Verfassungsrecht
Grundrechte
Das Grundrecht auf Sozialhilfe. Von der Notwendigkeit, ein ungeschriebenes Grundrecht anzuerkennen, das über das Recht auf Hilfe in Notlagen hinausgeht. Eva Maria Belser und Thea Bächler, ZBl 9/2020, S. 463 ff.
Laut den Autorinnen erfüllt das Recht auf Sozialhilfe alle Voraussetzungen, um vom Bundesgericht als ungeschriebenes Grundrecht anerkannt zu werden. Sie halten es für unerlässlich, die Leistungen der Sozialhilfe und die Bedingungen für ihren Bezug bundesgerichtlich zu regeln. Gleichzeitig sollen aber die Zuständigkeiten der Kantone und Gemeinden gewahrt werden.
Widerspruchslösung – Zustimmungslösung. Raphaela Hollinger, SJZ 2020, S. 443 ff.
In der Schweiz übersteigt die Nachfrage nach transplantierbaren Organen das Angebot. Seit Jahren sucht man nach Lösungen, um die Knappheit an verfügbaren Organen zu mindern. Eine wird in der Abkehr von der erweiterten Zustimmungslösung zur Widerspruchslösung gesehen. Die Schwierigkeit besteht darin, die Balance zwischen Wahrung des Selbstbestimmungsrechts bzw. der Menschenwürde des verstorbenen Spenders und der Gesundheit des Empfängers zu finden.
Übriges Verfassungsrecht
Notrecht in der Anwendungsprobe – Grundlegendes am Beispiel der Covid-19-Verordnungen. Benjamin Märkli, Sicherheit & Recht 2/2020, S. 59–67.
Der Autor beleuchtet die Notverordnungen des Bundesrats zur Coronapandemie. Er antwortet auf Fragen, welche die Verordnungen bezüglich des Notrechts aufwerfen, und formuliert Überlegungen zum «Wie weiter?» nach dem «Krisenregime».
Verwaltungsrecht
Allgemeines Verwaltungsrecht
Von Krisen und Schulhausabwarten. Oder: Was ist Aufsicht? Markus Müller, ZBl 8/2020, S. 405 f.
Laut Autor hat die Aufsichtsbehörde über die Bundesanwaltschaft im letzten Jahr getan, was Gesetz und Allgemeinheit von ihr verlangen. Trotzdem habe sie Kritik einstecken müssen. Müller erklärt, Aufsicht sei nicht Coaching. Man könne sich aber nicht gänzlich des Eindrucks erwehren, dass sich in der Schweiz Coaching als Surrogat «klassischer» Aufsicht zunehmender Beliebtheit erfreue. In der Schweiz sei erstens das Geflecht an Aufsichts- und Oberaufsichtsbehörden dicht und die Verantwortlichkeits- und Kompetenzabgrenzungen seien oft unklar. Hinzu käme zweitens oft eine allzu grosse Nähe.
Rechtliches Gehör in Administrativuntersuchungen. Daniela Thurnherr, Sui generis 2020, S. 357 ff.
Die Autorin analysiert vier Urteile des Bundesverwaltungs- und des Bundesgerichts, in denen der Anspruch auf rechtliches Gehör in einer Administrativuntersuchung bejaht wurde. Laut der Autorin stärken die Gerichte mit der Anerkennung eines Gehörsanspruchs zugunsten der von einer Administrativuntersuchung Betroffenen deren verfahrensrechtliche Position.
Ausländer- und Asylrecht
Die Leihmutterschaft im Migrationsrecht. Luca Montisano und Peter Uebersax, SJZ 2020, S. 595 ff.
Das Verbot der Leihmutterschaft führt dazu, dass Schweizer Paare regelmässig ins Ausland reisen, um eine Leihmutter zu beauftragen. Dabei stellen sich auch komplexe rechtliche Fragen. Von der privatrechtlichen Anerkennung der im Ausland gültig begründeten Kindesverhältnisse hängen nicht zuletzt migrationsrechtliche Folgen ab, insbesondere die Einreise, der Aufenthalt und die Staatsangehörigkeit der Leihmutterschaftskinder.
