1. Entwicklung über mehrere Jahre
Der Beitrag will informieren über Entwicklungen im Sozialversicherungsrecht. Es stellt also gewissermassen eine Prämisse dar, dass sich in diesem Rechtsbereich massgebende Entwicklungen überhaupt zugetragen haben. Eigentlich ist das keineswegs eine selbstverständliche Annahme. Es könnte sich durchaus auch so verhalten, dass während einer bestimmten Zeitspanne keine nennenswerten Entwicklungen eingetreten sind. Zuweilen drängt sich – gerade dem langjährigen Beobachter – der Eindruck auf, dass es im Sozialversicherungsrecht durchaus wünschbar sein könnte, eine Phase ohne besondere Entwicklungen zu erleben – gewissermassen eine Festigungsphase.
So verhält es sich aber eben keineswegs. Der Blick auf die Rechtsetzung und auf die Rechtsanwendung zeigt, dass nach wie vor grundlegende und verästelte Entwicklungen im Gang sind.
Werden diese Entwicklungen über eine längere Phase retrospektiv gewürdigt,(1) zeigt die Entwicklung in jüngerer Zeit, dass sich offenbar im Sozialversicherungsrecht durchaus eine bestimmte Veränderung steuern lässt. In früheren Jahren mag sich zuweilen der Eindruck eingestellt haben, die Veränderungen im Sozialversicherungsrecht seien kaum beeinflussbar und insbesondere von extrogenen Faktoren gelenkt (Bevölkerungsentwicklung, Veränderungen in der Arbeitswelt, Umwelteinflüsse etc.). Nun drängt sich bei einem solchen Blick aber zunehmend der Eindruck auf, dass die Entwicklung insbesondere durch die Rechtsanwendung selber gesteuert und beeinflusst werden kann. Verschiedene der wichtigen Entwicklungen in jüngerer Zeit lassen sich auf bewusste Entscheide in der Rechtsanwendung zurückführen. Dies bezieht sich etwa darauf, dass – ohne insoweit massgebende Änderung der gesetzlichen Grundlagen – sich die Zahl der Invalidenrenten in jüngster Zeit erheblich reduziert hat. Diese (bewusste) Steuerung der Rechtsanwendung zeigt sich darin, dass die Rechtsprechung in jüngerer Zeit vermehrt Mitwirkungspflichten, Schadenminderungspflichten und Überwindungsmöglichkeiten betont. Die Wahrscheinlichkeit, eine Sozialversicherungsleistung zu erhalten, ist nicht nur bezogen auf die Ebene der Versicherungsdurchführung gesunken, sondern durchaus auch im Rahmen der Rechtsprechung. Bei alledem darf aber zugleich nicht aus den Augen gelassen werden, dass auch die Rechtsetzung «strenger» geworden ist, indem Regelungen zum Leistungsbezug strenger gefasst wurden.
Bei dieser Ausgangslage mag aus heutiger Sicht durchaus daran erinnert werden, dass im Sozialversicherungsrecht der Schutz der versicherten Person im Vordergrund stehen soll. Es soll also zentral darum gehen, dass in der Rechtsetzung und der Rechtsanwendung ein hinreichender, effektiver und effizienter Schutz der sozial geschwächten Einzelperson erreicht wird. Wer – was sowohl bei der Rechtsetzung als auch bei der Rechtsanwendung grundsätzlich der Fall ist – aus einer Position der Stärke heraus über Entwicklungen entscheidet, hat mit besonderer Sorgfalt (und Introspektionsfähigkeit) darauf zu achten, dieses grundlegende Ziel der Sozialversicherung im Auge zu behalten.
2. Internationale Normen
Die Bedeutung des internationalen Sozialversicherungsrechts ist in den letzten Jahren bewusster geworden. Dies hängt insbesondere mit den Entwicklungen im Zusammenhang mit dem Freizügigkeitsabkommen (FZA) zusammen; darauf beziehen sich denn auch die meisten Gerichtsentscheide.
Das internationale Sozialversicherungsrecht hat im Zuge der zunehmenden Migration ohnehin ein erhebliches Gewicht gewonnen. Das Erkennen der massgebenden Rechtsquelle, deren Verständnis und die Anwendung der zutreffenden Norm bereiten in der Praxis oft erhebliche Schwierigkeiten.
