Die SVP-Durchsetzungsinitiative scheint bis in die Redaktion der NZZ für Verwirrung zu sorgen. «Gefährlicher als ihr Name», titelte sie am 10. November 2015 und am 4. Januar 2016 dann: «Weniger schlagkräftig als ihr Name.» Dabei muss man bloss den Initiativtext lesen, um festzustellen, dass der Schweiz eine veritable Verfassungskrise droht.
Warum? Die Initianten wollen nicht weniger als die Abschaffung rechtsstaatlicher Grundprinzipien: Die Gewaltenteilung, das Prinzip der Verhältnismässigkeit und das richterliche Ermessen im Einzelfall sollen einer automatisierten «strafrechtlichen Selbstschussanlage» weichen, wie Daniel Jositsch es in einem Interview bildhaft genannt hat. Ausländerinnen und Ausländer sollen bei Verübung bestimmter Strafdelikte automatisch des Landes verwiesen werden, ohne Rücksicht auf die Höhe der Strafe und auf die konkreten Umstände des Einzelfalls, ohne Rücksicht auf Dauer und Status ihres Aufenthalts in der Schweiz und ohne Rücksicht darauf, was die Ausschaffung für ihren Lebenspartner oder für ihre Kinder bedeutet.
Die Strafrichter müssten entweder den direkt anwendbaren Wortlaut der neuen Verfassungsbestimmungen missachten und auf den Automatismus verzichten, obwohl die Verfassung genau diesen Automatismus verlangt. Oder aber sie müssten sich an den Wortlaut des Initiativtexts halten, auch erstmals straffällige Secondo-Familienväter bereits bei dreistelligen Deliktsbeträgen automatisch des Landes verweisen und so nicht nur Grundrechte der Betroffenen verletzen, sondern auch die EMRK.
Volksherrschaft ohne Korrektiv
SVP-Nationalrat und Rechtsprofessor Hans-Ueli Vogt behauptete, Secondos seien keine Ausländer im Sinn der Initiative. Das macht die Verwirrung komplett. Tatsache ist, dass der Initiativtext klipp und klar festhält, dass alle Ausländer des Landes verwiesen werden, und zwar – wörtlich – «unabhängig von ihrem ausländerrechtlichen Status». Tatsache ist auch, dass der neue Sozialmissbrauchsartikel bereits bei kleinen Vergehen zur direkten Landesverweisung führen soll – sofort und nicht erst im Wiederholungsfall.
Die Initianten verstehen Demokratie als reine Volksherrschaft. Sie versuchen, den Rechtsstaat und die Grundrechte zurückzubinden, weil diese ab und zu die Volksherrschaft einschränken. Wie gefährlich aber eine reine Volksherrschaft ohne echtes rechtsstaatliches Korrektiv sein kann, hat Europa schon erlebt. Und gerade jetzt erleben es die Ungarn und Polen. Solche Tendenzen sind letztlich voraufklärerisch und führen zurück in ein Rechtsdenken, das seit Montesquieu, also seit Mitte des achtzehnten Jahrhunderts, überwunden sein sollte.
Ein Missbrauch der Verfassungsinitiative
Neben schweren Strafdelikten wie Tötung, Körperverletzung oder Betäubungsmittelhandel erfanden die Initianten einen neuen Straftatbestand, der dazu führen wird, dass auch Secondos und bestens integrierte ausländische Manager, Ärztinnen oder Tramchauffeure schon beim geringsten Vergehen des Landes verwiesen werden müssen: Die Initianten wollen nämlich einen neuen Strafartikel «Sozialmissbrauch» direkt in die Bundesverfassung schreiben. Die Verfassungsinitiative wird so als Gesetzesinitiative missbraucht.
Ganz nebenbei will die Initiative die Zweiklassenjustiz einführen. Oder warum sonst sollen lediglich Ausländer wegen Sozialmissbrauchs bestraft werden, Schweizer aber nicht? Der neue Strafartikel befindet sich nämlich in einer direkt anwendbaren Übergangsbestimmung zu Artikel 121 BV («Gesetzgebung im Ausländer- und Asylbereich») und wäre somit ausschliesslich auf Ausländer anwendbar. Ein solches Sonderstrafgesetz für Ausländer weckt ungute Erinnerungen an längst vergangen geglaubte Zeiten.
In Absatz 1 dieses neu geschaffenen Strafartikels steht: «Wer für sich durch unwahre oder unvollständige Angaben, durch Verschweigen wesentlicher Tatsachen oder in anderer Weise Leistungen der Sozialhilfe oder einer Sozialversicherung unrechtmässig erwirkt oder zu erwirken versucht, wird, sofern die Tat nicht nach einer anderen Bestimmung mit höherer Strafe bedroht ist, mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bestraft.» In Absatz 2 heisst es dann: «In leichten Fällen kann auf Busse erkannt werden.» Zunächst fällt auf, dass der Sozialmissbrauch zur schwersten Kategorie der Strafdelikte gehören soll, nämlich zu den Verbrechen. Nur in leichten Fällen, also bei einem Deliktsbetrag von bis zu 300 Franken, kommt man mit einer Busse davon (siehe dazu BGE 121 IV 261 Erw. 2). Wer also einen darüber liegenden Betrag von der Sozialhilfe oder einer Sozialversicherung unrechtmässig erwirkt, wird diskussionslos des Landes verwiesen.