Umweltrecht
Spielräume für das kantonale Umweltrecht. Hans Stutz, URP 3/2020, S. 245 ff.
Der Autor untersucht in seinem Beitrag die verfassungsrechtlichen Grundlagen, stellt das kantonale Umweltrecht dar und befasst sich schliesslich mit dem materiellen kantonalen Ausführungsrecht zum Bundesumweltrecht. Er kommt dabei zum Schluss, dass die Kantone gut daran tun, die ihnen offenstehende Gestaltungsfreiheit beim Umweltrecht zu nutzen und mit ihrer Rechtsetzung Impulse für das Umweltrecht in der Schweiz zu geben.
Übriges Verwaltungsrecht
Administrativ- und Disziplinaruntersuchungen in der Bundesverwaltung. Felix Uhlmann und Jasmina Bukovac,
ZBl 7/2020, S. 351 ff.
Gemäss den beiden Autoren werfen Administrativ-, Disziplinar- und formlose Untersuchungen in der Bundesverwaltung zwei Grundfragen auf – die der Wahl der Untersuchungsart und die des anwendbaren Verfahrensrechts. Bezüglich der Wahl gibt es nur wenige gesetzliche Vorgaben, insbesondere was die Administrativuntersuchung anbelangt. Auch punkto Verfahrensrecht bestehen in erster Linie bei der Administrativuntersuchung Unsicherheiten.
Sozialversicherungsrecht
AHV, IV, EL und ALV
Der Abzug vom Tabellenlohn gemäss der Lohnstrukturerhebung. Marco Weiss, Have 3/2020, S. 259 ff.
Bei der Festlegung des IV-Grades kann bei Versicherten, die wegen behinderungsbedingten oder anderen Merkmalen ihre gesundheitlich bedingte Arbeitsfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt nur wenig erfolgreich verwerten können, ein Abzug vom IV-Einkommen gemäss Lohnstrukturerhebung vorgenommen werden. Dabei ist zu prüfen, ob und in welchem Ausmass das hypothetische Einkommen gekürzt werden kann. Der Autor zeigt auf, welche teilweise widersprüchlichen Tendenzen in der Kasuistik zu dieser Problematik zu beachten sind.
Hypothetische Anrechnung einer Entschädigung für Haushaltsführung oder Kinderbetreuung im Ergänzungsleistungsrecht.
Kira Tanner, SZS 4/2020, S. 181 ff.
Für den EL-Anspruch wird auf die anrechenbaren Einnahmen abgestellt – darunter auch hypothetische Einnahmen, die den Versicherten zumutbar sind. Die Autorin kritisiert diese Praxis: Wenn Einnahmen angerechnet werden, die nicht tatsächlich erworben wurden, müssen die Voraussetzungen des Verzichtstatbestands erfüllt sein. Es ist zu prüfen, ob ein rechtlicher Anspruch auf Entschädigung überhaupt bestand.
Strafrecht
Besonderer Teil
Neuer Tatbestand für sexuelle Handlungen ohne Konsens? Hans Wiprächtiger, AJP 7/2020, S. 924–931.
Das Parlament berät einen strafrechtlich Gesetzestext, der sich mit sexuellen Handlungen gegen den Willen einer Person befasst, wenn weder Gewalt noch Drohung vorliegen. Der Autor befürchtet, dass der Beschuldigte in Zukunft seine Unschuld beweisen müsse, «was sämtlichen rechtsstaatlichen Grundsätzen widerspricht». Eine derartige Ausweitung des Strafrechts würde seiner Meinung nach zu vielen Fehlurteilen führen und sei deshalb abzulehnen.
Das Arztgeheimnis im Haftpflichtfall, eine Schweizerreise. Marisa Bützberger, Have 3/2020, S. 243 ff.
Ob und wann sich ein Arzt, der mit einem Haftpflichtanspruch konfrontiert ist, vom Arztgeheimnis befreien lassen muss, wird in den Kantonen unterschiedlich gehandhabt. Der Beitrag legt dar, inwiefern Rechtsgrundsätze und übergeordnete Vorschriften die Geheimnisoffenbarung gegenüber dem Anwalt und der Haftpflichtversicherung rechtfertigen können.
