Verfassungsrecht
Grundrechte
Verfassungs- und völkerrechtliche Rahmung des schweizerischen Sozialhilferechts: Stand der Debatte und Denkanstösse.
Pascal Coullery, Melanie Studer, ZBl 6/2024, S. 287 ff.
Im Bereich Sozialhilfe fehlt es auf Bundesebene an ausdrücklichen verfassungsrechtlichen Vorgaben. Einzig das Recht auf Hilfe in Notlagen (Artikel 12 BV) setzt einen minimalen Leistungsumfang voraus. Ansonsten fällt die Ausrichtung von Sozialhilfe in die Kompetenz der Kantone. Die Autoren kommen zum Schluss, dass Harmonisierungsbedarf besteht. Weiter vertreten sie den Standpunkt, dass der durch die bundesgerichtliche Rechtsprechung anerkannte Schutzbereich des Rechts auf Hilfe in Notlagen zu eng sei.
Das Bundesgericht sei gefordert, mit der Anerkennung eines Verfassungsanspruchs auf ein soziales Existenzminimum ein Zeichen zu setzen. Dies könne über die Anerkennung eines ungeschriebenen Grundrechts auf ein soziales Existenzminimum erfolgen oder über die Ausweitung des Schutzbereichs von Artikel 12 BV auf ein soziales Existenzminimum.
Übriges Verfassungsrecht
Mr. President, Does the Tiktok Ban Conform with the Constitution?
Urs Saxer, Roman Kollenberg, Verfassungsblog vom 21.5.2024
Der Beitrag analysiert das Tiktok-Verbot des US-Kongresses und die von Bytedance dagegen erhobene Beschwerde. Die Autoren gehen auf die Vorgeschichte und die Hintergründe ein und versuchen eine Einordnung in das Verfassungsrecht der USA.
Verwaltungsrecht
Steuerrecht
Kinderbetreuung als «Hobby»? Ein Plädoyer für eine zeitgemässe steuerrechtliche Qualifikation der Kinderbetreuungskosten als Gewinnungskosten.
Meret Cajacob, Sui generis 2024, S. 91 ff.
Gemäss der aktuellen Steuerrechtspraxis können Kinderbetreuungskosten nicht als berufsbedingte Kosten (sogenannte Gewinnungskosten) abgezogen werden, sondern nur betragsmässig beschränkt im Rahmen eines allgemeinen Abzugs. Angesichts der sozialen und wirtschaftlichen Konsequenzen stellt sich die Frage, ob diese rechtliche Wertung noch zeitgemäss ist. Der als Denkanstoss konzipierte Beitrag geht dieser Frage nach. Er analysiert Rechtsprechung und Wissenschaft und zeigt Möglichkeiten zur steuerrechtlichen Qualifikation der Kinderbetreuungskosten als Gewinnungskosten auf.
Übriges Verwaltungsrecht
Bilder und Videos legal im Internet verwenden.
Martin Steiger, Medialex 5/2024
Wer Videos veröffentlicht, auf Social-Media-Plattformen aktiv ist oder Blogbeiträge verfasst, benötigt Bilder. Aber wer fremde Bilder unüberlegt verwendet, riskiert, das Urheberrecht zu verletzen. Und selbst wer eigene Bilder verwendet, riskiert Ärger mit Leuten, die auf den Bildern zu sehen sind. Der Autor zeigt auf, wie Bilder und Videos im Internet rechtskonform verwendet werden können, und gibt zahlreiche praktische Tipps.
Sozialversicherungsrecht
AHV, IV, EL und ALV
Keine IV-Rente, keine Pensionskassen-Rente, keine Ergänzungsleistungen.
Martina Filippo, Have 2/2024, S. 163 ff.
Der Beitrag thematisiert die Methodik zur Bemessung des Invaliditätsgrads, die seit Jahren für Kritik sorgt und nach Auffassung der Autorin fragwürdig ist. Sie legt dar, dass sowohl die Bemessungsmethode als auch die zugrundeliegenden Zahlen und Daten die Höhe des Invaliditätsgrads beeinflussen können. Dies ist wiederum nicht nur für die Rentenhöhe, sondern auch für weitere Leistungen der IV wie etwa die Umschulung, aber auch für die Leistungen anderer Versicherungen wie etwa der beruflichen Vorsorge von Bedeutung.
