Die Schweizer Justiz machte jüngst mehrmals Schlagzeilen im Ausland. Und zwar unrühmliche. «An den obersten Gerichten der Schweiz geht es drunter und drüber», schrieb die «Frankfurter Allgemeine Zeitung». Die Rede war Mitte August von «Verhältnissen wie in einer Bananenrepublik», von einem «Systemversagen der Schweizer Justiz».
Knapp zwei Wochen später folgte ein zweiter, ausführlicherer Bericht. Angesprochen wurden durchwegs unbequeme Fakten: Ein Bundesanwalt, der sich ausser Protokoll mit Prozessparteien trifft und trotzdem vom Parlament wiedergewählt wird. Ein Bundesstrafgericht, das vom Fifa-Prozess überfordert ist und ihn in die Verjährung begleitet. Interne Querelen an ebendiesem Gericht mit Mobbing-, Spesenexzess- und Sexismusvorwürfen. Und ein Bundesgerichtspräsident als oberster Aufseher, der keine Belege für diese Vorwürfe fand, die Richter aber zu «Anstand, Höflichkeit und Respekt» aufforderte, selbst gleich mit schlechtem Beispiel voranging und eine Tessiner Richterin mit herablassenden Äusserungen beleidigte.
In der Schweiz wächst das Unbehagen über die Justiz
Die schlechte Presse fügte der Schweizer Justiz laut den beiden emeritierten Professoren Rainer Schweizer und Markus Mohler international einen «enormen Reputationsschaden» zu. «Überall wurde registriert, dass der Chef der Bundesanwaltschaft sich nicht so verhält, wie es den Pflichten seines Amtes und den Interessen des Bundes entsprochen hätte», so Schweizer gegenüber plädoyer. Dazu kam, dass das Bundesstrafgericht in mehreren Verfahren scheiterte. «Im Fall Fifa war die Gerichtspräsidentin in Bellinzona viel zu wenig speditiv», kritisiert der Professor.
In der Schweiz nahm das Unbehagen über die eigene Justiz in den letzten Jahren immer mehr zu. Es äusserte sich beispielsweise in der Einreichung der Justizinitiative im August 2019 mit gut 130 000 Unterschriften. Sie will die Allmacht der Parteien über das Bundesgericht durch ein Losverfahren beenden, verlangt eine Auswahl der Kandidaten durch eine Fachkommission und eine einmalige Amtsdauer. Damit sollen die Unabhängigkeit und die Unparteilichkeit der Richter gewährleistet werden. Die sensibilisierte Öffentlichkeit nehme heute die parteipolitisch geprägten Richterwahlen mit einer immer grösseren Beunruhigung wahr, stellt auch der Basler Rechtswissenschafter Peter Albrecht fest.
Bundesrat und Parlament hätten nun die Chance, mit einem Gegenvorschlag zur Justizinitiative auf das Unbehagen aus der Bevölkerung wie auch aus Lehre und Praxis zu reagieren. Doch die Regierung entschied sich, dem Parlament die Ablehnung der Initiative ohne Gegenvorschlag zu beantragen. Dies obwohl der Bundesrat selbst argumentiert, er habe «grundsätzlich Verständnis für einige der Ziele und Anliegen der Initianten». Und anerkenne selbst ein «gewisses Spannungsverhältnis zwischen einer unabhängigen Amtsführung und dem zurzeit praktizierten System, wonach Richter faktisch Mitglied einer politischen Partei sein und Mandatssteuern bezahlen müssen». Ihm sei auch bewusst, dass für Richter einzelne ihrer Urteile Konsequenzen im Wiederwahlverfahren haben könnten. Eine einmalige Amtsdauer wäre deshalb grundsätzlich geeignet, die Unabhängigkeit von Richtern zu stärken. Und das Losverfahren könnte zudem die Chancen von Parteilosen erhöhen, Bundesrichter zu werden. Trotzdem lehnt der Bundesrat die Initiative ab und sieht keinerlei Handlungsbedarf.
Chance, die Verpolitisierung der Justiz zu stoppen
«Der Bundesrat hat hier eine Chance verpasst, endlich die Probleme in der Justiz anzugehen», sagt Rainer Schweizer dazu. Er ergänzt: «Die Wahl der Richter ist heute nicht mehr glaubwürdig.» Damit spricht er aus, was viele seiner Kollegen aus der Justiz, Lehre und Anwaltschaft ebenfalls kritisieren. «Das Parteibuch darf nicht mehr ausschlaggebend sein, um für einen Richterposten kandidieren zu können», sagt Niccolò Raselli, der 17 Jahre lang Bundesrichter war. Es sei ein gravierender Missstand, dass nicht parteigebundene Kandidaten trotz einer öffentlichen Ausschreibung der vakanten Stellen und der Vorbereitung der Wahl durch die Gerichtskommission keine Chance hätten, überhaupt vorgeschlagen, geschweige denn tatsächlich gewählt zu werden. Raselli: «Zum einen wird dadurch das Rekrutierungspotenzial empfindlich eingeschränkt, zum andern werden nicht parteigebundene Kandidaten ungerechtfertigt diskriminiert.» Es komme auch vor, dass Bewerber unmittelbar vor der Wahl aus dem einzigen Grund einer Partei beitreten oder gar die Partei wie ihr Hemd wechseln, um eine Wahlchance zu haben, weiss Raselli.