Übrigens: Selbst bei einer Ablehnung der Initiative wird der Strafartikel Sozialmissbrauch eingeführt werden, dann einfach via Gesetzgebung zur Umsetzung der Ausschaffungsinitiative. Dann würden auch Schweizer bestraft. Und für Secondos gäbe es immerhin eine Härtefallklausel, die es in stossenden Ausnahmefällen – aber nur hinsichtlich der persönlichen Verhältnisse, nicht hinsichtlich der Schwere der Tat! – erlaubt, von einer Landesverweisung abzusehen. Rechtsstaatliche Prinzipien würden laut Justizministerin Sommaruga dann nur noch auf grobe und nicht mehr auf gröbste Weise verletzt (NZZ vom 12. März 2015). Wirklich beruhigend sind solche Aussagen nicht gerade.
“Sozialmissbrauch” kann jedem schnell passieren
Das Besondere am Sozialmissbrauch ist, dass man – im Gegensatz zum Betrugstatbestand – gar nichts tun muss, damit er erfüllt ist. Um einen Betrug nach Artikel 146 StGB zu begehen, muss man schon etwas Fantasie und eine minimale kriminelle Energie besitzen. Nur wer lügt, mit gefälschten Dokumenten operiert oder sonstwie sein Opfer täuscht, handelt arglistig und wird als Betrüger verurteilt. Beim Sozialmissbrauch braucht es das alles nicht mehr: Es genügt, dass ein Ausländer vorsätzlich den unrechtmässigen Empfang einer Leistung verschweigt – schon hat er den Tatbestand des Sozialmissbrauchs erfüllt und wird automatisch des Landes verwiesen – und das gleich nach der ersten Straftat. Die Initianten zielen mit dieser Bestimmung auf Sozialschmarotzer und IV-Betrüger. Tatsache ist, dass ein Sozialmissbrauch sehr schnell auch von bestens integrierten Ausländern mit Job und Familie begangen werden kann. Denn auch die Kranken-, Pensions- und Familienausgleichskasse sind Sozialversicherungen, ebenso wie die Arbeitslosen- und Unfallversicherung oder die AHV.
Jedermann hat regelmässig mit einer oder mehreren dieser Versicherungen zu tun. Wenn nun ein Ausländer – ob Manager, Ärztin oder IT-Spezialist – nur ein einziges Mal von einer dieser Versicherungen zu Unrecht eine Leistung von mehr als 300 Franken erwirkt, oder dies auch nur versucht, wird er automatisch ausgewiesen. Wird die Initiative angenommen, müssen alle Ausländer extrem aufpassen, ja nie einen Fehler mit ihren Versicherungsleistungen zu machen.
Ein Fehltritt beim Joggen und seine Folgen
Drei Beispiele sollen dies verdeutlichen:
Der 19-jährige Sohn eines ausländischen Versicherungskaders unterbricht sein Studium für ein Jahr, um eine Weltreise zu machen. Der Vater unterlässt es, den Ausbildungsunterbruch des Sohns zu melden, und bezieht während dieses Jahres weiterhin die Kinderzulagen. Da er durch sein Verschweigen zu Unrecht Kinderzulagen erwirkt hat, wird er automatisch des Landes verwiesen. Dass der Mann seit mehr als 30 Jahren in der Schweiz lebt, spielt dabei keine Rolle.
Ein französischer Banker, seit seiner Geburt in Genf lebend, macht beim Joggen einen Fehltritt und verknackst sich den Knöchel. Er schreibt in der Unfallmeldung, er sei über eine Baumwurzel gestolpert. Dabei hat er in Tat und Wahrheit bloss einen Fehltritt gemacht. Die Arztkosten werden von der Unfallversicherung übernommen, obwohl es eigentlich ein Fall für die Krankenkasse wäre. Resultat: automatische Landesverweisung.
Eine leitende Angestellte eines Pharmaunternehmens wird vorzeitig pensioniert. Ihre Pensionskasse macht einen Fehler und zahlt ihr die Rente einen Monat zu früh aus. Die Frau, die in den letzten Jahren keine Freude mehr an ihrer Arbeit hatte, freut sich über dieses «Geschenk» und meldet es nicht. Die Pensionskasse bemerkt den Fehler aber und erstattet Anzeige. Auch hier muss die Frau, wenn sie einen ausländischen Pass hat, zwingend des Landes verwiesen werden.
Es ist erstaunlich, dass sich die Wirtschaft bisher kaum zu dieser Initiative hat vernehmen lassen. Denn viele fähige Manager und Fachkräfte, die seit Jahren in der Schweiz leben und arbeiten oder gar hier geboren sind, müssen nun eine Landesverweisung befürchten. Eine solche Rechtslage ist für internationale Konzerne nicht gerade attraktiv.
