Verfassungsrecht

Die Bundesstaatsgründung: ein (r)evolutionäres Wagnis. Giovanni Biaggini, ZBl 9/23, S. 457 f.

Mit der Umwandlung des vertraglichen Bundes der 22 souveränen Kantone (1815) in einen verfassungsrechtlich fundierten Bund (1848) ging die Eidgenossenschaft dem Autor zufolge in mehrfacher Hinsicht ein Wagnis ein. Was eine Bundesverfassung leisten muss und kann – davon hatte man damals noch kaum klare Vorstellungen.

Bis heute erweise sich die Bundesstaatlichkeit «als das Sorgenkind unter den verfassungsrechtlichen Strukturprinzipien». Gefahren für die kantonale Eigenständigkeit lauern dem Autor zufolge nicht nur in der politischen Praxis und der Rechtsprechung, sondern auch in der Rechtswissenschaft.

Klimaschutz vor Schweizer Gerichten. Mirina Grosz, Schweizerische Zeitschrift für internationales und europäisches Recht 3/2023, S. 351 ff.

Die Autorin legt den Fokus auf Konstellationen, in welchen die Parteien nicht nur für ihre individuellen Rechtsgüter, sondern auch für kollektive Interessen im Zusammenhang mit dem Klimawandel Rechtsschutz suchen. Als Beispiel erwähnt sie die Straf­befehle nach Klima­protesten, bei denen es den Betroffenen darum geht, kollektive Interessen zu verteidigen. Ein weiteres Beispiel ist die Klage der Klimaseniorinnen vor dem Euro­päischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strass­burg.  

Verwaltungsrecht

Baurecht

Energiewende und Ver­sorgungssicherheit: Wie ­weiter mit dem Bau von Energie­anlagen und der ­Umwelt? Arnold Marti, URP 3/2023, S. 249 ff.

Der Autor kritisiert fundiert die gegenwärtige Hyperaktivität des Bundesparlaments in Sachen Energieerzeugung im Inland (insbesondere «Lex Alpinsolar», «Lex Windexpress» und weitere Notmassnahmen) und deren rechtliche Folgen. Mit den neuen Erlassen würden auf bedenkliche Weise allgemeine materielle und formelle Umweltstandards geschwächt oder ausgeschaltet.
 
La consécration légale de ­l’infrastructure écologique à l’aune des principes de ­conservation de la ­biodiversité. Valérie Dupont, Thierry Largey, URP 4/2023, S. 343 ff.

Obwohl sie aufgrund internationaler Verpflichtungen dazu gehalten wäre, hat die Schweiz noch immer kein repräsentatives und miteinander verbundenes Netz von Schutzgebieten festgelegt. Die Autoren legen dar, dass der aktuelle Rechtsrahmen auf Bundesebene zwar die notwendigen rechtlichen Instrumente enthält, diese aber nicht für den Schutz eines dynamischen natürlichen Systems wie der ökologischen Infrastruktur konzipiert sind. Das Problem könnte dadurch gelöst werden, dass das Konzept der ökologischen Netzwerke im Natur- und Heimatschutzgesetz verankert wird.

Strassenverkehrslärm: ­Anspruch auf Wiedererwägung einer Lärmsanierungsverfügung (Kriens LU), Auszug und ­Anmerkung von Alain Griffel, URP 4/2023, S. 392 ff.

Urteilsauszug und Besprechung eines wegweisenden Bundesgerichtsurteils zum Anspruch auf Wiedererwägung von lärmrechtlichen Sanierungsentscheiden. Der Autor diskutiert die Auswirkungen dieses Entscheids, der in Fünferbesetzung gefällt wurde, jedoch nicht in die amtliche Sammlung aufgenommen werden soll.

Übriges Verwaltungsrecht

Planung und Nutzung des Untergrunds. Meinrad Huser, Baurecht 4/2023, S. 185 ff. 

Der Autor schildert, wie die vielfältigen Nutzungen im Untergrund geregelt werden. Er legt dar, dass Konflikte durch die Richtplanung und die Nutzungsplanung zu lösen sind. Dabei sind die oberflächennahen Räume durch die allgemeinen Nutzungsbestimmungen, die Räume im Untergrund punktuell durch Sachplanungen zu regeln. Gegebenenfalls ist auch eine Abgeltung des Mehrwerts im Sinne von Artikel 5 des Raumplanungsgesetzes vorzusehen.

