plädoyer: Hans Maurer, Sie bezeichnen das geänderte Energiegesetz als Gefahr für den Rechtsstaat. Weshalb?
Hans Maurer: Das Gesetz verstösst mehrfach gegen die Verfassung. Gemäss Artikel 89 der Bundesverfassung (BV) soll der Bund im Energiebereich nur die Grundzüge regeln. Mit der Erhöhung der Grimselstaumauer regelt er in einem Bundesgesetz nun aber einen Einzelfall. So etwas habe ich in der Geschichte des Bundesstaats noch nie gesehen. Das Gesetz hebelt zudem die Kompetenzverteilung und die Planungspflicht zwischen Bund und Kantonen aus. Es statuiert einen Vorrang des Interesses an grossen Photovoltaikanlagen gegenüber anderen Interessen. Das hintertreibt die Vorgabe zur Erhaltung von Natur- und Landschaftsschutzobjekten, die in der Verfassung verankert ist. Nicht zuletzt fehlt es dem Gesetz an der behaupteten Dringlichkeit. Dem Rechtsstaat und der Gewaltenteilung wurde nicht Rechnung getragen. Ich fürchte, dass ein solches Vorgehen künftig Schule machen könnte.
Mischa Morgenbesser: Ich kann diese Bedenken grundsätzlich nachvollziehen. Es ist aber nicht das erste Mal, dass das Parlament ein Gesetz erlassen hat, das im Widerspruch zur Verfassung steht. Das lässt unser System zu, eine Verfassungsgerichtsbarkeit gibt es in der Schweiz bekanntlich nicht. Ich halte es für vertretbar, dass die Interessenabwägung zwischen der Energieversorgung und dem Natur- und Umweltschutz für einmal vom Gesetzgeber vorgenommen wurde. Bis anhin taten dies meist die Gerichte. Das trug kaum zur Rechtssicherheit bei, die Interessenabwägung fiel bei den verschiedenen Instanzen unterschiedlich aus. Nun hat das Parlament den Spiess umgedreht und die Abwägung quasi am Anfang vorgenommen. Grossprojekte können so ohne all die juristischen Risiken umgesetzt werden.
plädoyer: Liegt Dringlichkeit vor, wie es für ein solches Vorgehen erforderlich ist?
Morgenbesser: Die Dringlichkeit wird mit der Winterstromlücke begründet, die sich in den nächsten Monaten auftun könnte. Das erfordert Massnahmen. Ob diese sich effektiv in den nächsten Jahren umsetzen lassen, wird der Praxistest zeigen.
Maurer: Dringlichkeit setzt voraus, dass ein nicht wiedergutzumachender Nachteil droht, wenn man das Gesetz nicht sofort in Kraft setzt. Allein die Bauzeit für die Erhöhung der Grimselstaumauer beträgt aber sechs Jahre, Planung und Konzessionsvergabe nicht eingerechnet. Und die Realisierung einer Photovoltaikanlage, wie sie in Grengiols VS angedacht ist, nimmt 7 bis 15 Jahre in Anspruch. Beim geänderten Energiegesetz kann deshalb nicht mit Dringlichkeit argumentiert werden. Es hätte ein obligatorisches Verfassungsreferendum stattfinden müssen.
plädoyer: Sie sehen keine drohende Energiekrise, die schnelles Handeln des Gesetzgebers rechtfertigt?
Maurer: Wegen des Kriegs in der Ukraine haben wir eine Gaskrise. Diese kann eine Strommangellage hervorrufen. Der einzige rasche Weg, der uns daraus herausführt: Wirtschaft und Private müssen weniger Energie verbrauchen. Würden die Leute beim Duschen Sparbrausen einsetzen und so 10 statt 45 Liter Wasser brauchen, wäre mehr Energie eingespart, als man nun mit den grossen Solaranlagen in den Alpen erzeugen will. Am Anfang müssen Effizienz und Suffizienz stehen. An zweiter Stelle kommen Solaranlagen auf Dächern, insbesondere bei bestehenden Gebäuden. Dann neue Anlagen auf ökologisch weniger wertvollen Flächen. Erst wenn all das ausgeschöpft ist, sollte man über Solaranlagen in der fragilen Alpenwelt nachdenken.
