Verfassungsrecht
Grundrechte
Auslagerung als Risiko – mit und ohne Cloud. Julian Powell, Jusletter vom 10.10.2022
Die Nutzung von Cloud-Diensten wird kontrovers diskutiert. Im Fokus der Diskussion steht der potenzielle Zugriff von US-Behörden auf Daten, welche Privatpersonen und Schweizer Behörden in den Clouds von US-Tech-Firmen speichern. Gemäss dem Autor werde dabei jedoch anderen, altbekannten Risiken nur wenig Beachtung geschenkt. Jede Auslagerung von Daten berge einen Kontrollverlust und ein Abhängigkeitsrisiko. Wo besonders sensible Daten und kritische Infrastrukturen betroffen seien, sei eine vertiefte Auseinandersetzung mit diesen Gefahren erforderlich.
Neues DSG: Umsetzung und Anwendung in Anwaltskanzleien, Anwaltsrevue, 10/22, S. 417 ff.
Im September 2023 tritt das neue Datenschutzgesetz in Kraft. Laut dem Autor müssen sich nun auch Anwälte mit den neuen Anforderungen auseinandersetzen, die nicht auf Datenschutzrecht spezialisiert sind. Der Artikel bietet Leitlinien für die Umsetzung und Denkanstösse für die Anwendung des neuen Datenschutzgesetzes.
Politische Rechte
Ein Mittel zur Hebung der «Proporzmoral»: Die Negativstimme. Andreas Kley, ZBl 11/2022, S. 573 f.
Der Autor zitiert eingangs den Schweizer Staatsrechtler Carl Hilty, einen Gegner der Proporzwahl, weil diese den «schlechtesten wie den besten Bürgern» erlaube, eine Liste aufzustellen, wenn sie die dazu nötige Anzahl von Stimmfähigen aufbringen.Gut und Böse seien im Proporzstaat keine berechtigten Begriffe mehr, es sei vielmehr «alles gleichbedeutend, was überhaupt ist».
Der Autor schliesst sich dieser Sichtweise an und scheint mit der Idee zu sympathisieren, negativ auffallende Kandidaten mit Minus- oder Negativstimmen zu «bestrafen». Diese würden den «unpersönlichen Effekt des gleichmachenden Proporzwahlrechts korrigieren und unverantwortlich und schnell agierende Partei- und Partikularinteressenpolitiker zur Verantwortung ziehen. Denn im aktuellen Proporzwahlrecht verfügten die verantwortungslosen Politiker über einen Schutz: Sie könnten nur schwer sanktioniert werden, da sie die Liste, das heisst ihre Partei, abschirmt. Die Negativstimmen-Idee der ehemaligen Bundeskanzlerin Annemarie Huber-Hotz könnte Fortschritte hin zu einer «Proporzmoral» bringen, so der Autor.
Kollegialprinzip und Online-Wahlhilfen. Micha Herzog, Damian Wyss, Sui generis vom 13.10.2022, S. 153 ff.
Bei den Berner Regierungsratswahlen im März 2022 weigerten sich die bisherigen Regierungsratsmitglieder, den Fragebogen der Internet-Wahlhilfe «Smartvote» auszufüllen. Die Autoren setzen sich mit ihrem Argument auseinander, dass dadurch das Kollegialprinzip verletzt würde, und machen Vorschläge, wie das Ausfüllen von Wahlhilfen problemlos möglich wäre.
Übriges Verfassungsrecht
Reform der Richterwahlen im Bund: Abteilungsspezifische Wahl aufgrund von Fachkompetenz. Arthur Brunner, Regina Kiener, ZBl 10/2022, S. 513 f.
