Verfassungsrecht
Ein Fachbeirat für die Gerichtskommission?
Lorenz Langer, Justice – Justiz – Giustizia 1/2024
Den Vorschlag, bei Richterwahlen der Gerichtskommission der Vereinigten Bundesversammlung einen Fachbeirat zur Seite zu stellen, beurteilt der Autor mit Blick auf die primär republikanische und demokratische Legitimationsgrundlage des Bundesrichteramtes Schweiz kritisch. Denkbar sei ein Fachbeirat hingegen bei der Erstwahl von Richtern an die erstinstanzlichen Gerichte des Bundes.
Verwaltungsrecht
Ausländer- und Asylrecht
Der Anwendungsbereich des AIG und sein Verhältnis zu anderen Erlassen.
Nadja Zink, Recht 1/2024, S. 21 ff.
Der Beitrag untersucht die Interaktion des Bundesgesetzes über Ausländerinnen und Ausländer und über die Integration (AIG) mit anderen Bundesgesetzen und völkerrechtlichen Normen.
Übriges Verwaltungsrecht
Preismodelle für Arzneimittel im Lichte rechtsstaatlicher und krankenversicherungsrechtlicher Prinzipien.
Kerstin Noëlle Vokinger, Noah Rohner, Recht 1/2024, S. 1 ff.
Das Parlament diskutiert zurzeit über die Schaffung einer gesetzlichen Grundlage für die Anwendung von Preismodellen bei der Festsetzung von Arzneimittelpreisen, basierend auf einem Vorschlag des Bundesamts für Gesundheit. Im Beitrag wird dies ausführlich kritisiert. Preismodelle seien nicht mit den Grundprinzipien des Vergütungssystems vereinbar und könnten die Regelungsarchitektur der Preisfestsetzung weiter destabilisieren. Daher werden alternative Lösungsvorschläge vorgestellt.
Bundesverfassungswidrige Ausweitung sicherheitspolizeilicher Befugnisse des Bundes und ein Durcheinander im militärischen Polizeirecht.
Markus Mohler, Jusletter.ch vom 11.3.2024
Der Ersatz des Zollgesetzes durch ein Bundesgesetz (BAZG-VG-Entwurf) überträgt dem Bundesamt entgegen der Bundesverfassung weitreichende sicherheits- und kriminalpolizeiliche Befugnisse. Und das überarbeitete militärische Polizeirecht endete gemäss Autor in einem Durcheinander und ist missraten. Beide Gesetze verstossen gegen Artikel 57 Absatz 2 und Artikel 58 Absatz 2 der Verfassung.
Sozialversicherungsrecht
AHV, IV, EL und ALV
Neues aus dem Bundesgericht: Der Revisionsgrund als bestimmender Faktor einer Rentenrevision nach Artikel 17 ATSG.
Andreas Traub, SZS 1/2024, S. 35
Die Vorinstanz hatte einem Invaliden die IV-Vollrente weggenommen, weil er in der ärztlichen Untersuchung vorhandene Symptome «verstärkt dargeboten» (aggraviert) habe. Das Bundesgericht kritisierte dieses Vorgehen und hob den Entscheid auf (Urteil vom 13. April 2023, 8C_553/2021). Für den Autor des Beitrags ist das höchstinstanzliche Urteil Anlass für grundsätzliche Überlegungen zur Frage der Rechtsbeständigkeit einer einmal zugesprochenen IV-Rente. Sind die Voraussetzungen für eine Revision der IV-Rente erfüllt, muss immer auch die Korrelation von Sachverhaltsänderung und angepasstem Invaliditätsgrad gewahrt bleiben – beziehungsweise darf diese nicht in ihr Gegenteil verkehrt werden.
Strafrecht
Besonderer Teil
Sozialleistungsmissbrauch gemäss Artikel 148a StGB.
Wolfgang Wohlers, Forum poenale 1/2024, S. 28 ff.