In grundsätzlicher Hinsicht sind drei Gruppen von Personen zu unterscheiden:
- Nichtvertragsstaatsangehörige
- Vertragsstaatsangehörige (ausserhalb der europäischen Staaten)
- europäische Staatsangehörige.
Für Nichtvertragsstaatsangehörige gelangen aus schweizerischer Sicht grundsätzlich die Bestimmungen des schweizerischen Sozialversicherungsrechts allein zur Anwendung. Hier fallen insbesondere die in verschiedenen Bereichen des Sozialversicherungsrechts bestehenden Einschränkungen des Exports von Sozialversicherungsleistungen in ausländische Staaten ins Gewicht.(2) Immerhin sind entsprechende Exportbeschränkungen ausserhalb der ersten Säule grundsätzlich nicht vorgesehen; insbesondere in der Unfallversicherung werden die gesetzlichen Leistungen grundsätzlich weltweit ausbezahlt.
Bei Vertragsstaatsangehörigen (gemeint: Angehörige von Staaten ausserhalb von Europa)(3) kommen die Bestimmungen des jeweiligen bilateralen Staatsvertrags zur Anwendung. Hier wird regelmässig der auf die beiden Staatsangehörigkeiten bezogene Gleichbehandlungsgrundsatz umgesetzt. Sodann wird in aller Regel bestimmt, dass die Leistungen in den jeweiligen anderen Staat (beziehungsweise auch in Drittstaaten) exportiert werden. Von Belang für die Massgeblichkeit von bilateralen Abkommen ist die bundesgerichtliche Entscheidung, dass das Sozialversicherungsabkommen mit Jugoslawien nicht weiter auf kosovarische Staatsangehörige anwendbar ist.(4)
Für europäische Staatsangehörige gelangen wegen des EU-Freizügigkeitsabkommens bzw. wegen des Efta-Freizügigkeitsabkommens Bestimmungen des europäischen Sozialrechts zur Anwendung. Im Vordergrund stehen im Bereich der sozialen Sicherheit die Verordnungen 883/2004 sowie 987/2009; die früheren Verordnungen 1408/71 und 574/72 sind ersetzt worden. Im heutigen Zeitpunkt gelten aber noch nicht bezogen auf alle europäischen Staaten die neuen Verordnungen. Mit Bezug auf die EU-Staaten kommen die VO 883/2004 sowie 987/2009 bereits zur Anwendung. Bezogen auf die Efta-Staaten Island, Liechtenstein sowie Norwegen gelangen aus schweizerischer Sicht demgegenüber weiterhin die Bestimmungen der älteren Verordnungen 1408/71 sowie 574/72 zur Anwendung.
Im europäischen Bereich gilt grundsätzlich ein Gleichbehandlungsprinzip, das eine direkte oder indirekte Diskriminierung ausschliesst. Ferner müssen Sozialversicherungsleistungen grundsätzlich exportiert werden.(5) Beitragszeiten sind im europäischen Kontext auch zu berücksichtigen, wenn sie in einem anderen europäischen Staat zurückgelegt wurden.