Rechtsprechung Invalidenversicherung, Nr. 31, Urteil 8C_122/2023 vom 26. Februar 2024.
Beweiswert medizinischer Gutachten der PMEDA AG.
Michael E. Meier, SZS 3/2024, S. 150 ff.
Ob eine IV-Rente gewährt wird, hängt davon ab, wie der Gesundheitszustand des Versicherten ist und wie die verbleibende Arbeitsfähigkeit eingeschätzt wird. Dabei spielen die Gutachterstellen eine massgebende Rolle. Eine dieser Stellen, die PMEDA, wurde aus dem Verkehr gezogen. Die für die Qualitätsprüfung zuständige Kommission stellte fest, dass «bei einem grossen Teil der untersuchten Gutachten die Nachvollziehbarkeit der medizinischen und versicherungsmedizinischen Argumentation nicht gegeben war». Der Beitrag stellt unter anderem die Frage, wie dies während Jahren und bei Hunderten von PMEDA-Gutachten unbemerkt bleiben konnte.
Strafrecht
Allgemeiner Teil
(Ir)relevanz von Aufenthaltsrecht und Landesverweis für die Zulassung zur gemeinnützigen Arbeit (Art. 79a StGB).
Thierry Urwyler, Recht 2/2024, S. 102 ff.
Das Deutschschweizer Strafvollzugskonkordat schliesst verurteilte Personen ohne Aufenthaltsrecht oder mit Landesverweis von der gemeinnützigen Arbeit aus. Der Autor stellt fest, dass dieser Ausschluss sowohl gegen Artikel 79a StGB als auch gegen Verfassungs- und Völkerrecht verstösst.
Besonderer Teil
Unbefugtes Weiterleiten von nicht öffentlichen sexuellen Inhalten (Artikel 197a revStGB), Anwendungsbereich und Erforderlichkeit der neuen Straf- norm im Lichte neuzeitlicher Phänomene.
Jürg Krumm, Luca Gambino, AJP 6/2024, S. 551 ff.
Die Autoren beurteilen die neue Strafnorm, die am 1. Juli in Kraft trat, als taugliches Mittel, um Rachepornografie strafrechtlich zu sanktionieren. Sie kritisieren eine gewisse Rechtsunsicherheit der neuartigen und unbestimmten Begriffe. Der Beitrag thematisiert diverse Fallkonstellationen und ordnet umstrittene Fragen juristisch ein. Auch Bildbearbeitungen würden unter die Norm fallen. Fraglich sei dagegen, wie geeignet die strafrechtlichen Massnahmen seien, um die Verbreitung von Rachepornografie zu beseitigen. Die Autoren sehen im Privatrecht griffigere Mittel. Sie verorten dort gesetzgeberischen Handlungsbedarf, indem man etwa die bestehende restriktive Schadenersatz- und Genugtuungspraxis aufgeben könnte.
Übriges Strafrecht
Anstieg der Kriminalität in der Schweiz: Zur Bedeutung des Faktors Staatsangehörigkeit.
Dirk Baier, Risiko & Recht 2/2024, S. 6 ff.
Aus Anlass der Vorstellung der Polizeilichen Kriminalstatistik des Jahres 2023 und der Diskussion um Kriminalitätsanstieg und «Ausländerkriminalität» stellt der Autor in seinem Beitrag verschiedene differenzierende Auswertungen dieser Statistik vor. Zusätzlich beleuchtet er die Konstruktionsbedingungen der Polizeistatistik, die zur Folge hätten, «dass die Kriminalität von Ausländern überschätzt wird». Gemäss dem Autor zeigen die Auswertungen, dass es in verschiedenen Kriminalitätsbereichen keinen zahlenmässigen Anstieg gegeben hat. Angaben zu Beschuldigten mit ausländischer Herkunft nehmen vor allem im Diebstahlbereich zu.
Privatrecht
Familienrecht
Alternierende Obhut – wie weiter?
Thomas Geiser, ZKE 3/2024, S. 142 ff.
Der Autor kritisiert, dass der Gesetzgeber mit den letzten Revisionen im Kindesrecht eine Verwirrung bei den Begriffen «elterliche Sorge», «Obhut», «Betreuungsanteile» und «persönlicher Verkehr» geschaffen habe. Er plädiert für eine Neuverteilung der elterlichen Aufgaben und Verantwortlichkeiten und zeigt auf, wie dies möglich wäre.