Fahrradfahren auf Wander­wegen. Eine Tour durch den föderalen Normenwald. ­Kaspar Ehrenzeller, AJP 8/2023, S. 958 ff.

Das Strassenverkehrsgesetz erlaubt das Velofahren auf Wegen, die sich dafür «eignen» oder offensichtlich «dafür bestimmt sind». Wo keine ausdrückliche Erlaubnis oder kein Verbot signalisiert ist, lässt sich die Rechtslage mittels meist kantonalen Gesetzen, Verordnungen und Plänen ermitteln.

Sozialversicherungsrecht

AHV, IV, EL und ALV

Probleme bei der Bewertung der «invaliditätsfremden ­Faktoren» in medizinischen Gutachten. Jörg Jeger, SZS 4/2023, S. 167 ff.

In der IV-Rechtsprechung gilt der Mythos, dass sich sogenannte psychosoziale und soziokulturelle ­Belastungen identifizieren und quantifizieren lassen. Ist die Arbeitsfähigkeit aufgrund solcher Belastungen reduziert, darf dies für den Rentenanspruch nicht berücksichtigt werden. Die Medizin geht indessen seit den 70er-Jahren davon aus, dass es sich bei ­einer Krankheit um ein wechselseitiges Zusammenspiel von biologischen, psychischen und sozialen Faktoren handelt, die sich nicht voneinander trennen lassen.  

Strafrecht

Arglist beim Betrug: Bestimmt ohne Opfermitverantwortung und «Treu und Glauben». Jürg-Beat Ackermann, Stefan Maeder, Forum poenale 4/2023, S. 289 ff.

Der Betrug nach Artikel 146 StGB verlangt Arglist – also schon beim Grundtatbestand eine «qualifizierte und damit eingrenzende Tathandlung», wie die Autoren schreiben. Wie bei allen unbestimmten Rechtsbegriffen im Strafrecht habe eine Konkretisierung stattzufinden. Den Ver­fassern des Beitrags zufolge habe Arglist nichts mit Opfermitverantwortung, Treu und Glauben oder der Schadenhöhe zu tun – sondern einzig mit der Qualität der Täuschungshandlung mit Blick auf die Eigenschaften und Möglichkeiten der Zielperson.

Privatrecht

Sachenrecht

Der Eigentumsvorbehalt in Theorie und Praxis. Marion Sigg, BlSchK 4/2023, S. 188 ff.

Beim Erwerb einer Sache geht das Eigentum mit der Übergabe auf den Erwerber über. Will der Veräusserer die Sache dem Erwerber übergeben, bevor er den Kaufpreis zahlt, und dabei verhindern, dass das Eigentum übergeht, muss er einen Vorbehalt im Eigentumsvorbehaltsregister eintragen lassen. Die Autorin erläutert, welche Verträge eingetragen werden können sowie unter welchen Voraussetzungen, wo und bis wann der Eintrag erfolgen muss.

Obligationenrecht

Das unfertige Gebäude der AGB-Inhaltskontrolle im schweizerischen Recht.

Ernst A. Kramer, Recht 3/2023, S. 181 ff.

Vor über zehn Jahren wurde Artikel 8 UWG als Generalklausel zur AGB-Inhaltskontrolle eingeführt. Doch bis heute gibt es kein Bundesgerichtsurteil, das eine AGB-Klausel nach diesem Artikel für ungültig erklärt hat. Grund dafür ist unter anderem der Verzicht des Gesetzgebers auf einen Katalog konkreter Klauselverbote, wie es ihn in der EU gibt. Der Autor plädiert für eine grundlegende Gesetzesreform.

Sparverträge zugunsten Dritter unter besonderer Berück­sichtigung von Sparverträgen auf den Todesfall. Alfred Koller, AJP 7/2023, S. 793 ff.

