Verfassungsrecht
Grundrechte
Grundrechte in Zeiten von Corona. Daniel Moeckli, ZBl 5/2020, S. 237 f.
Laut Autor sind die freiheitsbeschränkenden Massnahmen ein geradezu lehrbuchmässiges Beispiel einer Grundrechtskollision: die Freiheitsrechte aller werden eingeschränkt, um das Recht auf Leben und auf physische Integrität besonders gefährdeter Personen zu schützen. Grundrechtskollisionen sind durch eine Interessensabwägung unter Beachtung des Verhältnismässigkeitsprinzips zu lösen. Gemäss dem Autor haben alle Menschen gleichermassen Anspruch auf einen ihren Bedürfnissen entsprechenden Schutz vor der Pandemie. Der Staat muss gewährleisten, dass auch Obdachlose, Häftlinge und Asylsuchende effektiv geschützt werden.
«Notrecht» in Zeiten des Coronavirus. Eine Kritik der jüngsten Praxis des Bundesrats zu Art. 185
Abs. 3 BV. Giovanni Biaggini, ZBl 5/2020, S. 239 ff.
Gemäss Biaggini trägt die Bundesversammlung eine Mitverantwortung dafür, dass die notrechtlichen Regelungen nicht länger in Kraft bleiben als nötig. Er hält es nicht für nötig, dass nach bundesrätlichem Notrecht auch noch parlamentarisches Notrecht folgt. Der Autor hält es für die Aufgabe der Bundesversammlung, das Geschehen kritisch aufzuarbeiten und zu würdigen. Die bundesrätliche Überdehnung von Art. 185 Abs. 3 BV sollte dabei deutliche Kritik erfahren, sodass sich der übermässige Rückgriff auf diese Bestimmung im Rahmen der März-Verordnungen rückblickend als «kurzes pandemisches Intermezzo» entpuppt.
Human Rights Clinics. Eine Standortbestimmung. Vanessa Rüegger, Sui generis 2020, S. 176 ff.
Der Beitrag bietet einen Überblick zur Entwicklung der verschiedenen Menschenrechtskliniken, die in den vergangenen Jahren an den schweizerischen Universitäten gegründet wurden. Die Autorin ruft die grundlegende Bedeutung der Menschenrechte für die gesamte Rechtsordnung in Erinnerung und verweist auf die zunehmende Professionalisierung der Menschenrechtspraxis und die damit verbundenen Herausforderungen für die juristische Arbeit. Darauf aufbauend erklärt sie das Ausbildungskonzept von Menschenrechtskliniken, stellt deren Entstehung in einen historischen und internationalen Kontext und fragt nach Argumenten, die für oder gegen die Aufnahme von Menschenrechtskliniken in die juristische Ausbildung sprechen.
Übriges Verfassungsrecht
Rechtsschutz bei Massnahmen des Bundesrats zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie. Kaspar Gerber, Sui generis 2020, S. 249 ff.
Der Beitrag kommt zum Schluss, dass der Rechtsschutz im Zusammenhang mit Massnahmen des Bundesrats zur Bekämpfung der Coronapandemie – insbesondere in Form der konkreten Normenkontrolle der «Covid-19-Verordnung 2» – grundsätzlich sichergestellt ist. Jedoch erscheine die Wirksamkeit des Rechtsschutzes in zeitlicher Hinsicht fraglich. Zu prüfen sei, ob der Bundesrat mit zu drastischen und zeitlich überzogenen – weil nicht durch eine epidemiologisch bedingte ausserordentliche Lage gerechtfertigten – Massnahmen die wirtschaftlichen Folgeprobleme der Covid-19-Pandemie unnötig verschlimmert habe.
Verwaltungsrecht
Allgemeines Verwaltungsrecht
Die Praxis zu den Mitwirkungspflichten im Verwaltungsverfahren. Christian Meyer, Recht 2/2020, S. 57 ff.
