Für jeden Beschuldigten ist klar: Er hat ein Interesse an einer fachlich versierten Verteidigung, wahrgenommen durch eine Person seines Vertrauens. Die Staatsanwaltschaften hingegen sind bestrebt, das Strafverfahren möglichst störungsfrei zu erledigen. Hartnäckige Verteidiger der Beschuldigten sind deshalb eher unbeliebt.
Die Konsequenzen dieser Ausgangslage illustriert zurzeit das Verfahren gegen den angeklagten Dieter Behring am Bundesstrafgericht in Bellinzona: Der Bundesanwalt ernannte einen amtlichen Verteidiger, zu dem der Angeklagte jedoch kein Vertrauen hat. Vertreten wird Behring nun zusätzlich von zwei privat mandatierten Verteidigern. Der Bundesanwalt begründete sein Vorgehen mit dem «Beschleunigungsgebot». Die Strafuntersuchung dauert bereits seit 2004.
Die Schweizer Strafprozessordnung regelt die Bestellung der amtlichen Verteidigung in Artikel 133. Demnach ist «die im jeweiligen Verfahrensstadium zuständige Verfahrensleitung» zur Einsetzung der Verteidigung zuständig. Für das Untersuchungsverfahren zuständig ist die Staatsanwaltschaft – also die Gegnerin der beschuldigten Partei. Das Gesetz schweigt dazu, nach welchen Kriterien die Wahl der Verteidigung zu erfolgen hat. Immerhin: Die Wünsche der beschuldigten Person sind «nach Möglichkeit» zu berücksichtigen.
Die Staatsanwaltschaft bestimmt nicht nur die Person des Verteidigers, sie entscheidet auch, ob ein Beschuldigter überhaupt verteidigt wird. Schon in diesem Punkt sind groteske Fehlleistungen möglich, wie ein kürzlich ergangener Entscheid des Bundesgerichts zeigt. Die Vertreterin einer Asylorganisation beschwerte sich beim obersten Gericht, dass ein Ausländer nie einen Verteidiger erhalten hatte, obwohl er insgesamt zu über einem Jahr Gefängnis verurteilt wurde.
Das Bundesgericht zog die Notbremse. Es stellte fest, dass dieser Ausländer mehrfach im Strafbefehlsverfahren verurteilt wurde, obwohl Anhaltspunkte dafür vorlagen, dass sich ihm der Inhalt der Gerichtsentscheide aus sprachlichen und intellektuellen Gründen nie erschlossen hatte. Zudem habe ihm sein geistiger Zustand verunmöglicht, seine Interessen selbst wahrzunehmen. Es könne unter diesen Umständen «nicht von einem rechtsstaatlichen und fairen Verfahren gesprochen werden». Der Mann sei «zum Objekt im Verfahren gemacht» worden. Diese Verfahrensmängel seien «schwerwiegend».
Am Ende weist das Bundesgericht die Vorinstanz an, dem Beschwerdeführer einen in Strafsachen rechtskundigen unentgeltlichen Rechtsvertreter zur Seite zu stellen (Urteil 6B_941/2015).
Strafverteidiger fordern transparentere Regelung
Viele Strafverteidiger stört die Allmacht der Staatsanwaltschaft in Sachen amtliche Verteidigung. Der Solothurner Strafverteidiger Konrad Jeker sagt: «Es kann nicht sein, dass die Staatsanwaltschaft ihre Gegner selbst auswählt – das ist grotesk.» Ein Berner Rechtsanwalt, der anonym bleiben will, kritisiert: «Ein Staatsanwalt hat so die Möglichkeit, einen Verteidiger auszuwählen, der keine Beschwerden einreicht und auch sonst nicht mit kritischen Fragen aneckt.»
Laut Christof Scheurer, Informationsbeauftragter der Staatsanwaltschaft des Kantons Bern, stellt der bernische Anwaltsverband jeder der vier regionalen Staatsanwaltschaften des Kantons eine Liste mit Verteidigern zu, die auf Pikett stehen. Darauf sind – je nach Grösse der Region – drei bis acht Namen von Anwälten aufgelistet.