Morgenbesser: Wir wollen mit der Energiewende von den fossilen Energieträgern wegkommen und mittelfristig aus der Atomenergie aussteigen. Es fallen also Energieträger weg, deren Leistung ersetzt werden muss. Es braucht deshalb neue Anlagen, die mit erneuerbaren Energien die Lücken füllen. Es spricht nichts dagegen, dass jeder Einzelne seinen Sparbeitrag leistet, doch wirklich vorwärts kommt man damit kaum. In den letzten Jahren wurde nicht mehr Energie verbraucht, aber die Bevölkerung ist gewachsen. Und auch neue Technologien brauchen Strom, Elektroautos zum Beispiel. Allein auf individuelle Massnahmen und ein Umdenken der Bürger zu setzen, ist eine Sisyphusarbeit.
Maurer: 99 Prozent der Leute haben keine Vorstellung davon, was das Schlagwort «Energiewende» effektiv bedeutet. Wenn es uns ernst ist mit der Reduktion des Treibhauseffektes, muss primär der Verbrauch der fossilen Energien reduziert werden. Deren Preise dürften steigen. Das wird zu unangenehmen sozialpolitischen Fragen führen. Zum Beispiel zur Frage, ob wirklich jedermann das Recht hat, zehn Liter Benzin pro Woche zu verbrauchen.
plädoyer: Kann man mit dem geänderten Energiegesetz dem drohenden Engpass wirkungsvoll begegnen?
Maurer: Nein, das Gesetz trägt dazu so gut wie nichts bei. Man holt sich mit Photovoltaik-Grossanlagen in den Alpen bestenfalls in vielen Jahren zwei Terawattstunden Strom pro Jahr. Das ist nicht mehr als etwas warme Luft.
Morgenbesser: Das Gesetz sieht auch eine Pflicht zur Nutzung von Sonnenenergie bei neuen Gebäuden vor. Das ist ein wichtiger Puzzlestein. Die Förderung von Grossenergieanlagen wie der Grimselstaumauer kann zumindest helfen, die Lücke beim Winterstrom zu schliessen. Und die Gefahr ist real, dass wir im Winter keinen Strom mehr importieren können – zumindest solange kein geordnetes Verhältnis zur Europäischen Union besteht.
plädoyer: Hans Maurer, was sagen Sie dazu, dass das geänderte Energiegesetz mehr Rechts- und Planungssicherheit bei Grossprojekten bringe?
Maurer: Das Gesetz wirft mehr Fragen auf, als es Probleme löst. Das Parlament scheint nicht auf dem Radar zu haben, dass wir nicht nur eine Klima- und eine Energiekrise haben, sondern auch eine Biodiversitätskrise. Bei jeder neuen Anlage müsste eigentlich abgewogen werden, ob sie das Maximum an Mehrenergie erzeugt und dabei so wenig ökologische Schäden verursacht wie möglich. Beispiel Windenergie: In Norddeutschland ist die Energieausbeute durch Windräder grösser als in der Schweiz. Geht man davon aus, dass durch Windräder in beiden Regionen etwa gleich viele Vögel und Fledermäuse erschlagen werden, dann hätten wir hier pro Kilowattstunde achtmal mehr tote Vögel und Fledermäuse als in Norddeutschland. Im nun geänderten Energiegesetz geht es nicht um Windenergie, aber solche Überlegungen wurden dort generell nicht gemacht.
Morgenbesser: Ich finde auch, dass es bei Energieprojekten darum gehen sollte, möglichst viel Energie zu produzieren und dabei möglichst schonend in die Natur einzugreifen. Aber es ist sinnvoll, wenn der Gesetzgeber die Interessenabwägung vornimmt und nicht die Gerichte über die Einzelfallrechtsprechung. Ich begrüsse mehr gesetzgeberische Leitplanken.
Maurer: Möchte man mit Solarpanels in den Alpen die Energie der vier verbliebenen Atomkraftwerke ersetzen, reden wir von 300 Quadratkilometern Fläche. Oder alternativ von 4000 Windturbinen. Ich sehe die Notwendigkeit nicht, die Bergwelt zu verbauen oder Windturbinen in Wälder zu stellen. Man kann mit Photovoltaikanlagen auf Dächern viel mehr Strom gewinnen. Dabei reicht es nicht, nur Neubauten ins Visier zu nehmen. Es braucht Mechanismen, um bestehende Dächer für Investoren attraktiv zu machen. Etwa indem man Eigentümer verpflichtet, ihre Flächen einem Photovoltaikpool zur Verfügung zu stellen.
