Verfassungsrecht
Grundrechte
Grundrechtsschutz im schweizerischen Justizvollzug. Reformvorschläge zur Stärkung der Grundrechte der Inhaftierten. Benjamin F. Brägger, Jusletter vom 6.2.2023
Inhaftierte werden in den Kantonen unterschiedlich behandelt. Es fehlt an einer Harmonisierung des Grundrechtsschutzes im Freiheitsentzug. Der Autor fordert verschiedene Massnahmen zur Vereinheitlichung des Rechtsstandards, etwa ein zentrales Straf- und Massnahmengericht in kleinen Kantonen.
Politische Rechte
Das Bündner Wahlsystem für den Grossen Rat: In fast 100 Jahren zum Proporz. Christian Rathgeb, Matthias Lanz, ZBl 2/2023, 59 ff.
Acht Mal lehnte die Stimmbevölkerung des Kantons Graubünden die Einführung des Verhältniswahlrechts für den Grossen Rat ab. Zuletzt war Graubünden der einzige Kanton neben Appenzell Innerrhoden mit einem reinen Mehrheitswahlverfahren für das kantonale Parlament. 2021 sprachen sich die Stimmberechtigten nach fast 100 Jahren und einer Intervention des Bundesgerichts deutlich für die Verhältniswahl aus. Der Beitrag thematisiert den Stellenwert des besagten Urteils des Bundesgerichts von 2019 und geht der Frage nach, welche Erkenntnisse aus der ersten Grossratswahl unter dem neuen System im Mai 2022 gezogen werden können.
Übriges Verfassungsrecht
Verfassungsmässigkeit von Bundesgesetzen: Macht-frage im gesetzgeberischen Alltag. Dominik Elser, Unser Recht vom 28.2.2023
Der Beitrag greift aktuelle Beispiele der Gesetzgebung auf, bei denen die Verfassungsmässigkeit «zumindest bezweifelt» wurde. Unter anderem nennt er die «Solaroffensive» im Energiegesetz mit einer pauschalen Interessenabwägung zulasten des Umweltschutzes, ohne Planung und Abwägung im Einzelfall. Weiteres Beispiel: Die Motion des Obwaldner Ständerats Erich Ettlin (Mitte), die allgemeinverbindliche Gesamtarbeitsverträge kantonalen Mindestlöhnen vorgehen lassen will. Im Beitrag wird die Kritik des Bundesrates aufgegriffen, wonach die Motion die verfassungsrechtliche Kompetenz der Kantone, sozialpolitisch tätig zu werden, beschneiden will.
Verwaltungsrecht
Baurecht
Die bundesgerichtliche Rechtsprechung zu suspensiv erteilten Baubewilligungen. Alexander Rey, David Hofstetter, Baurecht 2023, S. 5 ff.
Die Rechtsprechung des Bundesgerichts unterscheidet bei unter Auflagen und Bedingungen erteilten Baubewilligungen zwischen Teilbaubewilligungen und suspensiv bedingt erteilten Baubewilligungen. Letztere qualifiziert das Bundesgericht als Zwischenentscheide, die nur unter eingeschränkten Voraussetzungen angefochten werden können. Die Autoren zeigen die mit dieser Praxis einhergehenden praktischen Fragestellungen und Probleme auf.
Umweltrecht
Frontalangriff auf das Umweltrecht: die «Energiewende» als Vorwand. Alain Griffel, Recht 1/2023, S. 52 ff.
Der Autor kritisiert das Parlament, welches die aktuelle Angst vor einer Strommangellage nutzt, um mit einem «blindwütigen Dreinschlagen» das ungeliebte «Verhinderer-Umweltrecht» zurückzubauen. Er forderte eine nationale Planung und Abstimmung der grösseren Energieanlage, was eine entsprechende Bundeskompetenz voraussetzen würde. Eine solche besteht heute aber nicht.
Übriges Verwaltungsrecht
Einbezug der Wissenschaft in Krisenzeiten. Eine rechtliche Auslegeordnung. Bernhard Rütsche, Marc M. Winistörfer, AJP 2/2023, S. 165 ff.