Auch Markus Mohler, ehemaliger Polizeichef von Basel, langjähriger Staatsanwalt und Lehrbeauftragter an den Universitäten von Basel und St. Gallen, kritisiert die Situation: Knapp acht Prozent der stimmberechtigten Bevölkerung seien Mitglied einer Partei. Die anderen seien von Richterposten auf Bundesebene ausgeschlossen. Das verletze das Grundrecht der Versammlungsfreiheit. Danach dürfe niemand gezwungen werden, einer Organisation beizutreten. Um ans Bundesgericht gewählt zu werden, müsse man auf dieses Grundrecht verzichten.
Befristete Amtsdauer und einmalige Wahl
Mohler sieht in der heutigen Praxis auch eine Verletzung des verfassungsmässigen Gleichbehandlungsgebots. Ihm geht es aber vor allem um die Abwehr der Verpolitisierung der Justiz. Schon Ansätze wie etwa in Ungarn oder Polen seien konsequent zu verhindern. Die praktische Umsetzung der auf dem Papier gewährleisteten Gewaltentrennung spiele eine wesentliche Rolle. Mohler verweist auf die SVP, welche die Wiederwahl von Bundesrichter Yves Donzallaz aus politischen Gründen zu verhindern suchte. Aus diesem Grund befürwortet Mohler eine einmalige Wahlperiode von etwa zwölf Jahren – ohne Möglichkeit der Wiederwahl.
Auch der ehemalige St. Galler Bundesrichter Niklaus Oberholzer spricht sich für eine Beschränkung der Amtszeit auf acht oder zwölf Jahre aus. «Denn jede Macht birgt die Gefahr in sich, dass sie korrumpiert.» Eine beschränkte Amtsdauer hätte seiner Ansicht nach auch den grossen Vorteil, dass Richter gezwungen wären, «andere Betriebe kennenzulernen und in anderen Berufsfeldern tätig zu werden, welche zu einer differenzierteren Sicht auf juristische Problemlösungsansätze führen würde». Auch sein Luzerner Kollege Hans Wiprächtiger befürwortet eine einmalige Wahl. «Damit wären die Versuche der Parteien, auf die Rechtsprechung Einfluss zu nehmen, mit einem Schlag erledigt», sagt der Ex-Bundesrichter.
Oberholzer findet auch die Mandatssteuer problematisch: Ein wesentliches Hemmnis nämlich für eine vermehrte Berücksichtigung parteiloser Bewerber dürfte im heutigen System der Mandatsabgabe liegen. Dies könnte gelöst werden, indem sich die Schweiz endlich zu einer Parteienfinanzierung bekenne. Etwa indem der Lohn der Richter «um den Anteil einer durchschnittlichen Mandatssteuer reduziert und dieser Betrag direkt an die politischen Parteien ausgerichtet wird».
Sprachen, Regionen und Geschlechter wichtiger
Für Schweizer funktioniert die parteipolitische Repräsentationsidee auf Richterstufe generell nicht mehr. «Wir sollten zufrieden sein, wenn im Gericht verschiedene Sprachen, Landesgegenden und allenfalls sogar unterschiedliche Kulturen vertreten sind.» Auch der Anteil der Frauen müsse bei den Gerichten des Bundes wachsen. Die Auslese der Kandidaten müsse durch ein Gremium erfolgen, das mit Leuten aus den Gerichten, der Anwaltschaft und der Universitäten zusammengestellt wird.
Schweizer Justiz: Ein europäischer Sonderfall
Die Schweiz ist das einzige Land Europas, das seine Richter nach Parteiproporz bestimmt. Mehr noch: «In vielen Ländern ist es den Richtern sogar verboten, einer Partei anzugehören», sagt Stephan Gass, Kantonsrichter in Baselland. Auch die periodische Wiederwahl der obersten Richter durch das Parlament wird sonstwo in Europa kaum noch praktiziert.
In Deutschland ist der Bundesgerichtshof das höchste Gericht auf dem Gebiet der ordentlichen Gerichtsbarkeit und damit letzte Instanz in Zivil- und Strafverfahren. Die Richter dieses Gerichts werden von einem Richterwahlausschuss gewählt. Ihm gehören die Justizminister der Länder und 16 vom Bundestag gewählte Mitglieder an. Die Parteizugehörigkeit der Richter spielt bei der ordentlichen Wahl keine Rolle. Kandidaten können vom Bundesjustizminister und von den Mitgliedern des Richterwahlausschusses vorgeschlagen werden. Der Bundesgerichtshof gibt durch seinen Präsidialrat eine Stellungnahme zur persönlichen und fachlichen Eignung der Vorgeschlagenen ab, die für den Richterwahlausschuss aber nicht bindend ist. Der Ausschuss entscheidet in geheimer Abstimmung mit dem einfachen Mehr. Nach ihrer Wahl werden die Richter des Bundesgerichtshofs auf Lebenszeit ernannt.
Sie können vor Erreichen des Renteneintrittsalters nur aufgrund schwerwiegender Verstösse aus dem Amt gehoben werden.
In Österreich ist der Oberste Gerichtshof die höchste Instanz in Zivil- und Strafsachen. Die Ernennung der Richter erfolgt durch den Justizminister – anhand eines Dreiervorschlags des Personalsenats des Obersten Gerichtshofs. Der Justizminister ist zwar an den Dreiervorschlag nicht gebunden, hält sich jedoch de facto daran.