Morgenbesser: Der Fokus auf die Dächer allein löst das Problem der Winterstromlücke nicht.
Maurer: Doch, wenn die bestehenden Pumpspeicherkraftwerke darauf ausgerichtet und neue gebaut werden. Die hohen Kosten dafür müssen die Konsumenten und die Wirtschaft als Teil der Energiewende tragen. Diesen Herbst wollte sich nicht einmal die Axpo, die den Kantonen gehört, mit ihren Speicherseen an einer Lösung des Energieengpasses beteiligen. Das finde ich pitoyabel. Aber offenbar hat der Bund das Gefühl, dass die übrigen Speicher genug hergeben. Sonst hätte er die Axpo gezwungen, ihre Speicher zur Verfügung zu stellen. Dann braucht es aber auch keine neuen Grossprojekte im Hauruckverfahren.
plädoyer: Stichwort Verfahren: Ist es grundsätzlich zu schwierig und langwierig, grosse Energieprojekte zu realisieren, abgesehen von der aktuellen Lage?
Morgenbesser: Die Verfahren dauern sicher lange. Ich glaube, dass nicht einmal die Einsprecher etwas dagegen hätten, wenn ein Entscheid schneller vorliegen würde. Da geht es zum Teil auch um fehlende personelle Ressourcen auf Behördenseite. Es ist aber so, dass man in solchen Verfahren von Gesetzes wegen sehr viel Papier produzieren muss. Ich bin der Meinung, dass man die Interessenabwägung bei Energieprojekten auch vornehmen könnte, ohne 500-seitige Umweltverträglichkeitsberichte verfassen und lesen zu müssen. Die Verfahren könnten beschleunigt werden, ohne dass dies auf Kosten des Rechtsschutzes geht.
Maurer: Die Verfahrensdauer bei Grossprojekten wird schon lange beklagt. Dies ist zum Teil der Komplexität geschuldet, vor allem aber auch der Unterdotierung von Behörden und Gerichten mit Personal. Es sind oft gerade jene Kreise, die schnellere Prozesse wollen, die sich gegen Personalaufstockungen stellen. Ich sehe kein Problem darin, wenn komplexe Verfahren etwas länger dauern. Das ist nun einmal so in einem Rechtsstaat. Wir sind nicht in China, wo für ein Staudammprojekt über Nacht ein paar Millionen Menschen umgesiedelt werden. Dass man sich gegen Projekte wehren kann, ist eine Errungenschaft.
Morgenbesser: Auch ich will keinen Abbau des Rechtsstaats. Aber wenn der Gesetzgeber im Energiebereich Ziele festschreibt, sollten Taten folgen. Mit dem geänderten Energiegesetz wagt das Parlament den Versuch, etwas Grösseres kurzfristig umzusetzen. Ob das aufgeht, ist offen. Aber ich kann mir vorstellen, dass dieses Gesetz dereinst den Anstoss zu einem anderen, noch etwas ausgetüftelteren Gesetz gibt.
plädoyer: Ein Kompromiss zwischen der Verfahrensbeschleunigung und der Wahrung von Rechtsstaatlichkeit könnte das konzentrierte Plangenehmigungsverfahren sein, das Plangenehmigung, Bewilligung und Enteignung zusammenfasst.
Maurer: Ich frage mich, ob es von den Behörden in seiner ganzen Komplexität gehandhabt werden könnte. Man müsste schon im Richtplanverfahren, also eine Stufe vor dem Plangenehmigungsverfahren, eine Interessenabwägung vornehmen, in welcher auch die wichtigsten umweltpolitischen No-Gos thematisiert würden. Heute hapert es bei grösseren Projekten nämlich oft an ungenügenden Abklärungen auf Richtplanstufe. Nimmt man diese nicht vor, hilft auch ein konzentriertes Plangenehmigungsverfahren nicht viel.
plädoyer: Die Abwägung zwischen Energieversorgung und Natur- und Umweltschutz ist ein Spagat. In welche Richtung wird das Pendel auf der gesetzgeberischen und juristischen Ebene ausschlagen?
