Tobias Früh (Name geändert) sitzt seit acht Jahren hinter Gittern. Er wurde gemäss eigener Angabe wegen mehrfachen Raubs zu zehn Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Den Grossteil seiner Haftzeit verbrachte er in der Anstalt Pöschwies in Regensdorf ZH. Früh beklagt Schikanen. In der Hoffnung, die Situation zu verbessern, formulierte er vor knapp einem Jahr eine umfangreiche Petition. Sie forderte unter anderem eine Aufhebung des Arbeitszwangs für die Insassen, eine Erweiterung des Lehrstellenangebots sowie eine Verlängerung von Hofgang und Zellenöffnungszeiten.
Die Petition enthielt auch noch andere, spezifischere Forderungen, die Einblicke in den Alltag hinter den Gefängnismauern geben. Der von den Steuerzahlern finanzierte Fussballrasen zum Beispiel stehe den Insassen nur in Ausnahmefällen zur Verfügung. Die Häftlinge müssten auf einem kleinen Teerplatz gleich nebenan spielen, wo sie sich regelmässig Verletzungen zuziehen würden. Zu schaffen macht auch die anstaltsinterne Glocke: «Tagtäglich, auch am Wochenende, wenn manch einer ausschlafen möchte, belästigt uns dieser Glockenlärm» direkt vor den Zellen.
Plötzlich in Sicherheitshaft versetzt
Anders als in anderen Ländern behalten Gefangene in der Schweiz ihre politischen Rechte. Dazu gehört neben dem Stimm- und Wahlrecht auch das Petitionsrecht. Gemäss Früh glich das Erstellen der Petition in der Pöschwies aber einer Sisyphusarbeit. «Mitgefangene wurden vom Personal subtil eingeschüchtert und so vom Unterschreiben abgehalten», sagt er. Auch sei die Petition potenziellen Unterzeichnern immer wieder weggenommen worden. Dennoch habe er rund 100 Unterschriften zusammengebracht und die Petition im Dezember 2020 dem Zürcher Regierungsrat übermittelt. Als Früh sich einige Monate später auch noch schriftlich gegen ein neu eingeführtes Zahlungssystem mittels Fingerabdruck zur Wehr setzte, passierte etwas Merkwürdiges: Kurz nachdem er das entsprechende Schreiben aufgegeben hatte, wurde er von der Pöschwies nach Lenzburg AG transferiert und in Sicherheitshaft versetzt. Warum? Das wisse er nicht, sagt Früh. Auch sein Anwalt Bruno Steiner wurde über die Hintergründe der Versetzung nie orientiert. Sollte ein unbequemer Gefangener mittels Versetzung in Sicherheitshaft diszipliniert werden? Früh und Steiner gehen davon aus. Beweisen können sie es nicht. Das Zürcher Amt für Justizvollzug sagt dazu: «Es gibt immer wieder Gerüchte, die wir aus Gründen des Datenschutzes oder des Rechts auf Persönlichkeitsschutz der inhaftierten Personen nicht im Detail kommentieren.»
Der Zürcher Anwalt Stephan Bernard, wie Steiner einer der wenigen Strafverteidiger, die Klienten auch im Vollzug vertreten, kann den Fall Früh nicht beurteilen. Er sagt aber: «Allgemein ist es durchaus denkbar, dass das Instrument der Versetzung von den Behörden auch als Retorsionsmassnahme angewendet wird.»
«Fall Brian nur die Spitze des Eisbergs»
Unabhängig vom Fall Früh schildert Bruno Steiner zahlreiche weitere Fälle, in denen es seiner Meinung nach zu Schikanen und Machtmissbrauch im Strafvollzug kam (siehe Kasten). «Das Ganze hat System», sagt der Anwalt, der zuvor lange als Staatsanwalt und Richter tätig war. In der Pöschwies habe sich die Behandlung der Insassen «in subtiler Weise verschlechtert». Dabei gehe es vor allem um den Umgang mit den einzelnen Häftlingen und ein «völlig abwegiges Sicherheitsdenken, das oft nur als sadistische Behandlung aufgefasst werden kann». Der Fall Brian und der für ihn errichtete «Spezial-Isolationsbunker» sei so etwas wie «das äussere Anzeichen, das Symbol eines entarteten Strafvollzugs». Die Spitze des Eisbergs, sozusagen. Der Gefangene Früh spricht von einem Klima der dauernden Bespitzelung und Überwachung in der Pöschwies. «Alles, was man sagt und tut, wird beobachtet und aufgeschrieben», sagt er. Auch würden Gefangene über Mithäftlinge ausgehorcht.