Zentral ist schliesslich – im europäischen Raum – das sogenannte Beschäftigungslandprinzip.(6) Es bedeutet, dass bei einer Tätigkeit in mehreren europäischen Staaten nur ein einziger europäischer Staat für die Belange der sozialen Sicherheit zuständig ist. Dieses Prinzip gilt aber nur für europäische Staatsangehörige. Dabei zeigt sich, dass zuweilen auch kleinere Veränderungen in den massgebenden Umständen mit sich bringen können, dass das Beschäftigungsland wechselt (etwa: Aufnahme einer unselbständigen Erwerbstätigkeit in einem bestimmten europäischen Staat). Nicht einfach umzusetzen ist das Beschäftigungslandprinzip bei Ehepaaren.(7)
3. Invalidität und Invaliditätsgrad
Das Risiko der Invalidität stellt in der Rechtsanwendung jenes soziale Risiko dar, bei dessen Erfassung und Einordnung sich die grössten Probleme stellen. Zunächst geht es regelmässig um die Frage, welche Invaliditätsbemessungsmethode massgebend ist. Nach ständiger bundesgerichtlicher Rechtsprechung ist für die Methodenwahl (erstaunlicherweise) massgebend, was die betreffende Person ohne gesundheitliche Einbusse tun würde.(8) Ist die Bemessungsmethode bestimmt worden, ist die Frage zu klären, ob überhaupt ein hinreichender Gesundheitsschaden besteht. Das Bundesgericht musste sich beispielsweise mit der posttraumatischen Belastungsstörung befassen und sie mit Blick auf eine allfällige Invalidität einordnen.(9)
Insbesondere befasste sich das Bundesgericht wiederholt mit der allfälligen Invalidität bei unklaren Beschwerden, den sogenannten «Päusbonog»-Fällen (pathogenetisch-ätiologisch unklare syndromale Beschwerdebilder ohne nachweisbare organische Grundlage). Schwierig ist das Vorgehen, wenn zu einem unklaren Beschwerdebild eine schlüssig diagnostizierte Depression hinzukommt.(10)
Ferner ging es in verschiedenen Fällen um das zutreffende Verständnis der Schlussbestimmungen der IV-Revision 6a. Das Bundesgericht musste etwa beurteilen, wann ein über 15-jähriger Rentenbezug vorliegt, der eine Rentenüberprüfung ausschliesst.(11) Die erleichterte Überprüfbarkeit von Invalidenrenten bei unklaren Beschwerden kann sich gegebenenfalls auch auf solche Renten beziehen, die nach dem 1. Januar 2008 zugesprochen wurden.(12)
Wenn ein hinreichender Gesundheitsschaden besteht, muss in der Folge der Invaliditätsgrad bestimmt werden. Wie dies erfolgt, hängt von der gewählten Bemessungsmethode ab. Beim Einkommensvergleich – der in der Praxis im Vordergrund steht – müssen gegebenenfalls die Vergleichseinkommen parallelisiert werden.(13)
Was die zeitlich an eine Invaliditätsgradfestsetzung möglicherweise eintretenden Veränderungen betrifft, ist eine Anpassung der Invalidenrente (nur, aber immerhin) vorzunehmen, wenn sich eine erhebliche Sachverhaltsänderung zugetragen hat.(14) Bei einer solchen Anpassungsprüfung ist allenfalls auf den Grundsatz der Verhältnismässigkeit abzustellen; freilich ist bei der Überprüfung der laufenden Invalidenrente im Rahmen der Schlussbestimmungen der 6. IV-Revision davon auszugehen, dass hier die Frage der Zumutbarkeit (und mithin auch die Frage der Verhältnismässigkeit) gleichsam vorweggenommen und einer gesetzlichen Regelung zugeführt wurde.(15) Wichtig bei der Rentenanpassung ist die zutreffende Bestimmung der massgebenden Vergleichszeitpunkte.(16)
Zu berücksichtigen ist bei Anpassungsprüfungen jedenfalls, ob es sich um eine allgemeine Überprüfung nach Art. 17 ATSG handelt oder um eine solche im Rahmen der Schlussbestimmungen zur 6. IV-Revision.(17) Schwierig ist es, bei Anpassungsfällen den Streitgegenstand zu bestimmen; bezogen auf den Streitgegenstand «Abänderung des Rentenanspruchs» stellen Revision, Kürzung oder Wiedererwägung nur verschiedene rechtliche Begründungen desselben Streitgegenstandes dar.(18)
4. Berufliche Vorsorge
Ausgangspunkt bei der Durchführung jedes Sozialversicherungszweiges ist die Beantwortung der Frage, welche Personen dem betreffenden Sozialversicherungszweig unterstellt sind.(19) Das Bundesgericht hat festgelegt, dass bei der Unterstellung von arbeitslosen Personen unter die (obligatorische) berufliche Vorsorge nicht der Zeitpunkt des erstmaligen faktischen Taggeldbezuges massgebend ist, sondern dass auf den Zeitpunkt abzustellen ist, ab dem das Taggeld geschuldet ist.(20)
Beim Anspruch auf eine Invalidenrente der (obligatorischen) beruflichen Vorsorge besteht eine Bindungswirkung bezogen auf den Entscheid der IV-Stelle.(21) Um die zuständige Vorsorgeeinrichtung zu bestimmen, ist von Bedeutung, ob zwischen dem Auftreten der Arbeitsunfähigkeit und dem späteren Eintritt der Invalidität ein sachlicher und zeitlicher Konnex besteht.(22)