Das Verhältnismässigkeitsprinzip ist übergeordnet
Was sollen die Strafrichter aber machen, falls die Initiative angenommen würde? Es gibt pragmatische Ansätze, wie man versuchen könnte, die Initiative mit den ebenfalls in der Bundesverfassung verankerten Grundrechten und rechtsstaatlichen Garantien in Einklang zu bringen:
Erstens könnte der Richter sich auf den Standpunkt stellen, dass es sich – auch wenn die Landesverweisung bis ins letzte Detail geregelt ist – um eine Verfassungsinitiative handelt und eben nicht um eine Gesetzesinitiative, weil es Letztere auf Bundesebene nicht gibt. Und eine Verfassungsbestimmung – egal, wie detailliert sie formuliert ist und ob sie sich für direkt anwendbar erklärt – bleibt eine Verfassungsbestimmung, die sich in den Kontext der Verfassung einzugliedern hat und durch Gesetzgebung und Rechtsanwendung zu konkretisieren ist. Da das Verhältnismässigkeitsprinzip ein zentraler Teil der Bundesverfassung, ja gar einer der «Grundsätze rechtsstaatlichen Handelns» ist (Artikel 5 Absatz 2 BV), muss es zwingend bei jeder Landesverweisung angewendet werden.
Zweitens könnten die Richter dazu tendieren, den subjektiven Sachverhalt zugunsten der Delinquenten auszulegen und zum Beispiel Secondos vermehrt freisprechen, weil die Landesverweisung als automatisierte Rechtsfolge sonst zu hart wäre.
Dass die drohende Rechtsfolge durchaus einen Einfluss auf die Sachverhaltsbeurteilung haben kann, zeigt sich zum Beispiel im Urteil des Bundesgerichts
6B_ 1250/2013 vom 24. April 2015. In Erwägung 3.1 wird ausgeführt: «Ein Tötungsvorsatz ist zu verneinen, wenn der Täter trotz der erkannten möglichen Lebensgefahr handelt, aber darauf vertraut, die Todesgefahr werde sich nicht realisieren. Ein Tötungsvorsatz kann angesichts der hohen Mindeststrafe bei Straftaten gegen das Leben und des gravierenden Schuldvorwurfs bei Kapitaldelikten nur angenommen werden, wenn zum Wissenselement weitere Umstände hinzukommen.»
Offensichtlich kann also die Schwere der Rechtsfolge ein mögliches Kriterium sein, um im Zweifelsfall das Vorliegen eines Vorsatzes zu verneinen. Warum dies so sein soll, erschliesst sich einem zwar nicht. Denn die Tatbestandsprüfung sollte unabhängig von der möglichen Rechtsfolge vorgenommen werden. Aber allenfalls wäre dies ein – rechtlich eigentlich unhaltbarer, aber denkbarer – Weg, um in Strafverfahren trotz Durchsetzungsinitiative das Verhältnismässigkeitsprinzip und das richterliche Ermessen zu retten.
Gerechtigkeit geht “unrichtigem Recht” vor
Zum Schluss ein philosophischer Ansatz: Wie Matthias Bertschinger in seiner Abhandlung «Ist der Ausweisungsautomatismus noch Recht im Sinn des Rechtsbegriffs?» (abrufbar unter www.matthiasbertschinger.ch) darlegt, lohnt sich ein Blick auf die Formel des Rechtsphilosophen Gustav Radbruch. Ihr zufolge hat sich der Richter immer dort (und nur dort) gegen gesetztes Recht und stattdessen für die materielle Gerechtigkeit zu entscheiden, wo das Gesetz entweder «unerträglich ungerecht» ist oder aber die Gerechtigkeit nicht einmal angestrebt (oder verleugnet) wurde. Die Radbruch’sche Formel teilt sich so in zwei Teilformeln: in die «Unerträglichkeitsformel» und in die «Verleugnungsformel». In ihrer Kurzform lautet sie: «Extremes Unrecht ist kein Recht.»
Ein Gesetz, dessen Anwendung derart ungerecht ist, dass es objektiv betrachtet unerträglich ist, hat gemäss der Unerträglichkeitsformel als «unrichtiges Recht» der Gerechtigkeit zu weichen.
Im Zusammenhang mit der Durchsetzungsinitiative passt die Radbruch’sche Verleugnungsformel noch besser, weil sie eine schärfere Grenze zieht: Wo Gerechtigkeit nicht einmal angestrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewusst verleugnet wurde, da ist ein Gesetz nicht nur «unrichtiges» Recht, sondern dem Gesetz fehlt es ganz grundsätzlich an einer Rechtsnatur. Denn positives Recht kann gar nicht anders, als der Gerechtigkeit zu dienen. Kurz gesagt: Gemäss Radbruch darf ein Richter die Initiative nicht wortgetreu umsetzen, weil sie kein Recht darstellt.