In Verwaltungsverfahren werden für die Betroffenen finanziell einschneidende, lebensprägende oder gar überlebenswichtige Entscheide gefällt. Unter Umständen steht persönlich mehr auf dem Spiel als in einem Strafverfahren. Die Mitwirkungspflichten der Parteien sind das wichtigste Untersuchungsmittel der Verwaltungsbehörden. Der Autor zeigt anhand der Praxis auf, in welchen Verwaltungsverfahren Mitwirkungspflichten bestehen, unter welchen Voraussetzungen diese als verletzt gelten und wie sich die prozessuale Schlechterstellung der säumigen Partei auf den Prozess der Sachverhaltsfeststellung – und damit den Verwaltungsentscheid – auswirkt.
Entschädigung für die Folgen der Bekämpfung des Coronavirus. Walter Fellmann, Jusletter vom 15.6.2020.
Die Coronakrise hat viele Unternehmen in finanzielle Schwierigkeiten gebracht. Nach Art. 63 des Bundesgesetzes über die Bekämpfung übertragbarer Krankheiten des Menschen (Epidemiengesetz) kann die anordnende Behörde Personen, die aufgrund behördlicher Massnahmen Schäden erleiden, unter Berücksichtigung ihrer wirtschaftlichen Verhältnisse entschädigen, soweit die Schäden nicht anderweitig gedeckt werden. Der Beitrag zeigt auf, ob Schadenersatz im Rahmen einer Billigkeitsentschädigung nach Epidemiengesetz oder einer Staatshaftung nach Verantwortlichkeitsgesetz in Betracht kommt.
Steuerrecht
Die Steuerharmonisierung in der Rechtsetzung. Eine Auslegeordnung mit Fokus kantonaler Gestaltungsspielraum und Steuerfreibeträge. Meret Cajacob und Karolina Yuan, ASA 9/88, S. 681 ff.
Der Umfang der Steuerharmonisierungskompetenz des Bundes ist immer wieder Gegenstand von steuerpolitischen Debatten. Die beiden Autorinnen stellen in einem interessanten Artikel die historischen Grundlagen und die vorsichtige Entwicklung in den letzten knapp fünfzig Jahren dar. Weder können die Kantone Einkommen als steuerfrei erklären, die bundesrechtlich zu besteuern sind, noch wären im Bundesrecht alle denkbaren Abzüge verfassungskonform.
Ausländer- und Asylrecht
L’analyse-pays et les «précédents factuels» dans la jurisprudence du Tribunal administratif fédéral sur l’Erythrée: entre ombre et lumière. Aurélie Mariotti und Damian Rosset, Asyl 2/2020, S. 3–9.
Diese Ausgabe der Zeitschrift Asyl befasst sich mit Herkunftsländeranalysen. Kritisch untersuchen Mariotti und Rosset die Praxis des Bundesverwaltungsgerichts am Beispiel der Grundsatzurteile zu Eritrea. Sie fordern mehr Transparenz bezüglich der Quellen, auf welche sich das Gericht stützt.
Sozialversicherungsrecht
KVG und UVG
Tarife und Tarifverträge. Keine Reformen ohne Grundsatzdiskussion. Markus Moser und Heinz Locher, Jusletter vom 8.6.2020.
Im August 2019 hat der Bundesrat dem Parlament ein Paket von Massnahmen zur Kosteneindämmung in der Krankenversicherung unterbreitet. Durch Änderungen und Ergänzungen des KVG im Bereich der Tarife und Tarifverträge soll die Kostenentwicklung in der Krankenversicherung eingedämmt werden. Der Beitrag diskutiert die Gesetzesvorlagen.
Strafrecht
Besonderer Teil
Terrorismusbekämpfung. Erweiterte Vorfelddurchleuchtung und -kriminalisierung oder Mut zur Lücke? Hans Vest, SJZ 2020, S. 323 ff.
Terrorismus beschäftigt Öffentlichkeit und Politik meist nach einem Anschlag. Reale und gefühlte Gefahren in diesem Zusammenhang stimmen nicht überein. Die geplante Gesetzgebung gegen Terrorismus erweist sich als Generalmobilmachung und passt damit durchaus in eine politische Landschaft, die Kriminalitätsbekämpfung als eine Art Krieg begreift. Der Beitrag widmet sich dem vorgesehenen Bundesgesetz über polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus und bettet diese in Überlegungen zu Prävention und Repression und einen Ausblick ein.