Artikel 148a wurde im Zuge der Umsetzung der 2010 angenommenen Ausschaffungsinitiative ins Strafgesetzbuch aufgenommen und trat 2016 in Kraft. Er stellt laut Autor «nur einen von mehreren Straftatbeständen dar, mit denen auf den missbräuchlichen Bezug von Sozialleistungen reagiert werden kann.» Die Auslegung und Anwendung der Norm habe sich in der Praxis als «problematisch» erwiesen. Im Übrigen verhindere die Anwendung der Bestimmung zu den leichten Fällen «Exzesse», bei denen «auf Delikte mit eher bagatellartigem Charakter mit einer zwingenden Landesverweisung reagiert wird.»
Vergewaltigung und sexuelle Nötigung.
Neuerungen der Revision 2023.
Felix Bommer, ZStrR 1/2024, S. 58 ff.
Der Beitrag beleuchtet die wichtigsten Neuerungen in den Tatbeständen der Vergewaltigung (Artikel 190 nStGB) und der sexuellen Nötigung (Artikel 189 nStGB). Gemäss Autor beeinträchtigten politischer «Druck und Legiferierungsnotwendigkeiten innerhalb von Gremien, die dafür nur beschränkt geeignet» seien, die handwerkliche Qualität des neuen Rechts. Auszugehen sei nach der Ausweitung des Verbotsfelds von einer Zunahme von Verurteilungen.
Von der Strasse zum Strafrecht.
Catcalling als strafwürdiges Phänomen? Zur Strafbarkeit von Catcalling de lege lata und de lege ferenda.
Subiksha Thirumamany, Nora Markwalder, AJP 3/2024, S. 224 ff.
Catcalling steht für Nachpfeifen, Kuss- und Zischgeräusche, anstössige Bemerkungen, unerwünschte Anmache oder Beleidigungen. Schwere Fälle können unter den Tatbestand der Beschimpfung oder sexuellen Belästigung fallen. Die Autorinnen gehen auf die Tendenz zur Schaffung neuer Strafbestimmungen und die jeweiligen Vor- und Nachteile ein. Sie sehen keinen Bedarf für eine Verschärfung des Strafrechts.
Übriges Strafrecht
Grenzen des Strafrechts in Krisenzeiten.
Linda Bläsi, Forum poenale 1/2024, S. 48 ff.
Der Beitrag geht von einem vom Obergericht bestätigten Urteil des Zürcher Bezirksgerichts aus. Einem Zürcher Wirt wurde vorgeworfen, im Sommer 2020 Gäste bewirtet zu haben, obwohl das Restaurant hätte geschlossen bleiben müssen. Weil er zudem die Einhaltung der Abstandsregeln nicht sicherstellte, wurde er auf Grundlage von Bestimmungen in der Covid-19-Verordnung 2 schuldig gesprochen.
Der Beitrag bezeichnet das Urteil aus rechtsstaatlichen Gründen als «nicht haltbar». Eine «blankettausfüllende Norm» habe auf blosse Richtlinien und Empfehlungen von Exekutivbehörden verwiesen. Das laufe dem Bestimmtheitsgebot nulla poena sine lege certa zuwider.
Privatrecht
Familienrecht
Das Parlament revidiert das Familienrecht – was sagen Lehre und Praxis dazu?
Sabine Aeschlimann, Jonas Schweighauser, Diego Stoll, Fampra.ch 1/2024, S. 81 ff.
Im Parlament sind verschiedene Vorstösse hängig, die das Familienrecht revidieren wollen: alternierende Betreuung, Betreuungsunterhalt und Familienverfahrensrecht. Die Autoren erläutern die Neuerungen und plädieren dafür, dass sich die Lehre in die politische Diskussion einbringt.
Theoretische Obhutsüberlegungen und die gelebte Betreuungsrealität in Familien mit getrennten Eltern.
Heidi Stutz, Heidi Simoni, Fampra.ch 1/2024, S. 106 ff.
Die Politik fordert die alternierende Obhut für Kinder getrennter Eltern. Gestützt auf eine Internetbefragung von knapp 3000 Müttern und Vätern erläutern die Autorinnen ihre Erkenntnisse, wieweit egalitäre Betreuungslösungen angestrebt werden sollen.
Rechtsbegehren im Güterrecht.
Yannick Minnig, Fampra.ch 1/2024, S. 43 ff.
