Die Plessur entspringt in der Bündner Gemeinde Arosa, fliesst durch das Schanfigg und mündet in Chur in den Rhein. Dort in der Altstadt hat auch das Regionalgericht Plessur seinen Sitz. Es befindet sich in einem modernen Betonblock, den es sich mit einem Ingenieurbüro teilt. Es ist das grösste erstinstanzliche Gericht im Kanton Graubünden und Philipp Annen seit Ende 2022 sein Präsident.
Der heute 51-jährige Jurist ist in Zürich Höngg aufgewachsen. Nach Chur kam er vor 20 Jahren. Er fand beim damaligen Kreispräsidenten eine Stelle als Aktuar. So konnte er seine Anwaltsprüfung finanzieren.
Vier Jahre später wurde er Leiter des Betreibungs- und Konkursamts Plessur, eines von elf Ämtern im Kanton. Annen war der einzige Jurist. Der damals 34-Jährige führte 10 bis 15 Angestellte. Er sei mit allerlei Leuten in Kontakt gekommen, sagt er: mit Armen, Reichen, Randständigen, Betrügern und Milieufiguren. «Als Betreibungs- und Konkursbeamter muss man eine dicke Haut haben und sich, wenn es hart auf hart kommt, Beleidigungen wie Arschloch oder sogar eine Ohrfeige gefallen lassen.» Zu Letzterem sei es nie gekommen: «Ich habe immer versucht, den Leuten anständig, zurückhaltend und respektvoll zu begegnen.»
Im Juni 2014 ging das Davoser Luxushotel Intercontinental in Konkurs, in der Gegend besser bekannt als «Golden Eye». «Es handelte sich um einen Betrieb mit 130 Angestellten. Die Medien waren vor Ort. Da haben ich und meine Leute eine Zeit lang nicht mehr ruhig geschlafen», erinnert er sich – auch weil der Immobilienfonds der Credit Suisse, der damaligen Eigentümerin des Hotels, nach Konkurseröffnung unrechtmässig Geld aus der Kasse nahm.
Annen drohte in einem Interview mit der «Sonntags-Zeitung» mit einer Klage, worauf der CS-Fonds 1,4 Millionen Franken in die Konkursmasse zurückzahlte. So konnte das Konkursverfahren innert nur einem Jahr mit einer Dividende von 50 Prozent für die Drittklassgläubiger abgewickelt werden.
Noch erfolgreicher war Annen ein Jahr darauf beim Konkurs des Hotels Waldhaus in Flims. Hier half er als juristischer Berater mit, eine 80-Prozent-Dividende für die Gläubiger herauszuholen.
“Aus opportunistischen Gründen” der SP beigetreten
Vier Jahre später war Annen reif für einen beruflichen Wechsel. Am Regionalgericht Plessur in Chur wurde eine Richterstelle frei. Die SP hatte Anspruch darauf, aber keinen Kandidaten. Annen trat der Partei bei – «aus rein opportunistischen Gründen», wie er zugibt – und wurde 2019 gewählt.
Die Arbeitslast am Gericht hatte er massiv unterschätzt. «Sie war unappetitlich hoch.» Er musste sich vor allem ins Scheidungsrecht einarbeiten. «Sehr belastend war es, wenn ein Kind gegen den Willen der Eltern fremdplatziert werden musste», sagt der Vater von drei Kindern. Doch Annen nahm es genau und schaute sich die Kinderheime vor einer Platzierung selbst an. «Ich war der erste Richter, der dies tat, was mich erstaunte.»
Ende 2022 übernahm Philipp Annen das Präsidium des Regionalgerichts. Sein Vorgänger trat zurück und wechselte ins Engadin an das Regionalgericht Maloja. Zu den Gründen möchte sich Annen nicht äussern.
Am Regionalgericht Plessur sind insgesamt 24 Leute tätig. Dazu kommen acht nebenamtliche Richterinnen und Richter, die fallweise beigezogen werden. «Zwischen 30 und 50 Prozent meiner Arbeitszeit benötige ich für Führungsaufgaben.» Daher widme er sich gern über Mittag und nach Büroschluss seinen Dossiers. «So kann ich wenigstens dann ungestört an meinen Fällen arbeiten.»
Die Pendenzen des Gerichts verdoppelten sich in den letzten zehn Jahren bei einer durchschnittlich gleichbleibenden Anzahl neuer Fälle im Jahr. Darauf angesprochen, meint Annen: «Scheidungs- und Unterhaltsverfahren sind wegen der Untersuchungsmaxime sehr aufwendig.»
Zudem amte das Gericht als Zwangsmassnahmengericht für den ganzen Kanton. Pro Jahr seien das allein über 100 Fälle. «Kompliziert sind die Entsiegelungsverfahren. Eines mit zwölf Millionen Daten dauerte fast ein Jahr bis zum Entscheid.» Doch Philipp Annen ist auch selbstkritisch: «Wir sind ein junges Richterteam, uns fehlt noch die Erfahrung, die es für eine effizientere Fallbearbeitung braucht.»
Ein langjähriger Churer Prozessanwalt hingegen lobt Annen. Er sei ein «pragmatischer Richter mit fundiertem Wissen». Und an Verhandlungen gehe er ernsthaft auf die Parteien ein.
Aktuell werden die drei vollamtlichen Richter von drei ausserordentlichen Richtern mit insgesamt 150 Stellenprozenten unterstützt. Unter ihnen befindet sich Urs Raschein, ein ehemaliger Gerichtspräsident, der als Pensionär bis Ende April aushilft.
Langfristig wird eine Aufstockung um zwei Personen auf total fünf vollamtliche Richterstellen angestrebt. «Dann sollte auch Zeit für einen offenen Erfahrungsaustausch unter den Richtern aller Bündner Regionalgerichte möglich sein», sagt Annen. «Es ist wichtig, dass wir als Richter über Fehler sprechen können.»
Hauseigentümerverband war «viel zu politisch»
Nach dem Wirtschaftsgymnasium wäre es Philipp Annen noch nicht in den Sinn gekommen, Jus zu studieren. Bei einem Aufenthalt in England machte er aber eine lebensprägende Bekanntschaft. «Meine damalige kolumbianische Freundin war Juristin. Sie stand jeden Morgen früh auf und studierte juristische Texte. Das beeindruckte mich», erzählt Annen. Nach seiner Rückkehr in die Schweiz begann er sein Studium an der Universität Zürich.
Annen machte einen kurzen Abstecher beim Zürcher Hauseigentümerverband, der ihm jedoch «viel zu politisch» war. Anschliessend arbeitete er zuerst als Praktikant und dann Gerichtsschreiber am Bezirksgericht Zürich. Es war die Zeit des Swissair-Groundings. Das Nachlassverfahren des SAir-Konzerns beschäftigte auch seinen damaligen Vorgesetzten, Richter Felix Ziltener, der in der hektischen Anfangsphase viele Verkäufe prüfen und bewilligen musste.
Annen war selber nicht in das Verfahren involviert, aber er bekam am Rande vieles davon mit: «Da wusste ich, dass ich einmal etwas mit Betreibung und Konkurs machen möchte.»