Sind die Leistungen der beruflichen Vorsorge bestimmt, sind sie mit denjenigen anderer Sozialversicherungszweige zu koordinieren. Dabei gilt bei den Rentenansprüchen das Kumulationsprinzip; freilich ist die Kumulation durch eine Überentschädigungsabschöpfung limitiert. Bei der Überentschädigung ist – bei Invaliditäten und Leistungsansprüchen von Hinterlassenen – das zumutbarerweise erzielbare Resterwerbseinkommen mit zu berücksichtigen.(23) Das Resterwerbseinkommen richtet sich in seiner Höhe grundsätzlich nach dem von der IV-Stelle ermittelten Invalideneinkommen.(24) Schwierige Fragen können sich bezogen auf die Verjährung von Leistungsansprüchen stellen.(25)
In organisatorischer Hinsicht ist die berufliche Vorsorge so ausgestaltet, dass sich die Arbeitgebenden – soweit sie nicht über eine eigene Vorsorgeeinrichtung verfügen – mit einem Anschlussvertrag einer Vorsorgeeinrichtung anzuschliessen haben. Wird der Anschlussvertrag aber gekündigt oder ergeben sich bei den Arbeitgebenden bestimmte Entwicklungen, ist bei der Vorsorgeeinrichtung eine Teilliquidation oder Gesamtliquidation durchzuführen. Die Entwicklung zeigt, dass in diesem Bereich (zunehmend auch schwierigere) Fragen entstehen. Das Bundesgericht hatte sich zum einen mit einer Gesamtliquidation zu befassen.(26)
Heikle Fragen ergeben sich insbesondere bei Teilliquidationen; hier ging es in der Rechtsprechung um die Frage der Legitimation der Arbeitgeberin im Zusammenhang mit Teilliquidationen,(27) um die Frage des Anspruchs auf technische Rückstellungen(28) sowie um verschiedene Fragen im Zusammenhang mit den öffentlich-rechtlichen Vorsorgeeinrichtungen.(29)
5. Unfallversicherung
Das Bundesgericht fällte in jüngerer Zeit eine Reihe von wichtigen Urteilen im Bereich der Unfallversicherung. Es ging zunächst um die Frage des versicherten Risikos; hier befasste sich das Bundesgericht mit dem «accident médical»(30) und mit der Berufskrankheit.(31) Ob eine Deckung auch über die Nichtberufsunfallversicherung besteht, ist gerade bei unregelmässiger Arbeitszeit schwierig zu bestimmen.(32)
Intensiver befasst hat sich das Bundesgericht mit der Frage des versicherten Einkommens, und zwar bezogen auf Taggelder(33) sowie auf Renten.(34) In einem weiteren Punkt hatte das Bundesgericht die Frage zu klären, wie bei mehreren erlittenen Unfällen der adäquate Kausalzusammenhang zu beurteilen ist.(35)
Schliesslich musste sich das Bundesgericht auch mit Rückfällen und Spätfolgen befassen.(36) Dass auch in der Unfallversicherung der Frage von allfälligen Leistungskürzungen hohe Bedeutung zukommt, zeigt das bekannte, ja berüchtigte Urteil des Bundesgerichtes zum «Stinkefinger».(37)
Sind die Leistungen der Unfallversicherung bestimmt, ist gegebenenfalls eine Leistungskoordination vorzunehmen; hier hat das Zusammenfallen von Taggeldern der Unfallversicherung mit Renten der IV eine besondere praktische Bedeutung.(38) Leistungskoordinationsrechtliche Fragen entstehen auch bezogen auf die Berücksichtigung von Anwaltskosten sowie einer allfälligen Arbeitslosenentschädigung.(39)
Wenn eine Hilflosenentschädigung der Unfallversicherung gewährt wird, schliesst dies den Bezug eines Assistenzbeitrags der IV aus.(40)
Schliesslich hat sich das Bundesgericht in koordinationsrechtlicher Hinsicht mit der Frage befasst, wie das Zusammenfallen der Leistung der Unfallversicherung mit derjenigen einer beruflichen Eingliederung zu beurteilen ist.(41) Eine Heilbehandlung hat die Unfallversicherung nur zu übernehmen, wenn ein Rentenanspruch besteht; dass die Rente gegebenenfalls wegen Überentschädigung nicht ausbezahlt wird, ändert daran nichts.(42)
6. Resterwerb in der intersystemischen Leistungskoordination
Beim Zusammenfallen von Leistungen der AHV/IV und der Unfallversicherung mit solchen der obligatorischen beruflichen Vorsorge findet der zumutbarerweise erzielbare Resterwerb oder der tatsächlich erzielte Resterwerb als Element Berücksichtigung, das bei der Überentschädigungsberechnung einzuschliessen ist. Dies entspricht der allgemeinen Betrachtungsweise im Zusammenhang mit der Frage des Resterwerbs.(43) Es stellt sich die Frage, ob diese Betrachtungsweise zutreffend ist. Allerdings fehlt es bislang an Gerichtsentscheiden zur zutreffenden Auslegung von Art. 24 BVV 2. Es drängen sich grundlegende Überlegungen auf.