Das Rechtsbegehren ist das Herzstück jeder Rechtsschrift. Der Autor erklärt, weshalb güterrechtliche Rechtsbegehren derart bestimmt zu formulieren sind, dass sie im Falle der Gutheissung der Klage zum Entscheiddispositiv erhoben werden können. Falls das nicht möglich sei, müsse man eine unbezifferte Forderungsklage oder eine Stufenklage erheben.
Vertragsrecht
Zurechnung jeglichen IT-Versagens? Der Analogieschluss zu Artikel 101 Absatz 1 OR und die Grenzen zulässiger Rechtsfortbildung.
Christian Yacoubian, AJP 3/2024, S. 195 ff.
Der Autor untersucht Haftungsfragen, wenn Schuldner zur Vertragserfüllung Roboter oder Computerprogramme einsetzen und dabei einen Schaden verursachen. Er befürwortet eine analoge Anwendung der Regeln für Erfüllungsgehilfen auf elektronische Helfer. Allerdings darf der Schuldner nicht für jegliches technische Versagen verantwortbar gemacht werden. Ansonsten würde eine unerwünschte Gefährdungshaftung eingeführt.
Arbeitsrecht
Keine Lohnfortzahlung bei pandemiebedingter Betriebsschliessung, Bundesgerichtsentscheid vom 30.8.2023, 4A_53/2023.
Adrian von Kaenel, ARV 4/2023, S. 335
Das Bundesgericht erkannte, dass den Arbeitgeber keine Lohnfortzahlungspflicht treffe, wenn er seinen Betrieb infolge behördlicher Anordnungen schliessen musste (Massnahmen aufgrund Covid-19-Verordnung 2). Der Autor pflichtet dem Urteil bei. Richtungweisend sei die Abgrenzung des Betriebsrisikos, für das der Arbeitgeber einzustehen habe, von den Risiken, für die er nicht zuständig sei. Zu letzteren gehörten Risiken, die alle Arbeitgeber in gleicher Weise betreffen. In diesem Falle obliege es dem Staat, für einen angemessenen Ausgleich des finanziellen Nachteils zu sorgen, der Angestellten durch einen hoheitlichen Eingriff entstehe.
Verfahrens- und Vollstreckungsrecht
Strafprozessrecht
Les Conditions et le Fondement juridique des conclusions civiles en procédure pénale.
Alexis Overney, Have 4/2023, S. 336 ff.
Die Adhäsionsklage soll es dem Geschädigten ermöglichen, sich aktiv am Strafprozess zu beteiligen. Es bietet ihm insbesondere die Möglichkeit, Zivilklage zu erheben, wenn das strafrechtlich relevante Verhalten des Täters gleichzeitig die auf privatrechtlicher Ebene geschützten Interessen des Geschädigten verletzt. In diesem Beitrag werden die Voraussetzungen und die Rechtsgrundlage für die Zulassung solcher zivilrechtlichen Ansprüche im Strafprozess dargelegt. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichts.
Zur (Un-)Wissenschaftlichkeit der Individualisierungspraxis in forensisch-wissenschaftlichen Gutachten.
Alex Biedermann, Kyriakos N. Kotsoglou, Sui generis 2024, S. 11 ff.
Kategorische Zuordnungen von Spuren zu Gegenständen oder Personen in forensisch-wissenschaftlichen Gutachten erfreuen sich in der juristischen Praxis grosser Beliebtheit. Geläufige Beispiele für solche Individualisierungen finden sich in der DNA-Analyse, der vergleichenden Handschriftenuntersuchung und, neuerdings, dem Gesichtsvergleich. Individualisierungen in Sachverständigengutachten beruhen gemäss den Autoren jedoch auf wissenschaftlich unhaltbaren Annahmen. Sie werfen praktische, begriffliche und rechtstheoretische Probleme auf und sind in sämtlichen forensisch-wissenschaftlichen Fachbereichen praxisuntauglich.
Zivilprozessrecht
Die ZPO-Revisionsvorlage 2023.
Philipp Weber, ZBJV 159/2023, S. 377 ff.
Die revidierten Bestimmungen der Zivilprozessordung werden Anfang 2025 in Kraft treten. Der Autor erläutert die wichtigsten Änderungen und ordnet sie ein.
