Gilbert Kolly sei ein echter Freiburger, so Pascal Pichonnaz: «perfekt zweisprachig». Pichonnaz ist Vize-Rektor der Universität Freiburg, jener Universität, an der Kolly studierte, bei Professor Peter Gauch eine Doktorarbeit zum Grundlagenirrtum verfasste und als Professor Obligationen- und Strafrecht lehrte. Kolly stammt aus einer einfachen Familie: Der deutschsprachige Vater war Angestellter in einem Labor, die französischsprachige Mutter Hausfrau. «Ein wenig zufälligerweise» wird er Richter am Bezirksgericht Tafers, so Kolly. «Es war gerade ein Posten frei.»
Eigentlich hatte der junge Jurist andere Pläne: «Ich dachte, ich würde im Rechtsdienst einer Bank oder einer Versicherung arbeiten – oder allenfalls als Anwalt. Aber ich bereue nicht, dass ich damals ins Gerichtswesen eintrat. Es ist eine schöne Sache, etwas Nützliches für die Gesellschaft zu tun, indem man gewisse Prinzipien festlegt», sagt der Bundesgerichtspräsident in seinem Büro in Lausanne. Pichonnaz attestiert ihm, er habe einen wachen Geist und könne Probleme schnell erkennen. Und seine Karriere sei ziemlich gradlinig, beruhe allerdings auch zu einem Teil auf Glück.
Kolly war deutschsprachiger Präsident am Gericht des Sensebezirks, danach deutschsprachiger Richter am Freiburger Kantonsgericht, das er von 1987 bis 1995 präsidierte. Im Jahr 1998 wurde er als französischsprachiger Richter ans Bundesgericht gewählt, das er seit einem Jahr präsidiert. Seine Zweisprachigkeit sei «bestimmt ein Vorteil, um vor dem Parlament Budget oder Berichte zu präsentieren», sagt Kolly. Er tut das auf Französisch, antwortet den Parlamentariern aber wenn nötig auf Deutsch.
Als Katholik trat er in die CVP ein, als sie in Freiburg noch die «grosse alte Partei» war. Er bezahlt heute noch einen Teil seines Lohnes an die CVP, «ohne rechtliche Verpflichtung». Weil es überall in der Schweiz zu den Spielregeln gehöre, wenn man von einer Partei als Richter aufgestellt werde. «Ich wurde im Wissen darum gewählt und halte mich deshalb daran.» Wie hoch ist die Parteisteuer an die CVP? Kolly: «Die Tarife sind in jeder Partei anders, vor allem links ist es teuer», lächelt er. Und bei der CVP, der er beitrat, weil sie eine «Mittepartei» ist? «Mittel viel. Es ist nicht unbedeutend.» Mehr will er partout nicht verraten.
Im Unterschied zu andern Bundesrichtern spricht Gilbert Kolly von einer Überbelastung des Gerichts. Er rechnet damit, dass dieses Jahr die Anzahl Beschwerden im Vergleich zum letzten Jahr nicht zunehme, sondern mit rund 8000 Eingängen etwa konstant sein werde.
Kolly würde es begrüssen, wenn das Bundesgericht nur noch für Grundsatzfragen zuständig wäre. «Das ist aber eine heikle Frage, weil der Bürger sich daran gewöhnt hat, dass er seinen Fall bis ans Bundesgericht weiterziehen kann.» Wo würde er abbauen? «Im Verwaltungsrecht beispielsweise gibt es eine klare Rechtsprechung zu den Führerausweisentzügen infolge von Geschwindigkeitsüberschreitungen. Er fragt: «Würde da eine administrative Behörde zusammen mit einer kantonalen gerichtlichen Beschwerdeinstanz nicht reichen für die Bearbeitung dieser Fälle?»
Der Bundesgerichtspräsident könnte sich vorstellen, dass das Bundesgericht in solchen Fällen nur noch für Beschwerden zuständig wäre, wenn sich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt oder es sich aus anderen Gründen um einen besonders bedeutenden Fall handelt – wie heute bereits bei der Amtshilfe in Steuersachen. Dann ginge es nämlich auch um die einheitliche Anwendung des Bundesrechts in der ganzen Schweiz.
Kolly stösst sich zudem am Aufwand bei Sachverhaltsfragen: «Im Prinzip kümmert sich das Bundesgericht nur um Rechtsfragen. Aber die Realität ist anders: Wenn diskutiert wird, ob bei der Sachverhaltsfeststellung das Willkürverbot verletzt wurde, wird eigentlich der Sachverhalt geprüft.» Kolly wirft die Frage auf, ob die Willkürprüfung bei Sachverhaltsfragen eingeschränkt werden soll. Eine Einschränkung bedeute ja nicht eine völlige Aufhebung, die Frage sei nur, wie weit man gehe.
Zurzeit arbeitet eine Arbeitsgruppe an dieser Frage. Das Resultat wird dann dem Gesamtgericht unterbreitet. Zudem wird der Bundesrat demnächst einen Bericht zur Bilanz nach fünf Jahren Bundesgerichtsgesetz vorlegen. Dieses Gesetz sollte das Bundes-gericht entlasten.
Der Bundesrat schlägt bereits wieder eine Gesetzesänderung vor, die aber für Lausanne Mehrarbeit bringen würde: In Zukunft soll das Bundesgericht über Beschwerden gegen Entscheide des Bundesstrafgerichts in Bellinzona urteilen – und zwar nicht nur in Rechtsfragen, sondern auch bei Sachverhaltsfragen. Das Bundesgericht stellt sich dagegen. Sieht Kolly eine Alternative? «Eine interne Beschwerdeinstanz am Bundesstrafgericht in Bellinzona.» Deren Unabhängigkeit müsste aber garantiert sein.
Ein im Ständerat angenommener Vorstoss verlangt, die öffentlichen Beratungen des Bundesgerichts seien direkt via Internet zu übertragen. Auch daran hat das Bundesgericht keine Freude. Kolly: «Das Gesamtgericht hat diesen Vorschlag mit 32 gegen 2 Stimmen abgelehnt. Wir beraten öffentlich, was in Europa einzigartig ist. Es handelt sich aber um echte Diskussionen, in denen die Richter ihre Meinung noch ändern können. Wir befürchten, dass nicht mehr diskutiert wird, sondern nur noch vorbereitete Stellungnahmen vorgelesen werden, wenn solche Diskussionen gespeichert und in der ganzen Welt veröffentlicht werden.» Kolly sieht nichts, was mit einer solchen Änderung gewonnen wäre – weil «nichts verheimlicht wird und die Öffentlichkeit der Beratungen gewährleistet ist». Zudem werden die Urteilsdispositive mit Parteinamen während vier Wochen aufgelegt und alle anonymisierten Urteile bereits heute im Internet veröffentlicht.
Kolly schätzt es, dass er sowohl Privat- als auch Strafrechtler ist. Das Rechtssystem sei «ein Ganzes». Und für einen obersten Richter schätzt er diese Kombination als wichtig ein. Er ist seit 28 Jahren verheiratet, hat zwei volljährige Kinder, die studieren.
17 Jahre ist es her, seit zum letzten Mal mit Claude Roullier ein Romand das Bundesgericht präsidierte. Kolly relativiert: «Über die ganze Zeit gesehen ist die Repräsentation der lateinischen Schweiz völlig korrekt.» Denn seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts hätten 37 Deutschsprachige, 19 Romands und 2 Italienischsprachige das Bundesgericht präsidiert.