Auszugehen ist davon, dass im Rahmen der Überentschädigungsberechnung – nach Art. 69 Abs. 2 ATSG – das mutmasslich entgangene Einkommen zu berücksichtigen ist. Wenn es einer versicherten (teilinvaliden) Person möglich ist, einen Resterwerb zu erzielen, oder diese Person einen Resterwerb tatsächlich erzielt, ist insoweit gar nicht von einem mutmasslich entgangenen Einkommen auszugehen. Diese Betrachtungsweise führt zum Ergebnis, dass der Resterwerb nicht Teil der im Rahmen der Überentschädigungsberechnung zu berücksichtigenden Leistungen bildet, sondern vielmehr vorweg bei der Bestimmung des mutmasslich entgangenen Einkommens Berücksichtigung finden muss.
Das mutmasslich entgangene Einkommen ist allemal unter Berücksichtigung der konkreten objektiven und subjektiven Gesichtspunkte festzusetzen, was mit sich bringt, dass auch die Bestimmung des Resterwerbs denselben Gesichtspunkten zu folgen hat. Es stellt also eine verfehlte Ansicht dar, das Resterwerbseinkommen nach generellen Ansätzen (beispielsweise lediglich gestützt auf statistische Angaben) zu bestimmen. Vielmehr müssen die konkreten Umstände der versicherten Person mit berücksichtigt werden, wenn zu klären ist, ob ein Resterwerbseinkommen erzielt wird oder erzielt werden kann.
Die Frage hat durchaus eine praktische Bedeutung, wie das nachstehende Beispiel zeigt:
- Bisherige Betrachtungsweise: Mutmasslich entgangenes Einkommen 100 000 Franken. Invaliditätsgrad 50 Prozent. Rente der IV = 20 000 Franken; Rente der UV = 15 000 Franken; Rente der beruflichen Vorsorge = 12 000 Franken.
- Berechnung der Überentschädigung aus Sicht der beruflichen Vorsorge: Überentschädigungsgrenze 90 000 Franken; anrechenbare Sozialversicherungsleistungen (Rente IV und Rente UV) = 35 000 Franken; zuzüglich zumutbarer Resterwerb von 50 000 Franken. Insgesamt: 85 000 Franken. Daraus abgeleitet ergibt sich Folgendes: Rente der beruflichen Vorsorge 5000 Franken (das heisst ergänzend bis zur Überentschädigungsgrenze von 90 000 Franken).
- Zutreffende (neue) Betrachtungsweise: Mutmasslich entgangenes Einkommen = 50 000 Franken (abgeleitet aus Invaliditätsgrad von 50 Prozent). Überentschädigungsgrenze = 45 000 Franken; anrechenbare Sozialversicherungsleistungen (Rente IV und Rente UV) = 35 000 Franken. Daraus abgeleitet: Rente der beruflichen Vorsorge 10 000 Franken (das heisst ergänzend bis zur Überentschädigungsgrenze von 45 000 Franken).