Ausgehend von der im November 2021 gescheiterten Justiz-Initiative werfen die Autoren die Frage auf, wie eine «Kleinreform» im Zusammenhang mit den Bundesrichterwahlen aussehen könnte. Dabei thematisieren sie die vielen Personalrochaden zwischen den Abteilungen des Bundesgerichts. Diese seien der Kernfunktion des Gerichts abträglich, den unteren Instanzen klare und kohärente Leitlinien zur Auslegung des Bundesrechts an die Hand zu geben. Grund für die Rochaden sei die Wahlpraxis der Vereinigten Bundesversammlung, bei der die Erfahrung auf den konkret zu bearbeitenden Rechtsgebieten keine Rolle spiele. Die Autoren sprechen sich dafür aus, Bundesrichterstellen mit klarem inhaltliche, Anforderungsprofil auszuschreiben. Das Fachwissen der Kandidaten würde im Selektionsprozess deutlich stärkeres Gewicht erhalten. Und die Betonung spezifischer Fachkenntnisse würde dazu führen, dass auch parteilose Kandidaten aus der «falschen» Partei Chancen auf die Wahl an das Bundesgericht hätten. Dabei räumen die Autoren ein, dass die «weltanschauliche und geschlechterspezifische Ausgewogenheit» der einzelnen Abteilungen in Einzelfällen nicht optimal gewährleistet sein könnte. Der Gewinn läge jedoch in der ausgewiesenen fachspezifischen Kompetenz der Gewählten und einer Beständigkeit der personellen Zusammensetzung der Abteilungen. Dies würde die Kohärenz der Rechtsprechung und die massstabgebende Funktion des Bundesgerichts stärken.
Wenn das publizierte Urteil nicht dem gefällten Entscheid entspricht. Probleme bei der Entscheidfindung im Kollegialgericht. Justice – Justiz – Giustizia, 3/2022
Im Beitrag wird aufgrund von Vorkommnissen im Kanton Graubünden (plädoyer 3/20) das Verfahren der Entscheidfindung im Kollegialgericht beleuchtet, und es werden Anregungen für Optimierungen aufgezeigt.
Verwaltungsrecht
Allgemeines Verwaltungsrecht
Ausnahmen und Relativierungen des rechtlichen Gehörs. René Wiederkehr, Christian Meyer Schranken, AJP 10/2022, S. 1092 ff.
Der Inhalt und der Geltungsbereich der Gehörsrechte werden weitgehend durch Schranken, Ausnahmen und Relativierungen geprägt, ohne dass diese besondere Struktur der Verfahrensrechte in den massgebenden Rechtsgrundlagen durchgängig zum Ausdruck kommt. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, erscheinen gemäss den Autoren automatisierte Verwaltungsverfahren punkto prozedurale Fairness weniger problematisch als vorerst angenommen.
Baurecht
Verfahrensausschluss wegen mangelhafter Vertragserfüllung. Ein Beitrag zu Art. 44 Abs. 1 lit. h BöB. Lena Götzinger, Baurecht 5/2022, S. 237 ff.
Mit dem revidierten Beschaffungsrecht wurde ein neuer Ausschlussgrund eingeführt, demgemäss Anbieter, die in der Vergangenheit einen öffentlichen Auftrag mangelhaft erfüllt haben, von künftigen Vergaben ausgeschlossen werden können (Art. 44 Abs. 1 lit. h BöB/IVöB). Gleichwohl kann nicht jede vergangene unzureichende Leistung eines Anbieters dessen Ausschluss rechtfertigen. Vergabestellen müssen objektiv nachweisen, dass aufgrund der früheren schweren oder wiederholten Verletzung einer wesentlichen Pflicht zu erwarten ist, dass die Anbieterin den nun zu vergebenden Auftrag nicht ordnungsgemäss ausführen wird. Der Beitrag erörtert, welche Schranken Vergabestellen bei einem Ausschluss gemäss Art. 44 Abs. 1 lit. h BöB/IVöB zu beachten haben.
Umweltrecht
Die Nutzung des Alpenraums zur nachhaltigen Stromerzeugung. Markus Schreiber, ZBl 110/2022, S. 515 ff.
Die Stromerzeugung aus erneuerbaren Energieträgern in den Alpen weise noch grosse Potenziale auf, insbesondere in Sachen Winterstromproduktion, schreibt der Autor. Gleichzeitig anerkennt er die grossen Anforderungen an den Landschafts- und Naturschutz. In seinem Beitrag untersucht er die rechtlichen Voraussetzungen der alpinen Stromerzeugung mit Wind und Sonne. Dabei fällt ihm auf, dass der Rechtsrahmen für Windenergie und Fotovoltaikanlagen unterschiedlich ist: So profitiert die Windenergie von Schwellenwerten für das nationale Interesse und vom Konzept Windenergie als Planungshilfe. Zudem sei sie gemäss Entwürfen vom neu geplanten Konzept für erneuerbare Energien erfasst und würde von Verfahrenserleichterungen profitieren. Auf die Fotovoltaik treffe dies alles nicht zu. «Es wäre insbesondere erstaunlich, wenn die Fotovoltaik, die den grössten Anteil am Ausbau erneuerbarer Energien stellen soll, nicht vom neuen Konzept für erneuerbare Energien erfasst würde», so der Autor.