Maurer: Sollte der Krieg in der Ukraine bald zu Ende sein und sich die Gaskrise und in der Folge auch die Stromlage entschärfen, wird man wieder ein bisschen vernünftiger werden und einsehen, dass auch die Biodiversität geschützt werden muss. Sollte dem nicht so sein, folgt wohl eine weitere Revision des Energiegesetzes, die Umweltgesetze noch stärker ausser Kraft setzt als die aktuelle. Es werden Restwasserbestimmungen fallen und so weiter. Darüber wird es dann eine Volksabstimmung geben – mit offenem Ausgang.
Morgenbesser: Es ist denkbar, dass die Energiepreise ansteigen und die Bevölkerung dies schrittweise spüren wird – was nicht nur schlecht ist. Energie war in den letzten Jahren häufig zu günstig. Ob ein solcher Energiespareffekt über das Portemonnaie nachhaltig ist, ist fraglich. Unabhängig davon gilt es, den erwähnten Spagat zwischen Energieversorgung und Naturschutz zu meistern. Wenn es der Gesetzgeber mit den Energiesparzielen ernst meint, kommt er nicht darum herum, gewisse Leitplanken festzulegen, um diese Ziele zu erreichen. Ich halte einen Gesamterlass im Energiebereich für sinnvoller als ein gesetzgeberisches Flickwerk. Und es braucht eine Art Sachplan für bestimmte Projekte.
Maurer: Für einen solchen Sachplan wäre aber eine Verfassungsänderung notwendig. Es schwebt bei diesen Diskussionen im Raum, dass der Bund im Energiebereich seine Kompetenzen massiv ausbauen will. Aktuell hat er nur eine Grundsatzgesetzgebungskompetenz. Ich frage mich, was eigentlich mit den Kantonen ist. Die Raumplanung ist eine heilige Kuh der Kantone. Bis jetzt haben sie sich im Energiebereich erfolgreich gegen übermässige Eingriffe des Bundes gewehrt. Mir scheint es nicht sinnvoll, die Kantone aus der Verantwortung zu nehmen. Wir haben ein System mit gewachsenen Strukturen. Dieses anzutasten ist mit grossen Umwälzungen verbunden.
Morgenbesser: Es ist nicht zentral, welche Stufe eine Bewilligung für ein bestimmtes Projekt erteilt. Hingegen ist eine übergeordnete Planung wichtig. Noch einmal: Wenn wir die gesetzten Energiesparziele erreichen wollen, braucht es Leitplanken und Vorgaben, es muss geklärt werden, welche Projekte Priorität haben. Der runde Tisch zwischen Behörden und Umweltverbänden, den es jüngst zum Thema Wasserkraft gab, war eine gute Sache.
Hans Maurer, 59, Rechtsanwalt in Zürich. Zu seinen Tätigkeitsgebieten gehört das Umweltrecht. Er ist gelegentlich auch für Umweltverbände tätig.
Mischa Morgenbesser, 49, Rechtsanwalt in Zürich. Zu seiner Klientschaft gehören unter anderem Energieversorgungsunternehmen.
Energie-Grossprojekte haben Vorrang
Die Bundesversammlung hat Ende September eine Änderung des Energiegesetzes beschlossen. Unter anderem wurde ein Artikel eingefügt, der die Erstellung von Photovoltaik-Grossanlagen in den Bergen ermöglicht, wie es in Grengiols VS geplant ist. Eine Planungspflicht besteht gemäss Gesetz nicht und das Interesse an der Realisierung soll per Gesetz «anderen nationalen, regionalen und lokalen Interessen» grundsätzlich vorgehen.
Gleiches gilt für «zur Nutzung der Wasserkraft gebotene Massnahmen innerhalb des Kraftwerksystems beim Projekt Grimselsee» (Erhöhung der Grimselstaumauer). Weiter sieht das Gesetz beim Bau neuer Gebäude ab einer bestimmten Fläche (300 Quadratmeter) eine Pflicht zur Erstellung einer Solaranlage vor. Die Kantone regeln die Ausnahmen.
Das geänderte Energiegesetz wurde für dringlich erklärt. Es trat am 1. Oktober in Kraft und gilt bis zum 31. Dezember 2025. Es untersteht dem fakultativen Referendum.