Familien: Armutsrisiko steigt bei Scheidung.
Robert Fluder, Dorian Kessler, Bundesamt für Sozialversicherungen, Soziale Sicherheit CHSS, 10.7.2024.
Bei einer Trennung sinkt die soziale Sicherheit von Frauen mit Kindern markant. Dies belegt die Nationalfondsstudie im Auftrag des Bundesamts für Sozialversicherungen zu den wirtschaftlichen und sozialen Folgen einer Scheidung. Im Verlauf der Scheidung sind Mütter stärker von Armut betroffen (ihr Anteil steigt von 7 auf 34 Prozent) als Väter (konstant 7 Prozent). Unterhaltszahlungen leisten einen wichtigen Beitrag zum Einkommen geschiedener Frauen.
Wenn der Ex-Partner selbst ein zu tiefes Einkommen hat, um ausreichenden Unterhalt zu leisten, steigt das Armutsrisiko für alle. Das Manko des gemeinsamen Einkommensbedarfs geht zulasten der weniger verdienenden Person – Sozialhilfe muss meist die Frau beantragen. Beim Besserverdienenden muss nach Unterhaltszahlungen das Existenzminimum gedeckt sein. Unterhalt wird bei seinem Sozialhilfeanspruch nicht berücksichtigt, was auch Väter in eine schwierige Lage bringen kann.
Sachenrecht
Dienstbarkeiten als Bauverhinderer.
Roland Pfäffli, Der Bernische Notar, 2/2024, S. 253 ff.
Der Beitrag bietet einen kurzen Überblick über den Einfluss von Dienstbarkeiten auf Bauvorhaben sowie die Begründung, Ausgestaltung und Löschung von Dienstbarkeiten.
Obligationenrecht
Anwendbarkeit der Artikel 406a ff. OR auf Online-Partnervermittlungsverträge, Überlegungen de lege ferenda.
Maximilian Finn Peters, AJP 6/2024, S. 544 ff.
Das Obligationenrecht macht strikte Vorgaben bei Partnervermittlungsverträgen. Diese müssen schriftlich abgeschlossen werden. Es gelten unter anderem ein 14-tägiges Widerrufsrecht, Informations- und Geheimhaltungspflichten. Viele Vermittlungsplattformen wehren sich gegen die Anwendung der Schutzvorschriften. Erfahrungen zeigen, dass es die grossen Plattformen aber nicht auf ein Präjudiz ankommen lassen. Der Autor befürwortet eine ausdrückliche Unterstellung von Online-Partnervermittlungsverträgen unter die Schutzvorschriften.
Im Gegenzug empfiehlt er die Aufhebung von Bestimmungen, die nicht zu den heutigen Gegebenheiten passen, etwa das Verbot der Firmen, innerhalb der 14-tägigen Rücktrittsfrist Zahlungen anzunehmen, oder Informationspflichten bei allfälliger Vermittlungsschwierigkeiten. Auf diese Weise könnten die Kunden auch beim Abschluss von Online-Verträgen von den Schutznormen, etwa dem Rücktrittsrecht, profitieren.
Reservationsvereinbarungen und Anzahlungen beim Grundstückskauf.
Meinrad Vetter, Sandra Hunziker, AJP 5/2024, S. 393 ff.
Vor einem Grundstückkauf schliessen die Parteien häufig einen Reservationsvertrag ab. Die Käufer verpflichten sich darin, eine Reservationssumme und später den Kaufpreis zu zahlen. Die Verkäufer im Gegenzug versprechen, die Liegenschaft bis zum Kauf für den Käufer frei zu halten und ihm später zu verkaufen. Steht der Kaufpreis bereits im Reservationsvertrag, ist dieser nur mit einer notariellen Beurkundung gültig. Darauf wird häufig verzichtet. Solche Reservationsverträge sind daher nichtig. Das bringt bei einem Vertragsrücktritt häufig Streitigkeiten mit sich. Die Autoren besprechen die Rechtslage anhand eines Beispielfalls. Sie diskutieren, welche Konventionalstrafen gültig und welche ungültig sind.
Vergütung des Bereitschaftsdienstes bei 24h-Betreuungsverhältnissen, Besprechung des Urteils des Obergerichts des Kantons Solothurn vom 14. Juli 2023 (ZKBER.2022.45).