Während Krisenzeiten – etwa wegen einer Epidemie, Energiemangellage oder wegen Finanzmarktschwierigkeiten – sind Politik und Verwaltung auf unabhängige und fähige Experten angewiesen. Die Autoren evaluieren die Rechtslage in den einzelnen Verwaltungsbereichen von Energieversorgung, Gesundheitswesen über Finanzmarktaufsicht bis zu Elementarereignissen. Gesetzgeberisch sehen sie Handlungsbedarf für eine bessere Legitimation solcher Expertengremien.
Privatrecht
Familienrecht
Vereinheitlichung der familienrechtlichen Unterhaltsberechnungspraxis und die Anspruchsgrundlagen des Unterhaltsanspruchs. Stéphanie Follpracht, SJZ 4/2023, S. 224 ff.
Das Bundesgericht hat die Rechtsprechung zum familienrechtlichen Unterhalt in mehreren Leitentscheiden erheblich modifiziert. Die Autorin nimmt das Urteil BGer 5A_850/2020 vom 4. Juli 2022 zum Anlass, um die Vereinheitlichung der familienrechtlichen Unterhaltsberechnungspraxis zu würdigen.
Auswirkungen des neuen Erbrechts auf das Familienrecht: Handlungs- und Beratungsbedarf in güter- und scheidungsrechtlicher Hinsicht. Sabine Herzog, Nina Mattmüller, Fampra.ch 1/2023, S. 91 ff.
Die Autorinnen geben einen Überblick zu den Anfang 2023 in Kraft getretenen Bestimmungen des Erbrechts, die sich auf das Güter- und Scheidungsrecht auswirken. Sie zeigen auf, wo Anpassungsbedarf besteht.
Erbrecht
Das rechtssichere Vorgehen von Erbes-Erben bei Bestehen einer «Haupt-» und einer «Untererbengemeinschaft». Martin Eggel, Fabrizio Andrea Liechti, Successio 1/2023, S. 4 ff.
Erbengemeinschaften können kompliziert ausgestaltet sein. Dies ist vor allem der Fall, wenn ein Erbe vor der Verteilung der Erbschaft verstirbt. Dann spricht man von einer Haupt- und Untererbengemeinschaft. Der Beitrag untersucht diese Eigentumsverhältnisse. Die Autoren erklären, wann die Einsetzung eines Erbenvertreters einer betroffenen Erbengemeinschaft notwendig ist und wann nicht.
Obligationenrecht
Die Vertraulichkeitsvereinbarung nach schweizerischem Recht. David Ballmer, SJZ 2/2023, S. 67 ff.
Vertraulichkeitsabreden sind häufig, aber kaum wissenschaftlich aufgearbeitet. Der Autor gibt hier Gegensteuer. Er geht unter anderem auf Grundsätze, Rechtsfolgen einer Verletzung und verbreitete Spezialabreden ein. Unabdingbar sei etwa ein ausserordentliches Kündigungsrecht aus wichtigen Gründen.
Haftpflichtrecht
Haftung und Ausschluss der Haftung des Eisenbahnunternehmens für das charakteristische Risiko. Bundesgerichtliche Wertungslinie zur Selbstverantwortung der Verkehrsteilnehmer. Volker Pribnow, SJZ 2/2023, S. 99 ff.
Das Bundesgericht ist bei der Zurechnung des «charakteristischen Risikos» von Eisenbahnfirmen grosszügig. Bei der Durchbrechung der Haftung wegen einer Eigenverantwortung des Geschädigten vermisst der Autor klare Eckpunkte. Der Beitrag liefert eine hilfreiche Aufarbeitung der neueren Gerichtsfälle.
Mietrecht
Die mietrechtliche Ausweisung. Lukas Frese, SJZ 3/2023, S. 165 ff.
Die Ausweisung gilt als Paradebeispiel für den Rechtsschutz in klaren Fällen. In der Praxis bestehen für Vermieter diverse prozessuale, materiell-rechtliche und tatsächliche Stolpersteine. Mieter haben es aus dogmatischer Perspektive einfacher: Sind sie mit dem Verfahren konfrontiert, kann sich ihre rechtliche Ausgangslage eigentlich nur noch verbessern. Der Beitrag zeigt Stolpersteine auf und macht Lösungsvorschläge.