Übriges Verwaltungsrecht
Der Staat als Anbieter neuer Mobilitätsformen? Patrice Zumsteg, Sui generis vom 26.9.2022, S. 143 ff.
Am Beispiel der Publibike AG, die vor dem Verkauf eine vollständige Tochterfirma der Schweizerischen Post war, präsentiert der Autor einen Vorschlag, wie privatwirtschaftliche Staatstätigkeit grundrechtlich erfasst und so einer rechtsstaatlichen Überprüfung zugeführt werden könnte, um private Unternehmen vor staatlicher Konkurrenz zu schützen.
Sozialversicherungsrecht
AHV, IV, EL und ALV
Neuerungen bei medizinischen Begutachtungen in den Sozialversicherungen. Ralf Kocher, Soziale Sicherheit CHSS vom 3.6.2022
Das Bundesamt für Sozialversicherungen stellt in der CHSS die Weiterentwicklung der IV nach zwei Leitentscheiden des Bundesgerichts vor (BGE 137 V 210 und 139 V 349). Trotz dieser Entscheide blieben wichtige Fragen zu den Gutachten für die Praxis offen.
Der Bundesrat hat in seiner Botschaft weitere Neuerungen der IV eingeführt, welchen das Parlament im Verfahrensbereich gefolgt ist (WEIV; BBl 2017 2535). Zentral sind der Anstoss des medizinischen Abklärungsverfahrens, fachliche Anforderungen an Sachverständige, Partizipation der Versicherten, erhöhte Transparenz bei der Auswahl, Tonaufnahme der Interviews bei der Abklärung der Ansprüche auf Leistungen der IV und die Qualität der Gutachten, welche durch die neue ausserparlamentarische Kommission gesichert wird. Der Beitrag weckt Hoffnungen auf Erleichterung für IV-Praktiker und die Versicherten.
Trägerübergreifende medizinische Begutachtung im Sozialversicherungsverfahren. Roger Peter, Jusletter vom 17.10.2022
Im sozialversicherungsrechtlichen Verwaltungsverfahren müssen die IV-Stellen und die UVG-Versicherer den Sachverhalt von Amtes wegen abklären. Der Autor geht der Frage nach, ob sie dies jeweils alleine in ihrem gesetzlich vorgeschriebenen Verfahren tun müssen. Oder ob sie die versicherte Person – auch gegen deren Willen – gemeinsam einer trägerübergreifenden medizinischen Begutachtung unterziehen dürfen. Fazit des Autors: Eine solche Anordnung stelle einen Eingriff ins verfassungsrechtlich geschützte Selbstbestimmungsrecht der versicherten Person und damit in deren persönliche Freiheit beziehungsweise den «Persönlichkeitsschutz des Verfassungsrechts» dar. Ein Grundrechtseingriff dieser Art beruhe weder auf einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage, noch entspreche er einem überwiegenden öffentlichen Interesse. Letzten Endes sei er auch nicht verhältnismässig.
Strafrecht
Allgemeiner Teil
Organisation und Steuerung des Freiheitsentzugs in der Schweiz: Aktuelle Herausforderungen und Lösungsansätze in einer föderalen Zuständigkeitsordnung. Benjamin F. Brägger, NKrim 2/22, S. 48 ff.
Der Autor gibt einen vertieften Einblick in die komplexen Organisations- und Kollaborationsformen im Schweizerischen Freiheitsenzug. Die interkantonale Zusammenarbeit sei zu kompliziert organisiert, deshalb könne kaum eine strategisch-politische Steuerung vorgenommen werden, so die Grundaussage. Der Autor stellt vier Organisationsmodelle vor und zeigt deren Vor- und Nachteile auf.