Gerichtsöffentlichkeit bei Videoverhandlungen im Zivilprozess.
Ein Beitrag zur Auslegung von Art. 141a Abs. 3 nZPO.
Florian Eichel, SJZ 5/2024, S. 211 ff.
Ab dem 1. Januar 2025 kennt die Zivilprozessordnung eine Grundlage für Verhandlungen per Videokonferenz. Der Beitrag vergleicht Bestimmungen der Schweiz, europäischer Staaten und des US-Bundesstaats Michigan und untersucht, wie die Gerichtsöffentlichkeit bei Videoverhandlungen gewahrt werden kann. Eine Lösung wäre eine «elektronische Saalöffentlichkeit», bei der das Publikum die Verhandlung als Videostream in einem physischen Saal mit vom Gericht bereitgestellten Geräten verfolgt – was auch bei physisch geführten Prozessen denkbar wäre.
La Convention de La Haye de 2005 sur les accors d’élection de for et son impact pour la Suisse.
Lorène Anthonioz, SJZ 2024, S. 155 ff.
Zurzeit liegt der Entwurf des Haager Übereinkommens über Gerichtsstandsvereinbarungen beim Parlament. Die Ratifizierung ist absehbar. Die Autorin analysiert die Auswirkungen auf das internationale Privatrecht der Schweiz und vergleicht das Haager Gerichtsstandsübereinkommen mit dem internationalen Privatrecht und mit dem Lugano-Übereinkommen.
Schuldbetreibungs- und Konkursrecht
Aktivitäten der organisierten Kriminalität in der Schweiz aufdecken und bekämpfen.
Nicoletta della Valle, BlSchK 1/2024, S. 23 ff.
«Auch in der Schweiz ist die organisierte Kriminalität aktiv», so die Autorin und Direktorin des Bundesamtes für Polizei. Sie fordert eine Anzeigepflicht für Betreibungs- und Konkursbeamte, aber auch für Handelsregister-, Steuerregister und Grundbuchbehörden sowie Arbeitsinspektorate und Migrationsbehörden.
Konkursverfahren über eine Krypto-Gesellschaft – ein Werkstattbericht.
Pablo Duc, BlSchK 6/2023, S. 301 ff.
Ende 2018 eröffnete das Kantonsgericht Zug den Konkurs über die Krypto-Firma Envion AG. Die Autoren amteten als ausseramtliche Konkursverwalter. Sie schildern, wie sie dieses erste Konkursverfahren einer Kryptofirma in der Schweiz abwickelten.
Die Behandlung von arbeitsrechtlichen Forderungen im Konkurs.
Doriana Mazzei, BlSchK 6/2023, S. 313 ff.
Im Konkurs eines Unternehmens sind die Forderungen der Angestellten in der 1. Klasse privilegiert. Die Autorin erläutert diverse Probleme, die sich bei der Kollokation der Ansprüche stellen, also zum Beispiel bei der Behandlung der Ferienansprüche oder bei den Abzügen der Sozialversicherungsbeiträge.
Übriges Verfahrens- und Prozessrecht
Parallele Straf-, Zivil- und Verwaltungsjustizverfahren: Schnittmengen und Reibungsflächen in der Praxis des Bundesgerichts.
Hansjörg Seiler, ZBl 2/2024, S. 59 ff.
Im Zentrum des Beitrags steht die Frage, ob sich im schweizerischen Recht allgemeingültige Regeln finden lassen, wenn ein bestimmter Sachverhalt zu Fragestellungen aus verschiedenen Rechtsbereichen führt. Ausgangspunkt ist das Postulat der Einheit der Rechtsordnung, also das «intuitive Gebot, Widersprüche zwischen verschiedenen Rechtsgebieten zu vermeiden.»
Der Autor geht im Folgenden unter anderem den Fragen nach, wie Behörden an Informationen aus anderen Verfahren kommen oder ob die in anderen Verfahren erhobenen Informationen verwertet werden können. Auch die Fragen, ob eine Behörde an das Urteil einer anderen gebunden ist und ob ein Verfahren sistiert werden muss, werden im Beitrag behandelt.