Es war im Mai 2014, als der heutige türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan dem TV-Publikum zeigte, was er von unabhängigen Juristen hält. Metin Feyzioglu, Präsident der türkischen Anwaltskammer, wagte es, den damals noch als Ministerpräsident im Publikum sitzenden Erdogan zu kritisieren. Der Jurist nutzte die Feierlichkeiten in Ankara zum 146. Gründungstag des Staatsrates – einem der höchsten Verwaltungsgerichte der Republik – dazu, einen regierungskritischen Vortrag zu halten. Feyzioglu warf der islamisch-konservativen AKP-Regierung vor, Angriffe auf die Meinungsfreiheit auszuüben, Proteste niederzuschlagen und die 2011 in der Provinz Van von einem Erdbeben betroffenen Opfer unzureichend versorgt zu haben.
Worte, die Erdogan so nicht hinnehmen wollte. Bei der live im Fernsehen übertragenen Rede platzte ihm schliesslich der Kragen. «Du sprichst jetzt seit einer Stunde», rief er aus der ersten Reihe der Ehrengäste. «Von Anfang an sagst du die Unwahrheit», herrschte er den Sprecher an. «So eine Unverschämtheit ist unmöglich», brüllte Erdogan. Dann stürmte er aus dem Saal.
Feyzioglu lässt sich davon nicht einschüchtern. Erst Ende Februar mahnte er, Erdogan solle endlich die Unabhängigkeit der Justiz respektieren. Wenige Tage zuvor hatte der Staatspräsident ein Urteil des höchsten Gerichts kritisiert, das die Freilassung zweier Journalisten angeordnet hatte. Er habe weder Respekt vor der Entscheidung, noch akzeptiere er sie. Der Vorsitzende des Gerichts, Zühtü Arslan, erwiderte daraufhin: «Die Entscheidungen des Verfassungsgerichts sind für jede Institution und jede Person bindend.»
Politisch war die türkische Justiz schon immer – nämlich erzkemalistisch. Das war Erdogan schon lange ein Dorn im Auge. Als Ministerpräsident sagte er 2013 den Satz: «Die Sprache des Gesetzes bin ich.» Er hat seither den Kampf um das Justizsystem mehrheitlich für sich entscheiden können und die Justiz zum Handlanger der Exekutive gemacht.
Keine Regierungspartei zuvor hat so massiv das Justizsystem der Republik umgekrempelt wie die von Erdogan mitgegründete AKP. Allein in den ersten zehn Jahren der AKP-Regierung zwischen 2002 und 2013 wurde das Strafgesetzbuch rund zweihundertmal geändert. Es wurden rund 1680 neue Gesetze verabschiedet.
Direkte Einflussnahme auf die Judikative
Entwickelte sich dadurch ein demokratischeres Rechtssystem? «Im Gegenteil», sagt Emin Capraz. Der Jurist aus London mit Schwerpunkt türkisches Recht, der auch in Istanbul juristisch tätig war, beobachtete in den vergangenen Jahren «starke Verwässerungen des Prinzips der Gewaltenteilung». Capraz: «Diese ist insbesondere in der direkten Einflussnahme der Regierung und des Staatspräsidenten zu erkennen, der sich weit ausserhalb seiner Zuständigkeiten bewegt und direkt Einfluss auf Judikative, Exekutive und Legislative nimmt.» Etwa durch die Versetzung von Staatsanwälten, Verhinderung von Ermittlungsverfahren oder durch Einflussnahme auf die Besetzung von Richterposten und Änderungen von Gesetzen.
Hatten die EU-Beitrittsverhandlungen, die 2005 unter Erdogan begannen, einen positiven Effekt auf die Justiz? Laut Capraz hätten diese zuerst dazu beigetragen, dass der Demokratisierungsprozess vorwärtsgekommen sei. So habe Erdogan anfänglich die Freiheitsrechte des Einzelnen gestärkt und das Rechtstaatssprinzip weiterentwickelt. Caprez: «In der Zwischenzeit ist dies ins Umgekehrte umgeschlagen. Die Beitrittsverhandlungen haben keine wesentliche Bedeutung für Erdogan.» Mittlerweile seien die Freiheitsrechte ausgehöhlt – insbesondere die Pressefreiheit und das Versammlungsrecht. Die Türkei gehört neben der Ukraine und Russland zu den Spitzenreitern der vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gerügten Länder. Letztes Jahr waren 8850 Verfahren gegen die Türkei in Strassburg hängig.
Seit Gründung der Türkischen Republik 1923 war das Justizsystem eine Festung der Kemalisten. Vor allem das Verfassungsgericht und der Hohe Rat der Richter und Staatsanwälte waren nach den Militärs die stärksten Verfechter des in der Verfassung festgeschriebenen Laizismus. Diese Institutionen waren denn auch von Anbeginn äusserst kritisch gegenüber der 2001 gegründeten islamisch-konservativen AKP.