Kurt Pärli, Nicola Mussio, ARV 1/2024, S. 40 ff.
Angestellte von Personalverleihern sind durch das Gesetz besonders geschützt. Die Autoren vergleichen die Pikettentschädigung in verschiedenen kantonalen Urteilen. Sie beurteilen die Nachtentschädigung im erwähnten Solothurner Urteil von nur 25 Prozent des Grundlohns als zu tief. Andere Gerichte hätten bis zu 61 Prozent des Grundlohns zugesprochen.
Übriges Vertragsrecht
Das revidierte Versicherungsaufsichtsrecht.
Marcel Süsskind, Have 2/2024, S. 118 ff.
Die revidierten Bestimmungen des Versicherungsaufsichtsrechts sind überwiegend seit Anfang 2024 in Kraft getreten. Autor Marcel Süsskind zeigt auf, dass diese die Rechtsposition der versicherten Personen stärken. Der Beitrag beleuchtet die aufsichtsrechtlichen Erleichterungen bezüglich professioneller Versicherungsnehmer, die neuen Regeln zur Versicherungsvermittlung mit der klaren Trennung von gebundenen und ungebundenen Versicherungsvermittlern, die neuen Bestimmungen zur Herausgabe von Dokumenten, die qualifizierten Lebensversicherungen und die Sanierung notleidender Versicherungsunternehmen. Weiter äussert sich der Autor auch zum Schicksal von Retrozessionen im Versicherungsrecht.
Handels- und Wirtschaftsrecht
Bank- und Börsenrecht
HG190111 – Ein Wendepunkt in der Geltendmachung von Anlageschäden.
Tobias Aggteleky, Recht 2/2024, S. 83 ff.
Das Urteil des Zürcher Handelsgerichts zu eingeklagten Schäden von Anlegern sei das «wohl wichtigste Urteil im Bankprivatrecht seit den bundesgerichtlichen Leitentscheiden zu den Rezensionen» lobt Autor Tobias Aggteleky. Er kommentiert die bemerkenswerten Ausführungen des Gerichts, zum Beispiel zur Beweislastverteilung bei Vorliegen eines Interessenkonflikts, zur Genehmigung pflichtwidriger Anlageentscheide, zur Wissenszurechnung bei Interessenkonflikten oder zur Konkretisierung der Herausgabepflicht bei Retrozessionen.
Retrozessionen: Stand der Dinge.
Martina Reber, SZW 2/2024, S. 127 ff.
Vor 18 Jahren entschied das Bundesgericht, dass bei Vermögensverwaltungsverträgen Retrozessionen herausgegeben werden müssen (BGE 132 III 460). Die Autorin Martina Reber nimmt den Jahrestag zum Anlass für eine umfassende Bestandesaufnahme der Retrozession. Sie geht dabei auf zwei bisher höchstrichterlich nicht geklärte Fragen ein, nämlich zu den Anforderungen an einen gültigen Herausgabeverzicht und zur Herausgabepflicht von Retrozessionen bei reinen Konto- und Depotbeziehungen.
Verfahrens- und Vollstreckungsrecht
Strafprozessrecht
Wann beginnt die Verteidigung?
Alain Joset, ZStrR 2/2024, S. 141 ff.
Der Autor hält einleitend fest, dass Strafverteidigung mitunter bereits beginne, bevor eine Strafuntersuchung eingeleitet wurde – dann nämlich, wenn die Klientschaft «pro futuro» eine Verteidigung engagiert, zum Beispiel weil sie eine böse Vorahnung hat. Im Beitrag geht der Autor auf den Anwalt der ersten Stunde (Artikel 158 StPO) und die Fälle notwendiger Verteidigung (Artikel 131 StPO) ein und beleuchtet kritisch einige Aspekte der Praxis und Rechtsprechung in diesen Themenbereichen.
Im Fazit erachtet er es als wünschenswert, wenn das Bundesgericht die Position und Funktion der Verteidigung wieder vermehrt hervorstreichen und stärken würde. Beim Beitrag handelt es sich um die verschriftlichte Version eines Vortrags, der im September 2023 anlässlich des Abschiedskolloquiums für den emeritierten Strafrechtsprofessor Niklaus Ruckstuhl gehalten wurde.