Auch Stephan Bernard kennt Fälle von Machtmissbrauch durch Vollzugsbeamte. Er glaubt zwar, dass die meisten ihre Arbeit redlich ausüben. Es fehle jedoch an Kontrollmechanismen bei willkürlichen Disziplinierungen oder Ermessensfehlern. Das sei aufgrund des hohen Machtgefälles zwischen Gefangenen und Personal stossend. Bernard verlangte deshalb verschiedentlich eine wirksame Aufsicht durch eine unabhängige, externe Ombudsstelle. Eine Forderung, die auch Früh und seine Mitgefangenen in ihrer Petition erhoben haben.
Gemäss Amt für Justizvollzug arbeiten die Zürcher Gefängnisse «hochprofessionell»: «Im Justizvollzug sind Regeln und Strukturen, insbesondere in der Pöschwies, wo teils gefährliche Straffällige untergebracht sind, unerlässlich.» Im Vordergrund stehe der Schutz aller Insassen, vor allem der vulnerablen, sowie der Mitarbeiter. In der internen Aus- und Weiterbildung würden soziale Kompetenzen im Umgang mit Inhaftierten gefördert.
Unterschiedliche Regelung je nach Herkunft
Ein grosses Problem für die Inhaftierten ist der mangelnde Zugang zu Rechtsbeiständen. Laut Bernard gibt es zu wenig Anwälte, die ihre Klienten nach abgeschlossenem Strafverfahren auch im Vollzug vertreten. Selbst «brillante Stafverteidiger» hätten Berührungsängste mit dem Strafvollzug. Für die oft rechtsunkundigen, mittellosen und der deutschen Sprache nicht mächtigen Gefangenen gibt es auch kaum niederschwelligere Beratungsangebote.
Bei der einzigen unabhängigen Rechtsberatungsstelle, betrieben vom Verein Humanrights.ch (plädoyer 1/2019), gingen vergangenes Jahr rund 200 Anfragen von Gefangenen oder Angehörigen ein. Sie betreffen insbesondere Härten im Haftalltag: Einschränkungen und Überwachungen der Kontakte zur Aussenwelt, zeitlich zu knapp und ungünstig angesetzte Hofgänge oder den Mangel an alternativen Menüs für Inhaftierte mit Lebensmittelallergien.
Das Amt für Justizvollzug gibt an, solche Anliegen würden «in jedem Fall ernst genommen und sorgfältig geprüft». Man habe etwa Forderungen nach der Bereitstellung von Outdoor-Fitnessgeräten oder einem grosszügigeren Umgang mit Telefonzeiten erfüllt. Die Einführung einer Ombudsstelle hingegen sei «nicht anzeigt».
Der Europarat und die Uno geben für den Strafvollzug Mindeststandards vor. Für die Gesetzgebung sind jedoch die Kantone zuständig, die einen Grossteil davon an die Strafvollzugskonkordate abgegeben haben. Jonas Weber, Professor für Strafrecht und Kriminologie an der Universität Bern, spricht von einem «Flickenteppich», den sowohl Gefangene als auch Angehörige in negativer Weise spüren. «Es kann zum Beispiel sein, dass für Zellennachbarn unterschiedliche Regelungen für Hafturlaub und bedingte Entlassungen gelten – weil sie aus unterschiedlichen Kantonen stammen.» Auch gebe es grosse Unterschiede zwischen den Anstalten: «In manchen dürfen die Gefangenen in ihren Zellen ganze Bibliotheken halten, in anderen nur einige wenige Bücher.» Gerade Gefangene, die in eine andere Anstalt versetzt werden, könnten solche Unterschiede nicht verstehen und würden sie als Schikanen empfinden. Weber macht allgemein einen «unreflektierten Schematismus» im Umgang mit Strafgefangenen aus. «Die Abläufe sind oft am schlimmstmöglichen Fall ausgerichtet. Man erlässt für alle restriktive Regelungen, die aber nur für einen sehr kleinen Teil der Insassen tatsächlich angemessen wären.» Der Resozialisierungsgedanke sei in den letzten Jahren «eingerostet»: «Statt sie Körbe flechten zu lassen, würde man Gefangenen besser Fertigkeiten am Computer näherbringen.»