Le client peut-il diffamer en se confiant à son avocat? François Bohnet und Luca Melcarne, SJZ 2020, S. 363 ff.
Das Bundesgericht hält es in BGE 145 IV 462 für gerechtfertigt, ein Strafverfahren gegen den Klienten eines Anwalts einzuleiten wegen Äusserungen, die der Mandant gegenüber dem Anwalt machte. Diese Äusserung gab der Anwalt in einem Brief an eine Person wieder, die sich dadurch diffamiert sah und klagte. Die beiden Autoren analysieren die rechtlichen Grundlagen des Urteils und die praktischen Auswirkungen auf Anwälte.
Übriges Strafrecht
Objektive Zurechnung im Jugendstrafrecht. Patrick Vogler, AJP 6/2020, S. 739–749.
Bei zahlreichen, durch Jugendliche begangenen Straftaten sieht sich die Praxis mit der schwierigen Frage konfrontiert, ob dem Beschuldigten der Verletzungserfolg als «sein Werk» zugerechnet werden kann. Dabei ist der jugendstrafrechtlichen Regel zu folgen, wonach Alter und Entwicklungsstand bei der Anwendung des Strafgesetzbuches zugunsten des Beschuldigten berücksichtigt werden müssen. Hinweise darauf, wie diese Auslegungsregel auf konkrete praktische Fragestellungen angewendet werden soll, sind laut dem Autor in der Lehre indes äusserst rar. In seiner Abhandlung leistet er einen Beitrag zur Schliessung dieser Lücke und zeigt auf, wie die jugendstrafgesetzliche Auslegungsregel im Bereich der Erfolgszurechnung operationalisiert und dogmatisch abgesichert werden kann.
Privatrecht
Familienrecht
Die fürsorgerische Unterbringung Minderjähriger de lege ferenda unter Berücksichtigung der Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention. Isabel Linda Geissberger, FamPra.ch 2/2020, S. 287 ff.
Im innerstaatlich geltenden Recht wird die fürsorgerische Unterbringung von Minderjährigen lediglich mit einem ausdrücklichen Verweis in Art. 314b Abs. 1 ZGB auf die sinngemässe Anwendung der erwachsenenschutzrechtlichen Bestimmungen in den Art. 426 ff. ZGB geregelt. Dies genügt gemäss Autorin den Vorgaben der EMRK nicht. Deshalb sei für die fürsorgerische Unterbringung eine Neuregelung der materiell rechtlichen Grundlage auf Bundesebene notwendig. Ihre Vorschläge de lege ferenda sollen die besonders fundamentalen Rechte des Kindes gewährleisten.
Die konkrete Berechnung von Kinderunterhaltsbeiträgen. Philipp Maier, FamPra 2/2020, S. 314 ff.
Die Änderungen des Schweizerischen Zivilgesetzbuchs über den Unterhalt für minderjährige Kinder sind seit 2017 in Kraft. Der Beitrag fasst die aktuelle Praxis zusammen. Gestützt auf die Entscheidungen der Zürcher Gerichte und die bundesgerichtliche Rechtsprechung geht er auf die Berechnung von Kinderunterhaltsbeiträgen und prozessrechtliche Fragen wie sachliche Zuständigkeit, Kompetenzattraktion und Prozessmaximen ein.
Arbeitsrecht
Pikettdienst. Christoph Senti, ARV 1/2020, S. 1.
Der Beitrag untersucht die Abgrenzung zwischen Pikettdienst und Arbeit auf Abruf in Lehre und Rechtsprechung. Er kommt zum Schluss, dass bei beiden Konstellationen oft eine einheitliche Anwendung des Arbeitsgesetzes angezeigt ist, etwa bei der Regelung der Arbeits- und Ruhezeiten.