Arbeitsrecht
Le droit du travail face à l’exceptionnel. Aurélien Witzig, SJZ 5/2023, S. 243 ff.
In der Coronapandemie wurde eine Reihe von arbeitsrechtlichen Fragen zu den Rechten und Pflichten der Arbeitgeber und der Angestellten aufgeworfen. Der Autor stellt Instrumente vor, die das Arbeitsrecht zur Bewältigung ausserordentlicher Situationen bietet, und analysiert die in der Rechtslehre umstrittenen Konzepte.
Rechtsfragen grenzüberschreitender Arbeitsverhältnisse. Leander D. Loacker, ARV 4/2022, S. 329 ff.
Die Bedeutung der europäischen Verordnung über die gerichtliche Zuständigkeit und Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (EuGVVO) wird im Arbeitsrecht unterschätzt. Der Autor weist darauf hin, dass in der Schweiz 50 000 multinationale Unternehmen angesiedelt sind und 2022 rund 381 000 Grenzgänger arbeiteten. Damit gewinnen die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in Luxemburg an Bedeutung, wo es die EuGVVO auszulegen gilt. Der Autor zeigt interessante Fälle auf, etwa wie der EuGH über die Geltung von Mindestlohnbestimmungen für rumänische Fernfahrer in Italien entschied.
Zum Umfang der Herausgabepflicht des Arbeitnehmers. Artikel 321b OR als Grundlage für die Herausgabe von Schmiergeldzahlungen, Kickbacks und Einkünften aus vertragswidrig ausgeübten Nebentätigkeiten. Andrea Neuhaus, Philipp Lengacher, AJP 2/2023, S. 127 ff.
Die Autoren grenzen ab, ob Angestellte dem Arbeitgeber Trinkgelder, Schmiergeldzahlungen oder Kickbacks herausgeben müssen. Die Lehre nennt das Kriterium des «Zuwendungswillens». Demnach soll der Betrieb nur erhalten, was Dritte ihm zuwenden wollten. Die Autoren setzen hingegen auf eine Herausgabepflicht, die sich an der Treuepflicht der Angestellten orientiert. So seien Kickbacks oder Schmiergelder herauszugeben, da sie unter Verletzung der Treuepflicht erlangt wurden.
Besprechung des Entscheids des Obergerichts Zug, Z1 2021 14 vom 12. Mai 2022. Nicolas Facincani, Louis Delfosse, Stephanie Villiger, AJP 2/2023, S. 231 ff.
Empfehlenswerte Besprechung eines spannenden arbeitsrechtlichen Falls. Ein Angestellter hatte den Betrieb beim Bewerbungsverfahren mit falschen Informationen getäuscht, unter anderem mit gefälschten Bewerbungsunterlagen. Die Autoren gehen auf die Rechtsfolgen ein – von einer fristlosen Kündigung bis Vertragsungültigkeit ab Vertragsschluss.
Übriges Privatrecht
Wandel und Konstanten im schweizerischen Medienrecht. Christoph Born, Andreas Blattmann, Simon Canonica, AJP 2/2023, S. 139 ff.
Die Autoren ziehen Bilanz über Entwicklungen der letzten 20 Jahre im Medienrecht. Gesetzgeberisch habe sich seit dem Inkrafttreten des Öffentlichkeitsgesetzes 2006 kein grosser Wurf ergeben. Auch im Bereich der Rechtsprechung seien in den letzten Jahren grundsätzliche Neuerungen ausgeblieben. Demgegenüber hätten Gerichte den Raum für Präzisierungen genutzt. Der Beitrag analysiert wichtige Entscheide in den medienrechtlich relevanten Rechtsbereichen vom Datenschutz- bis Urheberrecht.
Handels- und Wirtschaftsrecht
Gesellschaftsrecht
Zulässigkeit von Vergleichszahlungen der Aktiengesellschaft an ihre Aktionäre. Eine aktienrechtliche Analyse unter Berücksichtigung von Artikel 717 Absätze 1 und 2 sowie Artikel 678 Absatz 2 OR. Dario Galli, SJZ 4/2023, S. 183 ff.