Der offene Machtkampf begann am 1. Mai 2007, als das Verfassungsgericht auf Antrag der Opposition die Wahl des damaligen Aussenministers Abdullah Gül zum Staatspräsidenten durch das Parlament annullierte. Gül wurde deswegen erst nach vorgezogenen Neuwahlen im August 2007 zum Regierungschef gewählt.
2008 kassierte das Verfassungsgericht dann ein neues Kopftuchgesetz, das verhüllten Studentinnen den Zugang auf den Campus mit einem Kopftuch ermöglichte. Kurze Zeit später entschied dasselbe Gericht über einen Verbotsantrag gegen die AKP. Generalstaatsanwalt Abdurrahman Yalcinkaya hatte beim Verfassungsgericht den Verbotsantrag gegen die Regierungspartei eingereicht, hinzu kam der Antrag auf ein fünfjähriges Politikverbot gegen 71 AKP-Politiker, darunter auch Ministerpräsident Erdogan und Staatspräsident Gül. Yalcinkaya warf der AKP vor, mit der Aufhebung des Kopftuchverbots auf dem Campus gegen den in der Verfassung verankerten Laizismus zu verstossen. Er argumentiert, die AKP sei ein «Kristallisationspunkt antisäkularer Aktivitäten». Das Verfassungsgericht gab dem 161 Seiten umfassenden Antrag statt, was wenig erstaunte – neun der elf Richter galten als eingefleischte Kemalisten.
Verfassungsgericht bindet Regierungspartei zurück
Am 31. Juli 2008 verlas der oberste Richter Hasim Kiliç das mit Spannung erwartete Urteil: «Die Partei wird nicht verboten», sagte er mit sichtlicher Anspannung im Gesicht. Doch die Partei Erdogans entging nur knapp einem Verbot: 6 der 11 Richter stimmten für ihre Auflösung, 7 Stimmen wären aber nötig gewesen. Ganz ohne Konsequenzen war das Verfahren nicht. Weil die höchsten Richter des Landes die AKP als «Zentrum antilaizistischer Bestrebungen» ansahen, wurde ihr die Hälfte der Gelder der staatlichen Parteifinanzierung gestrichen. Deshalb ist es nicht erstaunlich, dass Erdogan gegen die dritte Gewalt vorging und die Schaltstellen schrittweise mit ihm genehmen Leuten besetzte.
Bis zum Jahr 2010 war die Justiz unabhängig, meist mit einer kemalistisch-politischen Agenda und von einer ideologisierten Richterschaft geprägt. Neutralität im westeuropäischen Sinn war in dieser kemalistisch-säkularen Oberklasse nicht gegeben, politisch gefällte Urteile waren üblich.
Ein wichtiger Etappensieg bei der Einflussnahme auf die Justiz gelang Erdogan am 12. September 2010 mit einem Verfassungsreferendum. Der Hohe Rat der Richter und Staatsanwälte (HSYK) war eine bis dahin vor politischen Übergriffen geschützte Bastion. Diese ist neben dem Verfassungsgericht das wichtigste Gremium der türkischen Justiz und galt lange Zeit als ein Hort der Erdogan-Gegner. Der Rat ist unter anderem zuständig für die Beförderung von Richtern und Staatsanwälten, kann diesen Fälle zuteilen und entziehen. Durch das Referendum wurde die Zahl der Mitglieder von 7 auf 22 Personen erhöht, seitdem werden vier Mitglieder vom Staatspräsidenten direkt ernannt – also von Erdogan selbst.
Die AKP übernahm mittlerweile weitreichend die Kontrolle über das Justizsystem. Bei der Wahl der neuen Mitglieder des HSYK konnte die AKP im Oktober 2014 weitgehend ihre Wunschkandidaten stellen. So wurden 8 der 10 neu zu besetzenden Stellen an Juristen vergeben, die von der islamisch-konservativen Regierung unterstützt wurden. Im Februar letzten Jahres legte Kiliç turnusgemäss sein Amt nieder, was für Erdogan eine Erleichterung war – denn der Verfassungsrichter galt als entschiedener Kritiker des Staatspräsidenten. Als Nachfolger wurde Zühtü Arslan gewählt, dessen Kandidatur von Erdogan unterstützt wurde.
Eine weitere juristische Intervention folgte nach dem Korruptionsskandal, der die Türkei im Dezember 2013 erschütterte. Dabei wurden auch Söhne mehrerer Minister festgenommen. Unter anderem wurde ihnen Geldwäsche vorgeworfen. Gefolgsleute Erdogans machten die Bewegung des im US-Exil lebenden türkischen Predigers Fethullah Gülen für die Ermittlungen verantwortlich. Diese soll in der Polizei und der Justiz zahlreiche Anhänger haben, Gülen gilt als mächtigster Gegner Erdogans im sunnitisch-islamischen Lager.