Privatrecht
Wege zu einem Arzthaftungsgutachten und deren Vor- und Nachteile aus Patientensicht. Christian Haag, Jusletter vom 31.10.2020.
Ein Patient kann als Laie nicht beurteilen, ob der Arzt falsch gehandelt hat. Der Autor zeigt auf, wie man als Patient einen vermuteten Behandlungsfehler gutachterlich abklärt und welche Vor- und Nachteile unterschiedliche Wege haben.
Familienrecht
Die Rolle der Kindsvertretung. Christophe Herzig, FamPra 3/2020, S. 567–588.
Die Rolle der Kindsvertretung ist in der Praxis teilweise noch immer unklar. Dies kann zu Missverständnissen und enttäuschten Erwartungen seitens der Beteiligten führen. Mitursächlich dafür ist der Umstand, dass Lehre und Rechtsprechung sich in grundlegenden Aspekten uneinig sind. Nach Darlegung der verschiedenen Auffassungen in Lehre und Rechtsprechung klärt der Beitrag die Rolle der Kindsvertretung gestützt auf eine Gesetzesauslegung und arbeitet die Kernaufgaben der Kindsvertretung heraus.
Das hypothetische Einkommen im Familienrecht – ein Überblick. Michael Affolter, AJP 7/2020, S. 833-846.
Das hypothetische Einkommen ist Teil der Beurteilung aller Unterhaltsansprüche. Die Antwort auf die Frage, ob jemandem ein höheres Einkommen möglich und zumutbar ist, unterscheidet sich in der Praxis je nach gesetzlicher Grundlage, Perspektive und Wertung. Der Autor bietet einen sehr guten Überblick über die Rechtsprechung und ermöglicht so eine einheitlichere Betrachtungsweise des hypothetischen Einkommens.
Der massgebliche Wert in der güterrechtlichen Auseinandersetzung. Eva Viola Bohnenblust und Stefanie Althaus, FamPra 3/2020, S. 670–688.
Im Güterrecht werden Vermögenswerte nicht in natura aufgeteilt, sondern es findet eine Abfindung in Geld statt. Regelmässig stehen sich laut den Autorinnen dabei widerstreitende Interessen gegenüber, die viele rechtliche und praktische Fragen aufwerfen: An wessen Interesse orientiert sich der zu bestimmende Wert? Geht es um den Wert der Nutzung oder um das Verkaufspotenzial? Welche Behauptungen müssen in einem Gerichtsverfahren vorgebracht werden, damit der massgebliche Wert bestimmt werden kann?
Ehevertrag – Regelungsmöglichkeiten und Grenzen. Philip R. Bornhauser, SJZ 2020, S. 515 ff.
Der Beitrag befasst sich mit den Regelungsmöglichkeiten eines Ehevertrags und analysiert die Verbindlichkeit von antizipierten Scheidungsvereinbarungen. Er geht dabei auf die aktuelle Rechtsprechung des Bundesgerichts ein.
Arbeitsrecht
Die Angehörigenbetreuung aus arbeitsrechtlicher Sicht. Rebecca Vionnet, Jusletter vom 7.9.2020.
Die Autorin setzt sich mit den Arbeitsbefreiungs- und Entschädigungsansprüchen bei der Betreuung Angehöriger auseinander. Sie gibt eine Übersicht über die Anspruchsgrundlagen. Danach geht sie auf die Lohnfortzahlungspflicht bei diversen Konstellationen der Kinderbetreuung ein. Zuletzt fasst sie die neusten gesetzgeberischen Bestrebungen zusammen.
Le droit à la réintegration suite à un congé de retorsion. Karin Lempen und Rachel Salem, ARV 2/20, S. 97 ff.
Nach dem Gleichstellungsgesetz kann das Gericht den Arbeitgeber verpflichten, eine gekündigte Arbeitnehmerin wieder einzustellen. Etwa, wenn diese eine Beschwerde erhoben hat und der Arbeitgeber ihr dann aus Rache kündigt. Die Autorinnen gehen davon aus, dass die Arbeitnehmerin in diesem Fall einen Anspruch auf tatsächliche Beschäftigung hat – nicht bloss auf Lohnfortzahlung.