Verfahrens- und Vollstreckungsrecht
Zivilprozessrecht
ZPO-Revisionsvorlage: Unbefriedigende Scheinlösung in der Kostenfrage. Arnold Marti, ZBl 6/2020, S. 290 f.
Die neue Zivilprozessordnung hat das finanzielle Risiko in fast unermessliche Höhe getrieben und die Prozessführung für den Mittelstand erschwert. Die nun vorliegende Revisionsvorlage will die Kostenvorschüsse auf die Hälfte der mutmasslichen Prozesskosten beschränken und die Überwälzung des Inkassorisikos für erstinstanzliche Verfahren ausschliessen – nicht aber im Rechtsmittelverfahren. Der Autor bezeichnet dies als mutlos.
Strafprozessrecht
Einsicht der Medien in Strafbefehle. Zur Reichweite des Art. 69 Abs. 2 StPO. Monika Simmler, ZStrR 2/2020, S. 211 ff.
In Bezug auf die Frage, wann Medien Einsicht in Strafbefehle zu gewähren ist, ist die Praxis der Kantone uneinheitlich. Der Grundsatz von Art. 69 Abs. 2 StPO, gemäss dem interessierte Personen Einsicht in ergangene Strafbefehle nehmen können, gilt nur für die Zeitspanne vor Eintritt der Rechtskraft. Ist das Verfahren beendet und der Strafbefehl in Rechtskraft erwachsen, gelten gemäss Art. 99 Abs. 2 StPO die Bestimmungen des Datenschutzrechts. Die Autorin ist der Ansicht, die Praxis vieler Kantone sei entsprechend anzupassen.
Die Erstellung eines DNA-Profils im Hinblick auf allfällige künftige Straftaten. Niklaus Ruckstuhl, Forumpoenale 3/2020, S. 229 ff.
Der Beitrag zeigt auf, dass die bundesgerichtliche Rechtsprechung zur Zulässigkeit des DNA-Abgleichs zur Deliktaufklärung widersprüchlich ist. Abweichend vom Gesetz und der Voraussetzung eines hinreichenden Tatverdachts lasse das Bundesgericht die DNA-Analyse auch zu rein präventiven Zwecken zu, nämlich zur Erkennbarkeit von Rückfalltätern. Dabei setze sich das Bundesgericht auch über die überwiegend ablehnende Lehre hinweg.
L’accès au dossier pénal suisse par la partie plaignante (quasi-)État étranger. Comment concilier l’inconciliable? État de la jurisprudence récente. Maria Ludwiczak Glassey, Jusletter vom 15.6.2020.
Bei parallel in der Schweiz und im Ausland geführten Strafverfahren besteht die Gefahr, dass Dokumente unter Umgehung der Regeln über die internationale Rechtshilfe in den ausländischen Staat gelangen. Die gegenwärtige Praxis, die Regeln über die Rechtshilfe um jeden Preis zu schützen, wirkt sich laut Autorin potenziell lähmend auf das Strafverfahren aus. Der Beitrag gibt einen kritischen Überblick über die jüngste Rechtsprechung.
Internationales Recht
Klimaklagen gegen Unternehmen. Andreas Hösli und Rolf H. Weber, Jusletter vom 25.5.2020.
Der Beitrag zeigt die internationale Tendenz zu vermehrter Klimaprozessführung gegen Unternehmen. Die Autoren beleuchten anhand einer Auswahl von im Ausland hängigen Fällen aktuelle Entwicklungen und analysieren deren mögliche Auswirkungen auf die Schweiz.
Sind Schweizer Juristen für die Globalisierung gewappnet? Andreas R. Ziegler, Jusletter vom 8.6.2020.
Die allgemeinen Folgen der Globalisierung und Integration spiegeln sich in der Rechtswirklichkeit. Entsprechend ist die Kenntnis, wie man mit diesen Aspekten umgeht, gemäss dem Autor von fundamentaler Wichtigkeit für die zielführende Ausbildung von Juristen. Der Beitrag untersucht den Stand der Ausbildung (Studienjahr 2019/2020) an den Universitäten und deren Programme betreffend die relevanten obligatorischen und optionalen Fächer sowie die Fremdsprachen.