An den Vorwürfen sei nichts dran, hiess es aus Ankara. Doch Erdogan liess nach Bekanntwerden der Bestechungsvorwürfe Tausende Polizisten, Richter und Staatsanwälte in die Provinzen versetzen oder gleich kündigen. Die Ermittlungen seien ein «Putsch der Justiz». Er liess die Regierung eine umstrittene Justizreform verabschieden, die den Einfluss der Regierung stärkt. So wird der HSYK, bis dahin immer noch ein unabhängiges Justizkontrollgremium, seit Februar 2014 mit verstärkten Befugnissen vom Justizminister als Vorsitzender des Gremiums geleitet. Die Ermittlungsfreiheit der Staatsanwaltschaften wurde eingeschränkt.
Die Opposition sprach von einem Eingriff in das Prinzip der Gewaltenteilung. Auch die EU äusserte Bedenken. Die Ermittlungen in der Korruptionsaffäre wurden im Januar 2015 eingestellt, Mitglieder der sozialdemokratisch-kemalistischen Oppositionspartei CHP legten vor Gerichtsgebäuden in den 81 Provinzen des Landes schwarze Kränze nieder – als Zeichen für eine ausgehebelte Gerechtigkeit.
Zwei Richter hinter Gittern
Doch die unliebsamen Juristen bleiben weiterhin im Visier. So wurden die Richter Metin Özcelik und Mustafa Baser am 30. April 2015 in Istanbul festgenommen und sind seither in Haft. Am 21. Januar begann der Prozess gegen sie. «Grund für die Festnahme und Inhaftierung war vermutlich, dass die Richter die Freilassung von Verdächtigten angeordnet hatten», kritisierte daraufhin die Europäische Richterkammer und forderte die sofortige Freilassung der beiden Richter.
Gerhard Reissner, Ehrenpräsident der Internationalen Richtervereinigung, war bei den ersten zwei Verhandlungstagen in Ankara im Gerichtssaal. Die beiden Angeklagten seien in einem guten Zustand, hätten sich aber beklagt, im Gefängnis unter widrigsten Umständen untergebracht zu sein. Reissner: «Es besteht der dringende Verdacht, dass es sich um einen politischen Prozess handelt.» Er versteht nicht, warum Özcelik und Baser überhaupt festgehalten werden. Denn es bestehe weder Verdunkelungs- noch Fluchtgefahr.
Auch der Jurist Mehmet Tank weiss, wie es sich anfühlt, wenn die Regierung der Gegner ist. Der Vizepräsident der 1. Studienkommission der Internationalen Richtervereinigung wurde innerhalb eines Jahres dreimal strafversetzt. Seit 2014 arbeitet er in Sanliurfa nahe der syrisch-türkischen Grenze. Seine Frau und seine Tochter seien immer mitgezogen, sagt er, was für die Familie sehr belastend gewesen sei. Zudem seien auf der Titelseite einer AKP-hörigen Zeitung sein Foto samt Namen veröffentlicht worden. «Ich bin nochmals regelrecht öffentlich gejagt worden.»
Der HSYK habe seine Arbeit als sehr gut bewertet, sagt Tank. Die Strafversetzung wertet er als politisches Vorgehen, weil er als Richter kritische Fragen gestellt habe. Die Justiz sei unter dem Staatspräsidenten zu einem «Werkzeug» geworden, «um Dissidenten zum Schweigen zu bringen». Tank vermutet, dass durch die ständigen Versetzungen seine Ausreise samt Familie erzwungen werden soll.
Wegen solcher Repressalien und einer drohenden Festnahme flohen im August letzten Jahres die drei Staatsanwälte Zekeriya Öz, Celal Kara und Mehmet Yuzgec ausser Landes. Die Staatsanwaltschaft in Istanbul warf ihnen die «Bildung einer kriminellen Vereinigung» und «Versuch zum gewaltsamen Sturz der Regierung» vor, berichtete die türkische staatliche Nachrichtenagentur Anadolu. Alle drei Juristen hatten im Dezember 2013 Korruptionsermittlungen gegen das Umfeld Erdogans eingeleitet – jetzt müssen sie sich verstecken.
Cigdem Akyol, Osteuropahistorikerin und Völkerrechtlerin, arbeitet als Korrespondentin für die österreichische Nachrichtenagentur APA mit Sitz in Istanbul. Im April erscheint im Herder-Verlag ihr zweites Sachbuch mit dem Titel: «Erdogan: Die Biografie».