Rechtsanwalt Dino Degiorgi weiss aber: «Die Liste wird in der Praxis nicht strikt eingehalten.» Die Staatsanwaltschaft wähle nicht immer eine Person aus dieser Pikettliste, bestätigt auch ein junger Jurist aus Bern, der nicht mit Namen erwähnt werden will. «Das muss sie auch nicht – und das ist genau das Problem.» Niemand könnte wirklich kontrollieren, wie die Auswahl schlussendlich getroffen wird.
In Bern ist das Problem bekannt: Im Magazin des Bernischen Anwaltsverbandes «In Dubio» (1/16) schreibt der Präsident, die Klagen aus der Anwaltschaft betreffend Vergabe von amtlichen Mandaten hätten sich gehäuft. Es müsse für Transparenz gesorgt werden. Der Anwaltsverband legte deshalb der Berner Generalstaatsanwaltschaft einen Entwurf für eine «Vereinbarung betreffend Handhabung Anwalt der ersten Stunde und der Vergabe von amtlichen Mandaten» vor. Die Verhandlungen darüber sind zurzeit noch nicht abgeschlossen.
Der emeritierte Strafrechtsprofessor Martin Killias weist darauf hin, dass das Problem schon lange bekannt sei: «Es wäre besser, die Pflichtverteidiger würden von einer unabhängigen Stelle bestimmt, beispielsweise von der Justizdirektion.» Denn nicht nur die Staatsanwaltschaften, auch die Gerichte seien möglicherweise «zu nahe am Fall dran».
In Basel teilte vor Inkrafttreten der Strafprozessordnung der Haftrichter als «grundsätzlich unabhängige Person» die amtlichen Mandate zu. Das wäre für Anwalt Alain Joset eine gute Lösung: «Ein bei der Oberstaatsanwaltschaft angegliedertes, unabhängiges Büro für amtliche Mandate wäre aber heute das mindeste, was man als Strafverteidiger erwartet.»
Joset weist auf einen aktuellen Entscheid des Appellationsgerichts Basel-Stadt hin, in dem es um den Widerruf der amtlichen Verteidigung durch die Staatsanwaltschaft geht (BES.2014.175).
Der Staatsanwalt hatte in diesem Verfahren den amtlichen Verteidiger ausgewechselt, weil er offenbar zu hartnäckig war und mehrere Beschwerden gegen die Untersuchungsleitung einlegte. So heisst es im Entscheid des Appellationsgerichts: «Kein Grund für einen Wechsel bildet der Umstand, dass der amtliche Verteidiger die Behörden mit unzähligen Beschwerden eindeckt.» Ein Beschuldigter habe vielmehr das Recht auf einen engagierten Verteidiger.
Joset kommentiert den Entscheid in der Fachzeitschrift «Forumpoenale» (Ausgabe 1/16): «Vorzuziehen wäre eine gesetzliche Regelung, die für die Einsetzung und den Widerruf einer amtlichen Verteidigung eine von der Staatsanwaltschaft oder mindestens der konkreten Verfahrensleitung unabhängige Behörde vorsieht.» So könnten solche Auseinandersetzungen in Zukunft reduziert werden. Falls sich solche Verfügungen der Staatsanwaltschaft jedoch häufen würden, verlangt Joset, dass «politisch eine Regelung wie beispielsweise im Kanton Zürich angestrebt und die Bestellung und der Widerruf einer amtlichen Verteidigung in die Hände einer von der konkreten Verfahrensleitung gesonderten Behörde gelegt werden».
Zürcher Regelung als Vorbild
Die Zürcher Regelung wird von mehreren von plädoyer angefragten Strafverteidigern als gute Lösung angesehen. Hier ist im Vorverfahren das bei der Oberstaatsanwaltschaft angegliederte Büro für amtliche Mandate für die Bestellung einer amtlichen Verteidigung zuständig. Das Büro führt eine Liste mit rund 450 an Mandaten interessierten Strafverteidigern.
Vergabe der Mandate nach Alphabet
Stefan Heimgartner ist Staatsanwalt für amtliche Mandate und leitet das Büro. Er sagt: «Die Staatsanwaltschaft überreicht uns die Fälle, für die es eventuell einen amtlichen Verteidiger braucht. Wir prüfen diese Anträge und verteilen die amtlichen Mandate dann an die Strafverteidiger.» Dabei würden sie mehrheitlich alphabetisch vorgehen. «Wir achten aber auch auf Kriterien wie Sprachenkenntnisse oder bestimmen bei heiklen Fällen einen erfahrenen und geeigneten Verteidiger.» In dringenden Fällen kommen auch in Zürich diejenigen zum Einsatz, die gerade Pikettdienst haben.
