Gabriela Spielmann ist Fürsprecherin und Gerichtsschreiberin beim Obergericht des Kantons Bern. Sie spricht Klartext: «Wir stellten in den letzten Jahren immer deutlicher fest, dass den Kandidaten in den grundlegenden Fächern zunehmend das Basiswissen fehlt.» Und Brigitte Bitterli, Präsidentin des Aargauer Anwaltsverbandes, macht die Erfahrung, dass junge Anwälte «nicht mehr in der Lage sind, einfache Fälle selbständig zu bearbeiten.»
Andreas Hefti, Präsident des Kantonsgerichts Glarus, ortet Lücken im Prozessrecht, namentlich im Zivilprozess- sowie im Schuldbetreibungs- und Konkursrecht. Und: «Oft fehlt auch die Sicht für die Zusammenhänge zwischen dem materiellen Recht und dem Prozessrecht.»
Johann Zürcher, Oberrichter und Präsident der Anwaltsprüfungskommission des Kantons Zürich, kommt zum gleichen Schluss. Er empfiehlt Jus-Studenten, welche die Anwaltsprüfung machen wollen, «sich schon während des Studiums fortlaufend um die Monopolfächer Zivilprozessrecht, Strafprozessrecht und Schuldbetreibungs- und Konkursrecht zu kümmern».
Was entgegnet Brigitte Tag, Prodekanin der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Uni Zürich, auf die Kritik aus der Berufswelt? «Eine verstärkte Verzahnung mit der Praxis» sei ein stetes Anliegen, betont sie und nennt als Beispiele das Volontariat bei den Justizbehörden, die Möglichkeit, rechtsmedizinische Module zu belegen oder die Moot-Courts. Zudem würden mehrere Lehrstühle regelmässig Seminare mit Praktikern anbieten.
Diese universitären Bemühungen genügen laut Marianne Heer, Kantonsrichterin und Präsidentin der Luzerner Anwaltsprüfungskommission, nicht: «Den Studierenden wird an der Uni ein grosses Fachwissen vermittelt. Ungenügend ist aber die konkrete Anwendung auf den Einzelfall.» Die Studenten seien heute viel weniger in der Lage, ihr Wissen abzurufen, als früher. Heer glaubt, dass dies «insbesondere mit den neuen Technologien» zusammenhänge. Man könne heute «schnell und sehr punktuell» etwas aus dem Internet erfahren, «ohne dies in einen Gesamtzusammenhang zu stellen». Heer: «Wenn sich meine Fragen an der Prüfung auf mehrere Fächer beziehen, ist dies für viele Leute eine Katastrophe.»
Bologna-System verhindert Vertiefung des Wissens
Alain Griffel, Rechtsprofessor an der Uni Zürich, ist von der Kritik aus der Berufswelt nicht überrascht: «Bologna-Studenten haben keine Zeit mehr für die Vertiefung in den zentralen Fächern.» Sie müssten einen «immensen Stoffumfang» bewältigen und nach einem Jahr wüssten sie das meiste nicht mehr und könnten so auf nichts aufbauen. Auch die Lehrstühle seien gewaltig überlastet. Die Verwaltung der «sinnlosen» ECTS-Punkte und die Administration von fast 15 000 schriftlichen Prüfungen jährlich hätten das Institut zu einem riesigen bürokratischen Apparat aufgeblasen.
Zürich unternimmt nichts, Bern handelt
Die Universität Zürich sieht beim Jus-Studiengang trotzdem keinen konkreten Handlungsbedarf: «Die Studienprogramme der Fakultät wurden 2013 einer grundlegenden Revision unterzogen», sagt Alain Jordan, Leiter Studium bei der rechtswissenschaftlichen Fakultät.
Anders im Kanton Bern. Laut Fritz Rothenbühler, Präsident des bernischen Anwaltsverbandes, ist man mit der Universität Bern im Gespräch: « Wir schauen gemeinsam, welche Fächer praxisrelevant sind und was spezifisch für Studenten interessant wäre, die Anwalt werden wollen.»
Rothenbühler verlangt von den Kantonen, dass sie die Praktikumsanforderungen erhöhen: «Ein richtiges Anwaltspraktikum muss in einer Kanzlei absolviert werden, wo erfahrene Rechtsanwälte arbeiten.» Er kritisiert, dass man in Zürich «keine Stunde des Anwaltspraktikums» in einer Kanzlei verbringen müsse. «Das ist absurd.»
Hans-Ruedi Grob, Präsident des Zürcher Anwaltsverbandes, widerspricht: «Die jungen Kollegen sind sehr gut qualifiziert und auf die Praxis vorbereitet.» Das heisse jedoch nicht, dass sie jedem komplexen Fall gewachsen seien. «Das gilt aber auch für junge Medizinern.» Christoph Leuenberger, Präsident der Prüfungskommission in St. Gallen, ist ähnlicher Meinung: «Die Praxis lernt man nur in der Praxis.» Auch nach Erteilung des Patents sei es sinnvoll, zuerst unter der Verantwortung von erfahrenen Anwälten zu arbeiten, «um dann immer mehr Fälle selbständig zu führen».