Bei Bankkonten und anderen Sparverträgen zugunsten Dritter muss bei Schenkungen die Schriftform eingehalten werden, bei Verfügungen auf den Todesfall des Testaments. Der Autor zeigt die Rechtsgrundlagen auf und ordnet Leit­entscheide ein.

Retrozessionen und Ent­schädigungen durch Dritte. Die Drittvergütungsproblematik zwischen Aufsichts- und ­Zivilrecht. Thomas Jutzi, Quirin Meier, AJP 8/2023, S. 917 ff.

Vergütungen, die Banken und Vermögensverwalter von Dritten erhalten, stehen grundsätzlich den Kunden zu. Die Autoren leisten einen wertvollen Überblick über die Entwicklung der Rechtsprechung. Zudem ordnen sie diese im Verhältnis zum Finanzdienstleistungsgesetz ein, das 2020 in Kraft trat. Es bleibt dem Kunden überlassen, seine Ansprüche einzufordern.

Arbeitsrecht

Urlaub und Kündigung. Nina Rabaeu, ARV 2/2023, S. 111 ff.

Das Arbeitsrecht gewährt einen Urlaubsanspruch für die Betreuung eines Kindes in den ersten Wochen und Monaten. Diesen Anspruch hat neu auch der Vater. Zudem kann für die Betreuung eines kranken Kinds Urlaub beansprucht werden. Der Beitrag erläutert Konstellationen, in denen während des gesetzlich gewährten Urlaubs gekündigt wird.

Übriges Privatrecht

Jubiläum für «Grundsatzartikel Tiere». Peter V. Kunz, Recht 3/2023, S. 121 ff.

Vor zwanzig Jahren traten die «Grundsatzartikel Tiere» in Kraft. Damit wurden «Familientiere» eingeführt. Der ­Autor beleuchtet Vergangenheit und Gegenwart. Er plädiert bei der Auslegung von Tierrechtsnormen für eine Auslegung «in dubio pro animali».

Das Zugriffssystem im ­bäuerlichen Bodenrecht. Jürg Niklaus, Daniel Knébel, SJZ 14/2023, S. 727 ff.

Das Bundesgesetz über das bäuerliche Bodenrecht enthält privat- und öffentlichrechtliche Beschränkungen des Verkehrs mit landwirtschaftlichen Gewerben und Grundstücken. Die Autoren untersuchen die privatrechtlichen Bestimmungen und erläutern das darin enthaltene komplexe System von Zugriffsrechten.

Handels- und Wirtschaftsrecht

Immaterialgüterrecht

Immaterialgüterrechtlicher Schutz mit KI geschaffener Werke und Erfindungen. Wolfgang Straub, Jusletter vom 7.8.2023

Der Autor setzt sich mit der Frage auseinander, ob durch künstliche Intelligenz (KI) geschaffene Arbeitsergebnisse wie Bilder, Musik, sprachliche Texte, Quelltext von Computerprogrammen und so weiter urheber- und patentrechtlich schützbar sind. Mit KI hergestellte Ergebnisse würden zumindest indirekt und teilweise auf menschlichen Gestaltungsentscheidungen basieren, weshalb ein urheberrechtlicher Schutz – und auch eine Patentierung von Erfingungen mithilfe von KI – denkbar seien.

Bank- und Börsenrecht

Nachhaltigkeitsregulierung im Fondsbereich, Schlüssel­themen auf Instituts- und ­Produkteebene. Stephanie Walter, Dominique Meyer, AJP 7/2023

Die Autorinnen legen dar, dass die Schweizer Bekämpfung von Greenwashing den Regeln der EU hinterherhinkt. Der Bundesrat setze auf freiwillige Massnahmen der Banken. Fehlende Offenlegungspflichten der Banken würden es Anlegern verunmöglichen, verlässliche Entscheidungsgrundlagen beizuziehen.

Verfahrens- und Vollstreckungsrecht

Öffentliches Verfahrens- und Prozessrecht

Die Reorganisation des ­Bundesgerichts. Stephan Haag, ZBl 7/2023, S. 345 f.

