Das Bundesgericht hat sich kürzlich in zwei Urteilen mit der Entbindung der Anwälte vom Berufsgeheimnis zur Durchsetzung von Honorarforderungen befasst (2C_ 586/2015 und 2C_215/2015). Im ersten Entscheid vom 9. Mai 2016 verlangte ein Zuger Rechtsanwalt in seiner Eigenschaft als Willensvollstrecker des Nachlasses eines Berufskollegen um Entbindung vom Anwaltsgeheimnis, um eine aus dem Nachlass stammende Honorarforderung durchzusetzen. Die kantonale Aufsichtskommission über die Rechtsanwälte des Kantons Zug hiess das Gesuch gut. Das Bundesgericht ebenfalls – aber mit einer bemerkenswerten Begründung.
Es verwies auf das schutzwürdige Interesse des Anwalts an der Entbindung, um die offenen Honorarforderungen einzutreiben. Diesem Interesse stehe das «institutionell begründete Interesse» an der Wahrung der Vertraulichkeit und das individualrechtliche Interesse des Klienten auf Geheimhaltung der Mandatsbeziehung entgegen. Bei der Abwägung dieser unterschiedlichen Interessen sei auch dem Umstand Rechnung zu tragen, dass ein Anwalt vom Klienten grundsätzlich einen Vorschuss verlangen könne, der die voraussichtlichen Kosten seiner Tätigkeit decke. Sofern das Mandat für ihn eine wichtige wirtschaftliche Bedeutung habe, könne er zur Erhebung eines solchen Vorschusses unter dem Gesichtspunkt des Unabhängigkeitserfordernisses von Artikel 12 des Anwaltsgesetzes sogar gehalten sein. Ausser in Fällen, in denen dem Anwalt die Erhebung eines Kostenvorschusses von vornherein verwehrt sei, habe er bei Gesuchen zur Entbindung zwecks Eintreibung einer offenen Honorarforderung darzulegen, weshalb ihm eine Kostendeckung über die Erhebung eines Kostenvorschusses nicht möglich gewesen sei.
Anwalt muss Verzicht auf Vorschuss rechtfertigen
Im Urteil 2C_215/2015 vom 16. Juni 2016 schreibt das Bundesgericht, nach der Rechtsprechung sei die Entbindung zu bewilligen, wenn der Anwalt sie beantrage, um selbst eine Honorarforderung gegen seinen ehemaligen Klienten einzuklagen oder sich gegen Haftpflichtansprüche oder Strafanzeigen seiner ehemaligen Klienten zu wehren. Aber auch hier betont das Gericht, dass das nur dann der Fall sei, wenn der betroffene Anwalt dargelegt habe, weshalb ihm eine Kostendeckung zum Beispiel über die Erhebung eines Kostenvorschusses nicht möglich gewesen sei.
Aus beiden Urteilen geht nicht klar hervor, ob das Bundesgericht ein Entbindungsgesuch ablehnen würde, wenn ein Anwalt auf einen Kostenvorschuss verzichtet hatte, obwohl er einen hätte verlangen können. Wäre dies der Fall, könnte der betroffene Anwalt Honorarforderungen gegenüber seinem Klienten nicht mehr durchsetzen. Eine solche Rechtsprechung hätte zur Folge, dass das Bundesgericht faktisch für Anwälte eine Pflicht zur Erhebung von Vorschüssen einführt.
Bisher stellte sich diese Frage nicht. Die kantonalen Aufsichtskommissionen hatten die Anträge von Anwälten, die für die Durchsetzung einer Honorarforderung auf dem Gerichtsweg eine Entbindung vom Anwaltsgeheimnis verlangten, stets gutgeheissen.
Aufsichtskommissionen ändern Praxis kaum
plädoyer wollte deshalb wissen, ob sich diese ständige Praxis aufgrund der beiden Bundesgerichtsurteile ändern wird.
- Kanton Bern: Laut der kantonalen Anwaltsaufsichtsbehörde werden die beiden Bundesgerichtsentscheide «Auswirkungen auf die Praxis» haben. Der Rechtsanwalt, der um eine Entbindung vom Berufsgeheimnis ersucht, werde zumindest darlegen müssen, weshalb seine Forderung nicht durch Vorschüsse gedeckt sei. «Tendenziell ist mit einer Verschärfung der Praxis zu rechnen.» Es seien aber noch keine Entscheide ergangen.