Fragen im Zusammenhang mit dem Resterwerbseinkommen ergeben sich im Übrigen auch bei den Hinterlassenenrenten. Nach Art. 24 BVV 2 bezieht sich die Überentschädigungsregelung der beruflichen Vorsorge auch auf die Hinterlassenenrenten. Dabei legt Abs. 3 der Bestimmung Folgendes fest: Die Einkünfte der Witwe oder des Witwers oder der überlebenden eingetragenen Partnerin oder des überlebenden eingetragenen Partners und der Waisen werden zusammengerechnet. Es bleibt unklar – und ist bislang in der Rechtsprechung auch nicht geklärt worden –, wie dies zu verstehen ist. Insbesondere bleibt offen, ob ein effektives (oder zumutbarerweise erzielbares) Einkommen der Hinterlassenen bei der Überentschädigungsberechnung einbezogen wird.
7. Gutachten
Das Bundesgericht hat in jüngerer Zeit weitere Fragen zu Gutachten geklärt. Insbesondere hat es festgelegt, dass die Grundsätze gemäss BGE 137 V 210 auch auf mono- und bidisziplinäre Gutachten übertragbar sind.(44) Rekapituliert hat es ferner die Grundsätze zur Würdigung von ärztlichen Berichten.(45) Im Bereich der IV ist es Aufgabe des regionalärztlichen Dienstes (RAD), darüber zu entscheiden, welche Fachdisziplinen an einer Begutachtung zu beteiligen sind.(46) Gegebenenfalls sind auch unfallanalytische Gutachten einzuholen, wobei das Bundesgericht betont, dass sich allein gestützt darauf eine Kausalitätsbeurteilung nicht zwingend vornehmen lässt.(47) Entschieden wurde schliesslich auch die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen Begutachtungskosten im kantonalen Gerichtsverfahren der Sozialversicherung auferlegt werden können.(48)
8. Verfahren
Aus dem Verfahrensbereich sind keine grundlegend neuen Entwicklungen zu vermelden. Das Bundesgericht befasste sich mit der (eigentlich theologischen) Frage, wie lange der christliche Osterfeiertag dauert; die Frage wirkt sich auf den Fristenstillstand aus.(49) Zu klären hatte die bundesgerichtliche Rechtsprechung auch, wie der Entscheid des kantonalen Versicherungsgerichts zur Parteientschädigung zu begründen ist.(50) Ferner ging es um die Problematik, über welche Fragen im kantonalen Gerichtsverfahren ein Vergleich geschlossen werden kann.(51)
Besondere Bedeutung kommt vor Gericht der Abgrenzung des Zwischenentscheides vom Endentscheid zu, weil bezüglich der Anfechtbarkeit vor Bundesgericht unterschiedliche Voraussetzungen gelten.(52) Was die Abklärungsmassnahmen betrifft, befasste sich das Bundesgericht – erneut – mit der Frage, wie mit einer Observation umzugehen ist.(53) Schliesslich ging es um die Frage, wie es sich mit dem allfälligen Anspruch auf eine unentgeltliche Vertretung verhält, wenn ein selbst herbeigeführter Verlust des Rechtsschutzversicherungsanspruchs besteht.(54)
(1) Vgl. für eine detailliertere Würdigung der neuesten Rechtsprechung die Beiträge Ueli Kieser / Miriam Lendfers, in: Jahrbuch zum Sozialversicherungsrecht 2014, 17 ff.
(2) Vgl. Art. 9 IVG über Eingliederungsmassnahmen, Art. 29 Abs. 4 IVG über Invalidenrenten.
(3) Für eine Übersicht über die bestehenden bilateralen Abkommen zur sozialen Sicherheit vgl.
SR 0.831, 0.832, 0.836 und 0.837.
(4) Urteil 9C_53/2013 zu Doppelbürgerschaft und zeitliche Aspekte; Urteil 8C_109/2012 zu Besitzstandsgarantie bei laufenden Renten.
(5) Urteil 9C_984/2012 betreffend einen peruanischen Staatsangehörigen, der mit einer europäischen Staatsangehörigen verheiratet ist. Vgl. dazu immerhin BGE 133 V 271 betreffend Ausnahme vom Prinzip des Leistungsexportes.
(6) Art. 13 VO 1408/71 sowie Art. 13 VO 883/2004.
(7) Urteil 9C_593/2013.