Die im Beitrag kurz umrissenen Reorganisationen – wozu die Erhöhung der Zahl der Bundesrichter von 38 auf 40 gehört – führten zu mehreren Änderungen des Reglements für das Bundesgericht.  Die einst thematisierte Fehlbelastung ist damit laut Autor noch nicht behoben: «Nach wie vor beschäftigen das Bundesgericht zu viele Fälle ohne grössere Bedeutung für die Rechtseinheit und die Rechtsfortbildung.» Auch fehle es noch immer an einer umfassenden Zuständigkeit des Gerichts für Grundsatzfragen in allen Rechtsgebieten.

Ein letztes Bundesgerichts­urteil. Peter Uebersax, ZBl 8/2023, S. 401 f.

Vor mehr als drei Jahrzehnten stiess der Autor auf einen wissenschaftlichen Aufsatz aus Deutschland über die Verwendung der Versform bei Gerichtsurteilen. Ausgehend davon stellte er sich die Frage, ob es zulässig wäre, ein schweizerisches Bundesgerichtsurteil in Reimen zu verfassen. Aus Anlass seines altersbedingten Abschieds vom Bundesgericht hat der Autor nun ein Bundesgerichtsurteil in Reimen verfasst – in einem erfundenen Fall.

Das klingt dann so: «A. will ein neues Haus erstellen/Nachbar B. will ihm das vergällen/zuerst mit Einsprache dann mit Beschwerde/damit aus der Baute ja nichts werde.» Das Bundesgericht kommt zu den Erwägungen: «Die Beschwerde genügt den Regeln nicht/denn ihre Begründung ist zu schlicht/B. nennt keine rechtliche Norm/sagt nicht, das Haus sei nicht konform.» Auf die Beschwerde wird nicht eingetreten: «So steht’s im Gesetz, ist Praxis per se: Artikel zweiundvierzig BeGeGe.»  

Strafprozessrecht

Die StPO-Revision – eine ­verpasste Chance? Gian Ege, Sandra von der Stroom, SJZ 15/2023, S. 775 ff.

Gemäss Botschaft sollten mit der StPO-Revision praktisch bedeutsame Probleme behoben werden, ohne dass die rechtsanwendenden Behörden zusätzlich belastet und die Verfahren verzögert werden. Gleichzeitig sollten die Grundpfeiler der Strafprozessordnung unverändert bleiben. Die Autoren legen die Hintergründe der Revision dar und sie zeigen auf, weshalb lediglich eine «Revision light» zustande kam.

Die Strafbefehls-­Adhäsionsklage nach nStPO aus ­Geschädigtensicht. Claudia Schaumann, Legalis Brief, Fachdienst ­Strafrecht 8/2023, S. 1 ff.

Ab nächstem Jahr kann die Staatsanwaltschaft im Strafbefehl auch über streitige Zivilforderungen der Geschädigten entscheiden. Die Autorin zeigt die Anforderungen an das neue Verfahren auf, das wohl vor allem bei Vermögensdelikten zur Anwendung komme.  

Was ist der Beweiswert von DNA-Analyseergebnissen? 2. Teil: Probleme bei der ­Anwendung der grund­legenden Prinzipien der Befund­wertung. Alex Biedermann, Joëlle Vuille, ZStrR 3/2023, S. 261 ff.

Der erste Teil wurde in der letzten ZStrR-Ausgabe publiziert. Im vorliegenden zweiten Teil geht es darum, welche Schlüsse berechtigterweise gezogen werden können, wenn eine bestimmte Person mit einer DNA-Spur in Verbindung gebracht wird.  

Zivilprozessrecht

Die Revision der ZPO vom 17. März 2023. Daniel Staehelin, Florence von Mutzenbecher, SJZ 16-17/2023, S. 815 ff.

Die Autoren stellen in knapper und prägnanter Form sämtliche rund 80 Änderungen der ZPO dar, die voraussichtlich am 1. Januar 2025 in Kraft treten werden.

Schuldbetreibungs- und Konkursrecht

Die Betriebsfortführung im Konkursverfahren. Roger Abegg, BlSchK 3/2023, S. 126 ff.

Bei der Konkurseröffnung wird der Betrieb meist eingestellt. Das führt zu einem Wertverlust. Der Autor plädiert daher für eine Fortführung des Betriebs während des Konkursverfahrens und schlägt Kriterien für eine Fortführung vor.