prüfung ihrer Verfassungsmässigkeit in Kraft gesetzt wurden und angewendet werden. Zwei Beispiele: Der Kanton Basel-Stadt kennt eine Norm zur präventiven Observation «aus Gründen der Beweissicherung», die selbst Übertretungen erfasst (§ 58 PolG). Der Kanton Luzern hat eine Bestimmung zur präventiven Internetüberwachung mit Trojanern im Vorfeld von Strafverfahren bei Delikten wie «Hooliganismus» (§ 15d PolG). Beides Eingriffe, die im Rahmen der StPO unzulässig wären.
Schuldvermutung im Polizeirecht. Das Bundesgericht hielt bereits in seinem Urteil zum Zürcher Polizeigesetz 2009 fest, dass sich die präventive Polizeitätigkeit nicht leicht von der strafprozessualen trennen lasse. Deshalb sei ein für beide Seiten der polizeilichen Tätigkeit aufeinander abgestimmter harmonisierter Rechtsschutz vorzusehen (BGE 136 I 87). In seinem Leitentscheid zum Berner Polizeigesetz vom April 2020 bestätigte das Bundesgericht diese Haltung: Dass die Schranken der präventiven hinter denen der strafprozessualen Polizeitätigkeit zurückstünden, bilde «eine nicht gerechtfertigte Wertungsinkongruenz». Im Rahmen der mündlichen Urteilsberatung war gar die Rede von «schlechter Gesetzgebung» (1C_181/2019).
Doch reicht eine Angleichung an die Strafprozessordnung? Wer das glaubt, unterliegt einem fatalen Denkfehler. Denn die postulierte Harmonisierung bildet nicht nur eine Eingriffsschranke, sondern markiert zugleich eine sehr tiefe Messlatte für die grundsätzliche Zulässigkeit von verdachtsunabhängigen Massnahmen. Das Bundesgericht nimmt dies nicht nur in Kauf, sondern scheint geradezu darauf abzuzielen, den fliessenden Übergang der präventiven Polizeitätigkeit hin zur strafprozessualen zu gewährleisten.
Dabei wird eine völlige Auflösung der Kategorien in Kauf genommen, mit dem Ergebnis, dass der Grundrechtsschutz für Tatverdächtige ausgebauter erscheint als derjenige für Unverdächtigte: Während im Strafrecht die Unschuldsvermutung gilt und überhaupt nur ein hinreichender oder gar ein dringender Tatverdacht Zwangsmassnahmen legitimieren kann und diese im Rahmen der sogenannten «Verdachtssteuerung» begrenzt, gilt im Polizeirecht offenbar eine Schuldvermutung oder ein Generalverdacht, sodass dieselben Zwangsmassnahmen ohne den geringsten Tatverdacht jede und jeden treffen können. Auf Bundesebene sind gleichartige Zwangsmassnahmen wie der Einsatz von GPS-Geräten oder Trojanern ausserhalb von Strafverfahren nur unter strengen Voraussetzungen in einem begrenzten Feld von Terrorismus, Spionageabwehr und Proliferation zulässig (Artikel 27 NDG).
Der Massnahmenzweck – das Erkennen von potenziellen Straftaten – macht sodann jede Verhältnismässigkeitsprüfung zur Farce. Wo kein Verdacht ist, kann auch keine Verhältnismässigkeit vorliegen. Daran ändert eine allfällige richterliche Genehmigung nichts. Anders liegen die Dinge eben nur, wo ein konkreter Tatverdacht vorliegt und eine Interessenabwägung möglich ist. Dafür reichen jedoch die Mittel der StPO. Eine Harmonisierung ist der falsche Weg.
Schädliche Folgen für die Demokratie. Die Bewertung von Vorermittlungen, die der «Erkennung» möglicher bevorstehender Straftaten dienen, entzieht sich einem rationalen Massstab. Oder, wie es Anderton, der Polizeichef in eingangs erwähnter Novelle Dicks, ausdrückt: «Also ist die Tat an sich rein metaphysisch. Wir behaupten, sie sind schuldig. Sie wiederum behaupten ununterbrochen, sie seien unschuldig. Und in gewissem Sinne sind sie unschuldig.»
Richtigerweise kann präventive Vorermittlung nicht am Schreckgespenst einer schwerkriminellen Tat wie Terrorismus oder Menschenhandel gemessen werden, sondern primär an den Auswirkungen der Massnahmen auf die Gesellschaft. Aufschlussreich sind dabei Passagen der bundesgerichtlichen Rechtsprechung, die es leider kaum je in die Regesten schaffen. So hat das Bundesgericht die postulierten Eingriffsschranken der Observation auch damit begründet, dass die Missbrauchsgefahr besonders hoch sei und bereits einzelne Missbräuche zu einer generellen Misstrauensstimmung führen könnten und somit schädliche Folgen für die freiheitliche, demokratische Ordnung hätten. Diese schädlichen Folgen drohten bei der präventiven Überwachung noch weit mehr als bei der repressiven (1C_181/2019). In einem Fall zur automatisierten Fahrzeugfahndung hielt das Bundesgericht fest, dass anlasslose und verdachtsunabhängige Eingriffe in die Grundrechte eine abschreckende Wirkung zeitigen und die Selbstbestimmung wesentlich hemmen könnten (6B_908/2018 vom 7. Oktober 2019).
Zu Ende gedacht, macht das Konzept der präventiven Kriminalitätsbekämpfung mit einer Gesellschaft offenbar tatsächlich das, was Polizeichef Anderton folgendermassen auf den Punkt bringt: «In unserer Gesellschaft gibt es keine Schwerverbrecher. Dafür haben wir ein Straflager voller Pseudoverbrecher.»