In der Tagespresse und in Talkshows war stets nur eine Frage relevant: Wie schafft sie das alles? Sie ist Mutter von fünf Söhnen im Alter von 5, 8, 14, 16 und 26 Jahren, wohnt in Olten und arbeitet in Basel als Rechtsprofessorin. Sie ist Forscherin in der Kriminologie und auch noch Lehrbeauftragte an der Universität Luzern. Die NZZ weiss dazu eine Antwort: Nadja Maria Giuliana Capus sei ein «Energiebündel». Und der TV-Moderator Kurt Aeschbacher attestiert ihr ein «unglaubliches Organisationstalent».
Die heute 45-jährige Professorin ist in Möhlin im aargauischen Fricktal aufgewachsen. Von 1993 bis 1997 studierte Nadja Capus dann an den Universitäten Bern, Sheffield (GB) und Vancouver (CA) Rechtswissenschaften und Kriminologie. Danach arbeitete sie an den Universitäten Bern und Basel sowie am Max-Planck-Institut für internationales Strafrecht und Kriminologie in Freiburg im Breisgau und am Collège de France in Paris.
Das Thema ihrer Habilitation: «Strafrecht und Souveränität: das Erfordernis der beidseitigen Strafbarkeit in der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen.» Dissertiert hat Capus zum Thema «Fragmentierung der Kriminalitätskontrolle: ihre Ursachen und Bedingungen im Rahmen des Versicherungsdenkens.» Es fällt auf, dass es die Rechtswirklichkeit ist, welche die schweizerisch-italienische Doppelbürgerin fasziniert und interessiert.
Mehr als tausend Protokolle analysiert
Seit 2011 ist Capus an der Universität Basel tätig und betreibt mit einem interdisziplinär zusammengesetzten Team empirische Forschung zu Strafverfahren, insbesondere zu Einvernahmeprotokollen. Eine Förderungsprofessur des Nationalfonds macht dies möglich. Capus erhielt 1,7 Millionen Franken für ihr Projekt. Es diene dazu, die Fakultäten davon zu überzeugen, dass es Zeit für die Verwissenschaftlichung des Strafprozessrechts sei, in dem die Rechtswirklichkeit mittels empirischer Untersuchungen erforscht werde.
Capus sagt dazu: «Bis 2011 war die Erstellung von Einvernahmeprotokollen in den kantonalen Strafprozessordnungen unterschiedlich geregelt. Aber das allein erklärt die Unterschiede nicht.» Ihre Untersuchungen zeigen, dass die Kantone eigene Traditionen bei der Protokollierung entwickelten.
Die Kriminologin analysierte mit ihrem Team in den Archiven der Gerichte und Staatsanwaltschaften mehr als tausend Protokolle. Das Resultat: «Die Akten haben eine enorme Gestaltungskraft. Das gilt erst recht für die Einvernahmeprotokolle. Überspitzt ausgedrückt: Man macht mit ihnen den Fall», sagt Capus.
Im schweizerischen Strafverfahren macht sich ein Richter oder eine Staatsanwältin ein Bild des Geschehens anhand der Akten. Deshalb sei es enorm wichtig, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, «dass es eine Aktenwirklichkeit gibt – eine Wirklichkeit sui generis». Daher müsse der Umgang der urteilenden Instanz mit dieser Aktenwirklichkeit professionalisiert werden, fordert Capus.
Aussageverweigerung kommt kaum vor
Aus den Einvernahmeprotokollen ergab sich auch, dass die Beschuldigten sehr selten schwiegen. Für das Erhebungsjahr 2007 stellte Nadja Capus in den Kantonen Zürich und Genf fest, dass deutlich über 90 Prozent der Beschuldigten Aussagen machten. «Auch nach Inkrafttreten der Strafprozessordnung bleibt die vollständige Aussageverweigerung eine seltene Erscheinung.»
Ähnliche Befunde geringer Inanspruchnahme des Schweigerechts würden auch für England (10 Prozent), Wales (13 Prozent), die Niederlande (16 Prozent) und Schottland (16 Prozent) vorliegen.
“Rechtsbelehrung muss verständlich sein”
Laut Capus wäre die hohe Zahl der Aussagen unproblematisch, wenn sich die Beschuldigten gut informiert und aus freien Stücken zum Reden entschlossen hätten. «Doch die auffallend tiefe Zahl der Beschuldigten, die eine Aussage verweigern, und die Art der Belehrung lassen stark daran zweifeln.» Capus vermutet, dass die Behörden mangelhaft über das Schweigerecht informieren. «Das Schweigerecht darf nicht zum blossen Scheinrecht verkümmern», sagt sie energisch. Die Rechtsbelehrung müsse ernsthaft, konkret und verständlich erfolgen. «Unsere Daten zeigen, dass zumindest die Protokollierung der Belehrungen über das Aussageverweigerungsrecht häufig und in hohem Mass standardisiert ist.» Eine richterliche Kontrolle der Belehrungstätigkeit sei auf dieser Grundlage eigentlich nicht möglich. Zahlreiche Studien zeigten auch, dass die von den Strafverfolgungsbehörden verwendeten Belehrungsformeln in einer zu komplexen Sprache verfasst seien. «Zu überprüfen wäre, ob und wie gut die vernehmenden Personen die Belehrung verstehen.»
Beim Wechsel des Themas vom Fachlichen zu Familie und Kindern wird die Professorin plötzlich zurückhaltend. Im Gespräch wirkt sie sonst sehr gelassen und charmant. Sie hat die Gabe, Menschen schnell für sich zu gewinnen. Warum plötzlich diese ablehnende Haltung? «Eigentlich nervt es mich, wenn ich ständig auf meine fünf Kinder angesprochen werde anstatt auf meine Arbeit», sagt sie.
Warum sollte es sie nerven, wenn die Medien Fragen über die Familie stellen? In einer Talkshow wie jener von Aeschbacher ist nicht zu erwarten, dass über Protokollforschung debattiert wird. Das kritisiert sie nicht. Hingegen erzählt Capus von Erlebnissen aus Bewerbungsverfahren an Universitäten, in denen sie auf ihre Kinder oder ihre Schwangerschaft angesprochen wurde. «Ich musste mir bei der Begründung der Ablehnung schon anhören, ich hätte Pech gehabt, weil ich schwanger war.»
Die befristete Förderungsprofessur von Capus an der Universität Basel endet dieses Jahr: Auf die Frage, was danach kommt, zuckt Capus mit den Schultern. Bei der Frage, ob sie sich vorstellen könne, in die Politik einzusteigen, winkt sie ab: «Dafür fehlt mir die Geduld.»