Handels- und Wirtschaftsrecht
Gesellschaftsrecht
Die Verwechslungsgefahr im Firmenrecht, Erkenntnisse aus der jüngsten Rechtsprechung des Bundesgerichts. Daniel Burkard und Daniel Kraus, Sic! 9/2020, S. 457 ff.
Zur Verwechslungsgefahr im Firmenrecht erliess das Bundesgericht kürzlich eine Reihe von Entscheiden. Vom Fachpublikum wurden diese teils mit Erstaunen aufgenommen. Vor diesem Hintergrund untersucht der Beitrag die bundesgerichtliche Rechtsprechung und versucht daraus allgemeingültige Erkenntnisse zu gewinnen.
Immaterialgüterrecht
Von der «freien Benutzung» zum «künstlerischen Zitat»: Der EuGH-Entscheid «Metall auf Metall» aus schweizerischer Sicht. Willi Egloff, Sic! 7/8/2020, S. 399 ff.
1959 erklärte das Bundesgericht in einem Urteil die Rechtsfigur der «freien Benutzung», die es damals nur im deutschen Urheberrechtsgesetz gab, zur ungeschriebenen Norm des schweizerischen Urheberrechts. Im Juli 2019 entschied der EuGH, die deutsche Regelung sei unvereinbar mit der EU-Richtlinie 2001/29. Faktisch ist die Regelung damit ausser Kraft gesetzt. Der Autor geht der Frage nach, was der EuGH-Entscheid für das schweizerische Urheberrecht bedeutet. Er plädiert dafür, die von Anfang an problematische Rechtsprechung aufzugeben.
Verfahrens- und Vollstreckungsrecht
Strafprozessrecht
Schweizerische Bundesanwaltschaft – Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Niccolò Raselli, Recht 3/2020, S. 213 ff.
Ex-Bundesrichter Niccolò Raselli analysiert das Debakel der Bundesanwaltschaft in seinem Aufsatz sehr gut. Zu präzisieren gäbe es einzig, dass der Bundesrat in der Effizienzvorlage keinen solchen Ausbau der Bundesanwaltschaft wollte. Die Eigendynamik entstand im Parlament mit einem parteienübergreifenden Antrag, den der Bundesrat bekämpfte.
Tatenlose Massnahmen? Marc Thommen, Elmar Habermeyer und Marc Graf, Sui generis 2020, S. 329 ff.
Damit eine stationäre therapeutische Massnahme angeordnet werden kann, muss eine vorsätzliche und rechtswidrige Anlasstat gegeben sein. Der Beitrag zeigt auf, dass der krankheitsbedingte Irrtum eines Schizophrenen die Rechtswidrigkeit der Anlasstat aufheben kann, wenn der Täter bei Abwehrhandlungen im Verfolgungswahn die Voraussetzungen der Putativnotwehr erfüllt.
Zivilprozessrecht
Mitwirkungsverweigerungsrecht für Rechtsdienste als Schutz vor Klagen von Geschädigten? Ein Beitrag zur laufenden ZPO-Revision. Isaak Meier, AJP 9/2020, S. 1168–1173.
Im Rahmen der Revision der ZPO soll für interne Unternehmensjuristen betreffend die Korrespondenz mit Organen und Mitarbeitern des Unternehmens ein Mitwirkungsverweigerungsrecht eingeführt werden, wie es bisher nur externen Anwälten zusteht. Damit will der Gesetzgeber für Schweizer Grossunternehmen die Abwehr von Klagen in den USA erleichtern, wo solche Mitwirkungsverweigerungsrechte für Unternehmensjuristen verbreitet sind. Der Autor untersucht, ob eine solche Sondernorm gerechtfertigt ist. Er zeigt auch auf, dass hinter dieser fragwürdigen Bestimmung eine bereits seit Jahrzehnten geführte Lobbyismus- Kampagne von breiten Kreisen der Wirtschaft steht.