Ein Pikettsystem kennt man auch im Kanton St. Gallen: Ein amtliches Mandat wird an diejenige Person übertragen, die gerade Pikettdienst hat. Stehe der Pikettanwalt bereits im Einsatz, werde der Pikett-Stellvertreter angefragt. «In diesem Sinne kann der Staatsanwalt nicht selbst wählen», sagt Anwältin Bettina Surber.
Das ist auch im Kanton Aargau so. Allerdings muss man dort Mitglied des Anwaltsverbands sein, um auf die Pikettliste genommen zu werden. Das Verfahren läuft gemäss der Aargauer Rechtsanwältin Beatrice Müller-Wirth fair ab. Auch die Präsidentin des Aargauischen Anwaltsverbandes, Brigitte Bitterli, sagt: «Die Staatsanwaltschaften haben uns zugesichert, dass sie sich an die Pikettliste halten.»
Luzern hat gewählte amtliche Verteidiger
Ein anderes System praktiziert der Kanton Luzern. Dort gibt es seit rund zwei Jahren 19 amtliche Verteidiger. Diese werden vom Regierungsrat alle vier Jahre gewählt und müssen sich durch besondere Kenntnisse im Strafrecht ausweisen. «Daneben gibt es einen Pikettverein, der die Verfügbarkeit eines Pikettanwalts ausserhalb der Bürozeiten garantiert», erklärt Rechtsanwältin Luzia Vetterli. Der Verein umfasse rund 30 Anwälte. Selbstverständlich könne nicht ausgeschlossen werden, dass die Staatsanwaltschaft oder die Polizei dem Beschuldigten eine Empfehlung gebe und dabei ein Anwalt vorgeschlagen werde, der als «leichter Gegner» eingeschätzt wird.
Diese Thematik ist laut Luzia Vetterli in Gesprächen der amtlichen Verteidiger und der Oberstaatsanwaltschaft auch schon angesprochen worden. «Die Oberstaatsanwaltschaft erteilte darauf den Staatsanwaltschaften und der Polizei die Weisung, dass keine Empfehlungen abgegeben werden dürfen.»
Einen gut funkionierenden Pikettdienst gibt es auch in Basel, organisiert vom Verein Anwaltspikett für die Kantone Baselland und Basel-Stadt. Michael Lutz von der Staatsanwaltschaft Baselland sagt: «Der Verein stellt eine Website zur Verfügung, auf der die an jedem Tag eingeteilten Pikettanwälte anonymisiert aufgeführt sind.»
Für die Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft seien lediglich die Handynummern der eingeteilten Anwälte ersichtlich. «Die Staatsanwälte sind angewiesen, in Pikettfällen die jeweils publizierten Handynummern zu wählen.»
Die Praxis in den Nachbarländern
Deutschland: Die amtliche Verteidigung ist in Deutschland in Artikel 140 der Straf-prozessordnung geregelt. Hat der Beschuldigte noch keinen Verteidiger gewählt, wird dieser durch das Gericht bestellt. Dies erfolgt, sobald der Beschuldigte zur Erklärung über die Anklageschrift aufgefordert wird. Der Verteidiger kann schon während des Vorverfahrens bestellt werden. Dies setzt einen Antrag der Staatsanwaltschaft voraus. Sie stellt ihn, wenn nach ihrer Auffassung die Mitwirkung eines Verteidigers im Gerichtsverfahren notwendig sein wird. Wird der Beschuldigte in Untersuchungshaft genommen, muss unverzüglich ein Verteidiger bestellt werden.
Österreich: Artikel 62 der Strafprozessordnung regelt die Verteidigung eines Beschuldigten. Demnach muss das Gericht den jeweiligen Ausschuss der zuständigen Rechtsanwaltskammer benachrichtigen, damit dieser einen Rechtsanwalt für den Beschuldigten bestellt.
Frankreich: Hier wählt der Präsident der zuständigen Anwaltskammer den Pflichtverteidiger für ein Verfahren aus.