(8) Bestätigung der Rechtsprechung in Urteil 9C_36/2013.
(9) Urteil 9C_228/2013.
(10) Urteil 8C_251/2013, v.a. E. 4.2.2.
(11) Urteil 8C_324/2013.
(12) Urteil 8C_33/2013.
(13) Urteile 8C_298/2013 sowie 8C_340/2013.
(14) Urteil 8C_586/2013 mit der Nennung einer Mindestveränderung von 5 Prozentpunkten.
(15) Urteil 8C_773/2013.
(16) Urteil 8C_441/2012.
(17) Urteil 9C_12572013.
(18) Vgl. Urteil 9C_460/2013.
(19) Zur Möglichkeit, bei Unterstellungsfragen im kantonalen Beschwerdeverfahren einen Vergleich abzuschliessen, vgl. das Urteil 9C_598/2013.
(20) Urteil 9C_337/2013.
(21) Vgl. Urteil 9C_125/2013, v.a. E. 4.
(22) Urteil 9C_98/2013.
(23) Art. 24 Abs. 2 BVV 2. Im Ergebnis bedeutet die bei der Überentschädigungsberechnung vorzunehmende Mitberücksichtigung des Resterwerbseinkommens, dass in manchen Fällen keine Leistung der beruflichen Vorsorge mehr geschuldet ist. Vgl. zum Resterwerbseinkommen auch Ziff. 6 des vorliegenden Beitrags.
(24) Dazu (sowie zu verfahrensrechtlichen Aspekten) Urteil 9C_1033/2012.
(25) Urteil 9C_799/2013.
(26) Zu verschiedenen damit im Zusammenhang stehenden Fragen Urteil 9C_960/2012.
(27) Urteil 9C_ 135/2013 (sowie Parallelverfahren).
(28) Urteil 9C_451/2013.
(29) Urteil 9C_10/2013 bezogen auf die Frage nach der Bilanzierung in geschlossener Kasse sowie bezogen auf die Staatsgarantie und Sanierungsmassnahmen.
(30) Urteil 8C_999/2012, insbesondere zur Frage, ob die blosse Seltenheit der Entwicklung zur Annahme eines Unfalls führen kann (verneint).
(31) Urteil 8C_121/2013 bezogen auf ein Handekzem.
(32) Urteil 8C_859/2012.
(33) Urteil 8C_703/2012; vgl. Urteil 8C_296/2013, bezogen auf Art. 23 Abs. 3 UVV.
(34) Vgl. Urteil 8C_689/2013 Hinterlassenenrenten bei Berufskrankheit; vgl. Urteil 8C_1038/2012 betreffend Art. 24 Abs. 1 UVV.
(35) Vgl. Urteil 8C_1007/2012.
(36) Urteil 8C_632/2013.
(37) Urteil 8C_263/2013.
(38) Urteil 8C_361/2013 bezogen auf die hier notwendige globale Überentschädigungsberechnung.
(39) Urteil 8C_138/2013 sowie 8C_171/2013.
(40) Urteil 9C_757/2013; der Assistenzbeitrag steht nur Bezügerinnen und Bezügern einer IV-Hilflosenentschädigung zu.
(41) Vgl. Urteil 8C_1015/2012.
(42) So Urteil 8C_ 719/2013.
(43) Vgl. Art. 24 Abs. 2 BVV 2.
(44) Vgl. Urteil 9C_207/2012.
(45) Urteil 8C_231/2013.
(46) Urteil 9C_656/2013.
(47) Urteil 8C_489/2013.
(48) Urteil 9C_801/2012.
(49) Urteil 9C_525/2013.
(50) Urteil 9C_801/2012 E. 5.1. In Urteil 8C_57/2014 legte das Bundesgericht fest, dass im Vorbescheidverfahren der IV keine Parteientschädigung geschuldet ist.
(51) Nach Urteil 9C_ 598/2013 können über Unterstellungsfragen Vergleiche abgeschlossen werden.
(52) Dazu Urteil 9C_486/2013 betreffend Entscheid über die unentgeltliche Vertretung; vgl. auch Urteil 8C_663/2013.
(53) Dazu Urteil 8C_192/2013.
(54) Dazu Urteil 8C_607/2013.