Das postuliert auch die Petition von Tobias Früh: «Das Falten von Papier, das Kleben von Karton, das Zählen von Schrauben – all das entbehrt jeder wirtschaftlichen Realität», heisst es dort, «kein einziger Insasse wird nach seiner Entlassung für 20 Franken am Tag Schrauben zählen.»
Anliegen der Petition zum grössten Teil abgewiesen
Im Juni beantwortete die Zürcher Justizdirektion die Petition. Auf zehn Seiten behandelt sie die meisten Vorbringen abschlägig. Immerhin wird die anstaltsinterne Glocke nun nur noch am Vormittag und am Nachmittag betätigt, um das Ende der jeweiligen Pausen zu signalisieren. Früh ist ernüchtert: «Bezüglich der relevanten Forderungen wie jener nach einer Erweiterung des Hofgangs oder des Lehrstellenangebots hat sich überhaupt nichts getan», sagt er. Seine Bestürzung hält sich indes in Grenzen. In Lenzburg ertrage er den Alltag trotz Sicherheitshaft besser als in der Pöschwies: «Diese ständigen Provokationen der Aufseher, die kleinen Schikanen im Alltag – die gibt es hier nicht.»
Im Zürcher Strafvollzug unerlaubte Rechtsgeschäfte
Der Zürcher Rechtsanwalt Bruno Steiner hat im Laufe der Jahre Schilderungen von Klienten gesammelt, die von Schikanen im Strafvollzug handeln. Einige Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit:
Ein Insasse überliess einem anderen eine Zigarette, wurde dabei von einem Gefängnismitarbeiter «ertappt» und disziplinarisch sanktioniert. Denn dies stelle ein «unerlaubtes Rechtsgeschäft» dar, so Steiner. Gleiches gelte, wenn ein Gefangener einem Kollegen auf seiner Kaffeemaschine einen Kaffee braue. Zulässig sei dies, falls vorgängig eine Bewilligung eines Aufsehers eingeholt würde. «So werden die Gefangenen auf einen Kleinkindermodus zurückgeschraubt», kritisiert Steiner.
Ein anderer Klient hat laut Steiner in der Pöschwies in einem Abfalleimer ein Paar «ausgelatschte Schuhe» gefunden. Diese habe er an sich genommen und getragen. Er wurde bestraft, obwohl sich der Verdacht, er habe die Schuhe ohne Befugnis gekauft oder sich verbotenerweise schenken lassen («unerlaubtes Rechtsgeschäft»), nicht erhärten liess. Bestraft wurde er, weil er eine «delinquierte Ware» an sich genommen habe.
Ein weiterer Klient habe seit seiner frühsten Jugend einen Glücks-Fünfräppler besessen. Da der Besitz von Bargeld in der JVA Pöschwies verboten ist, wurde die Fünfrappenmünze trotz eindringlichen Erklärungsversuchen des Betroffenen eingezogen und verwertet. Mehr noch: Der Gefangene wurde mit 40 Franken Busse belegt.
Das Amt für Justizvollzug und Wiedereingliederung will Einzelfälle nicht kommentieren. Es müsse aber festgehalten werden, dass der Pöschwies keine unverhältnismässige Disziplinarpraxis unterstellt werden könne, schreibt die Medienstelle. Eine Busse werde nur in Fällen ausgesprochen, in denen Insassen gegen «grundsätzliche Vorschriften der Hausordnung» verstossen würden.