- Kanton Luzern: Laut Renata Wüest-Schwegler, Präsidentin der Aufsichtsbehörde, habe man die Entscheide des Bundesgerichts diskutiert und sei zum einhelligen Beschluss gekommen, dass «das Anwaltsgesetz dem Anwalt keine Pflicht auferlegt, vom Klienten einen Kostenvorschuss zu erheben». Das sei vom Bundesgericht übersehen worden. Die Kommission fordert deshalb das Bundesgericht auf, «die neu geschaffene Voraussetzung für die Entbindung vom Anwaltsgeheimnis bei nächster Gelegenheit zu korrigieren».
- Wüest-Schwegler verweist auch auf die tägliche Praxis in der Anwaltstätigkeit: «Klienten konsultieren den Anwalt oft erst um fünf Minuten vor zwölf. In solchen Situationen verlangt die gesetzliche Sorgfaltspflicht vom Anwalt, dass er mit seiner Arbeit nicht wartet, bis ein Kostenvorschuss eintrifft.» Bis ein klärendes Bundesgerichtsurteil zu dieser Problematik ergangen sei, werde man deshalb bei Gesuchen um Entbindung vom Anwaltsgeheimnis wie bis anhin eine umfassende Abwägung der auf dem Spiel stehenden Interessen vornehmen und je nachdem die Entbindung erteilen.
- Kanton St. Gallen: Jürg Diggelmann, Präsident der kantonalen Anwaltskammer, hält fest: «Es gehört zweifelsohne nicht zu den Berufspflichten des Anwalts, von seinem Klienten einen Kostenvorschuss einzufordern.» In St. Gallen seien Kostenvorschüsse eher unüblich, sofern die Solvenz der Klientschaft nicht zweifelhaft sei. Diggelmann: «Es überzeugt deshalb nicht, dass das Bundesgericht die Entbindung vom Berufsgeheimnis vom Nachweis abhängig macht, dass die Erhebung eines Kostenvorschusses nicht möglich war.» Diese Rechtsprechung hätte zur Folge, dass es ausgerechnet jenen Anwälten, die nicht zuerst ans eigene Honorar denken, verwehrt bliebe, ihre Forderungen nötigenfalls auf dem gerichtlichen Weg geltend zu machen. «Konsequent zu Ende gedacht, könnte diese Rechtsprechung dazu führen, dass anwaltliche Dienstleistungen überhaupt nicht mehr ohne regelmässige Vorschusszahlungen zu haben sind. Kein Anwalt möchte ja das Risiko eingehen, dass er für seine Arbeit letztlich nicht bezahlt wird.»
- Kanton Zürich: Auch hier hält die kantonale Aufsichtskommission fest: «Eine Pflicht zu Vorschusszahlungen besteht gemäss Auftragsrecht oder dem Allgemeinen Teil des Obligationenrechts nicht.» Auch kenne das Anwaltsgesetz keine Berufsregel, wonach Anwälte stets einen Kostenvorschuss zu verlangen hätten. Fazit: «Die Aufsichtskommission wird weiterhin alle Entbindungsbegehren von Anwälten ordnungsgemäss behandeln und für Anwälte und Klienten klare Rechtsverhältnisse schaffen.»
Mangelnde gesetzliche Grundlage
Ernst Staehlin, ehemaliger Präsident des Schweizer Anwaltsverbandes, spricht in einer Kritik der beiden Bundesgerichtsentscheide in der «Anwaltsrevue» von «einem Ausreisser». Eine Korrektur dränge sich bei nächster Gelegenheit auf. Neben der mangelnden gesetzlichen Grundlage für eine Vorschusspflicht für Anwälte argumentiert er auch mit Artikel 27 der Bundesverfassung. Ein Eingriff in die Vertragsfreiheit tangiere das Grundrecht der Wirtschaftsfreiheit. Eine Vorschusspflicht könne nur über eine Änderung des Anwaltsgesetzes eingeführt werden. Das aber sei Sache des Gesetzgebers, nicht des Bundesgerichts.