Besonderer Teil
Bankseitige Kontosperrung als Nötigung? Thomas Jutzi, Richard Lötscher, SJZ 19/2022, S. 907 ff.
Die Autoren legen dar, wann bankseitige Kontosperren, die sich zum Beispiel auf interne Richtlinien einer Bank stützen, eine Nötigung im Sinne von Artikel 181 StGB darstellen. Die bisherigen (kantonalen) Urteile dazu überraschen zwar nicht im Ergebnis, sind aber inhaltlich vage und stehen nicht vollkommen kohärent zueinander.
Insbesondere bleibt die Frage des nötigenden Zwangsmittels offen. Die Kernfrage dabei ist, was als «rein zivilrechtliche Angelegenheit» zu gelten hat. Die vertiefte Analyse dieser Frage ergibt, dass – anders als in den kantonalen Entscheiden festgehalten – bankseitige Kontosperren zumindest theoretisch als nötigendes Zwangsmittel infrage kommen können.
Handels- und Wirtschaftsrecht
Gesellschaftsrecht
Neues Aktienrecht als Inspiration für den Gläubigerschutz bei Umstrukturierungen. Damian A. Fischer, SZW 5/22, S. 440 ff.
Der Autor geht der Frage nach, welches das angemessene Niveau des Gläubigerschutzes bei Firmenumstrukturierungen ist. Er wirft ein kritisches Licht auf die aktuellen Gläubigerschutzbestimmungen im Fusionsgesetz und schlägt – inspiriert von Bestimmungen des neuen Aktienrechts – eine Teilreform des Fusionsgesetzes vor.
Verfahrens- und Vollstreckungsrecht
Zivilprozessrecht
Die Ausnahme vom Dispositionsgrundsatz im Zivilprozess. Beat Brändli, SJZ 21/2022, S. 1017 ff.
Im Zivilprozess gilt grundsätzlich die Dispositionsmaxime. Die Ausnahme dazu, der Offizialgrundsatz, kommt nur selten zur Anwendung. Der vorliegende Beitrag beleuchtet diesen zivilprozessualen Ausnahmefall, indem er insbesondere darlegt, was er für das Zivilverfahren bedeutet und wann und wie er beachtet werden muss. Besondere Bedeutung kommt in diesem Kontext den Interessen Dritter und der Öffentlichkeit zu. Diese sind im Einzelfall zu identifizieren und bei der Entscheidfindung mitzuberücksichtigen. Direkt betroffenen Dritten kommt prinzipiell die Stellung von streitgenössischen Nebenintervenienten zu.
Strafprozessrecht
Der aussergewöhnliche Todesfall. Rechtsgrundlagen, Praxis und Zahlen. Nora Markwalder, Dennis Thaa, Forum poenale 5/22, S. 371 ff.
Bei sogenannten aussergewöhnlichen Todesfällen ist ein natürlicher Tod zweifelhaft oder nicht gegeben. Es müssen somit nach Artikel 253 Absatz 1 StPO weitere Abklärungen getätigt werden, um herauszufinden, ob der Todesfall allenfalls auf strafrechtlich relevantes Verhalten zurückzuführen ist – in Form einer Legalinspektion der Leiche. In der Schweiz liegt die Durchführung einer solchen Legalinspektion je nach Kanton entweder in der Kompetenz von Amts- oder Fachärzten für Rechtsmedizin. Im Artikel untersuchen die Autoren einerseits die Praxis der deutschsprachigen Kantone bei der Legalinspektion und zeigen anderseits die Anzahl und die Entwicklungen der aussergewöhnlichen Todesfälle in diesen Kantonen in den letzten zehn Jahren auf.
Europarecht
Übriges Europarecht
Reform des Schengen-Systems. Evamaria Hunziker, Sui generis vom 5.9.2022.
Die Autorin untersucht die Vorschläge der EU-Kommission, die darauf abzielen, den Schengen-Raum im Hinblick auf Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung widerstandsfähiger zu machen und die Notwendigkeit einer Wiedereinführung von Personenkontrollen an den Binnengrenzen zu vermindern. Dabei stellt sie fest, dass die Vorschläge auch die Rechtsposition von Schutzsuchenden in der EU schwächen und gewisse bislang unionsrechtswidrige Praktiken der Mitgliedstaaten legalisieren würden.