Der Autor untersucht, unter welchen Voraussetzungen eine Gesellschaft mit einzelnen Aktionären einen Vergleich abschliessen darf. Der Autor erachtet dies als zulässig, wenn die Zahlung im Interesse der Firma ist, andere Aktionäre gleich behandelt und keine verdeckte Gewinnausschüttung darstellt.
Verfahrens- und Vollstreckungsrecht
Öffentliches Verfahrens- und Prozessrecht
16 Jahre Bundesverwaltungsgericht. Zeit zur Beseitigung von Kinderkrankheiten. Benjamin Schindler, ZBl 1/23, S. 1 f.
Der Autor zieht eine Zwischenbilanz über 16 Jahre Bundesverwaltungsgericht. Die Schaffung des Gerichts bezeichnet er als «Meilenstein der Justizreform», die Grundidee der Vereinheitlichung und Vereinfachung sei in organisatorischer Hinsicht konsequent verwirklicht worden. Weniger konsequent sei der Gesetzgeber beim Verfahrensrecht gewesen: Die Verfahrensvorschriften, die das Gericht anwenden muss, seien «verzettelt und unübersichtlich». Exemplarisch dafür stünden die Kognitionsvorschriften. Die Kognitionslandschaft sei inzwischen so unübersichtlich, dass selbst das Bundesverwaltungsgericht nicht immer zu wissen scheine, was nun gilt. Ein weiterer Kritikpunkt: Die Wahlzuständigkeit der Bundesversammlung habe bewirkt, dass die Parteizugehörigkeit der Bundesverwaltungsrichter zum primären Auswahlkriterium geworden sei. In den Asylabteilungen seien manche Parteien übervertreten, was besonders problematisch sei, sei dieser Rechtsbereich doch mehr als andere parteipolitisch gefärbt. Der Autor plädiert dafür, die Schaffung eines eigenen Bundesasylgerichts zu prüfen.
Strafprozessrecht
Präventivhaft nach der StPO-Reform. Wolfgang Wohlers, Forum poenale 1/23, S. 45 ff.
Die Bestimmungen zur Präventivhaft stellen dem Autor zufolge einen «Fremdkörper innerhalb der StPO» dar. Bei der Haft wegen Wiederholungs- und Ausführungsgefahr gehe es schliesslich nicht um Repression, also die Reaktion auf bereits begangene Straftaten, sondern um die Verhinderung künftiger Straftaten, also um Gefahrenabwehr. Das Bundesgericht hat die Voraussetzungen für die Präventivhaft in den Jahren nach dem Inkrafttreten der StPO 2011 tiefgreifend modifiziert. Und im Rahmen der aktuellen Reform der StPO hat der Gesetzgeber die entsprechenden Normen neu formuliert. In seinem Beitrag erörtert der Autor, unter welchen Voraussetzungen Präventivhaft unter Geltung des neuen Rechts angeordnet werden kann und wo es Abweichungen zur bisherigen Praxis gibt.
Problematiken des Einvernahmeprotokolls. Die audiovisuelle Aufzeichnung als denkbare Alternative? Simon Kottmann, ZStrR 1/2023, S. 114 ff.
Der Autor bezeichnet den Personalbeweis als eines der wichtigsten Beweismittel im Strafverfahren – gleichzeitig aber auch als das «problematischste, weil unzuverlässigste». Eingebracht werde der Personalbeweis in der Regel durch schriftliche Einvernahmeprotokolle. Ein Problem, so der Autor: «Es ist allgemein bekannt, dass der Herstellungsvorgang dieser Schriftprotokolle einer Reihe von Faktoren unterliegt, die zu einer mangelhaften Dokumentation des Sinngehalts der Aussagen führen.» Bild- oder Tonaufnahmen würden in Strafverfahren «die absolute Ausnahme» darstellen, wie eine Umfrage bei allen Staatsanwaltschaften der Schweiz ergeben habe. Mindestens 95 Prozent der Befragungen fänden ohne audiovisuelle Unterstützung statt. Der Autor ruft im Folgenden die Defizite des Schriftprotokolls in Erinnerung und geht der Frage nach, ob der vermehrte Einsatz audiovisueller Einvernahmen eine valable Alternative darstellen kann.