Verfassungsrecht
Grundrechte
Über den Umgang mit Social Media. Christine Sauthier, Justice – Justiz – Giustizia 2024/2
Was dürfen Richter auf Internetplattformen? Vieles, so die Autorin, aber mit Vorsicht. Selbst Humoristisches könne zu einem Befangenheitsantrag führen. Richter dürften grundsätzlich dasselbe tun wie in klassischen Medien. Sie können sich zu (justiz-)politischen und gesellschaftlichen Themen äussern und auch Humor zeigen. Sie sollten aber stets Zurückhaltung üben, um das Ansehen der Justiz und die Würde des Amts nicht zu gefährden und den Anschein von Unparteilichkeit zu wahren.
Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen im Bereich Wohnen.
Grund- und menschenrechtliche Pflichten und Kompetenzen von Bund und Kantonen.
Vanessa Rüegger, Sui generis 2024, S. 207
Die Autorin kritisiert, dass die finanzielle und organisatorische Unterstützung von Menschen mit Behinderungen für ein selbstbestimmtes Leben sowohl auf Bundesebene als auch in vielen Kantonen noch immer unzureichend sei – obwohl die Bundesverfassung wie auch die Behindertenrechtskonvention dies vorsehen. Bund und Kantone seien verpflichtet, autonome Wohnformen zu fördern und auf institutionelle Formen der Unterbringung so weit wie möglich zu verzichten.
Übriges Verfassungsrecht
Eine verfassungsrechtliche Bundeskompetenz zur Erdbebenvorsorge, Entwicklungen, Einordnungen und Würdigung.
Jürg Marcel Tiefenthal, AJP 10/2024, S. 1041 ff.
In der Schweiz gibt es keine obligatorische Erdbebenversicherung. In einzelnen Kantonen besteht zwar eine begrenzte Erdbebendeckung. Der Autor sieht das Risiko für Liegenschaften bei einem Ernstfall als nicht hinreichend abgesichert. Der Bundesrat schlägt einen Artikel 74a in der Bundesverfassung vor. Dieser soll eine neue Bundeskompetenz für Schutzvorschriften und eine Gebäudeversicherung für Erdbebenschäden schaffen.
Verwaltungsrecht
Raumplanungs- und Umweltrecht
Mobilfunkanlage; Gesetzmässigkeit der Anlagegrenzwerte bei adaptiven Antennen; Berücksichtigung von Reflexionen (Steffisburg BE); Baubewilligungspflicht bei Anwendung des Korrekturfaktors bei bestehenden adaptiven Antennen (Wil SG).
Michael Pflüger, URP 4/2024, S. 360 ff.
Der Autor bespricht die Bundesgerichtsurteile 1C_100/2021 vom 14. Februar 2023 (Steffisburg BE) und 1C_506/2023 vom 23. April 2024 (Wil SG). Beide betreffen Mobilfunkanlagen mit adaptiven Antennen. Solche Antennen funken nicht in alle Richtungen gleich stark, sondern fokussiert in die Richtung des verbundenen Geräts. Im Fall Steffisburg hiess das Bundesgericht die Baubewilligung gut. Im Fall Wil urteilte das Gericht, dass eine Umrüstung einer bestehenden in eine adaptive Antenne mit Einschaltung eines Korrekturfaktors, der eine höhere Strahlung zulässt, nur mit einer neuen Baubewilligung zulässig ist.
Übriges Verwaltungsrecht
Die Administrativuntersuchung. Ausgewählte Fragen zum Rechtsschutz und zu den Verfahrensrechten.
Matthias Neumann, Jusletter vom 14.10.2024
Der Beitrag behandelt die Administrativuntersuchung, die kein Verwaltungsverfahren im klassischen Sinn darstellt. Laut Rechtsprechung haben die betroffenen Personen in einer solchen Untersuchung keine Partei- oder Verfahrensrechte, und es fehlt ihnen an der Beschwerdelegitimation. Der Autor kritisiert, dass Verfahrensbestimmungen fehlen, die Administrativuntersuchungen sowie die Verfahrensrechte klar regeln.
Justizverwaltung
Transparenz über den staatlichen Einsatz algorithmischer Entscheidungssysteme, Rechtliche Erwägungen ausgehend von Forderungen nach öffentlichen Verzeichnissen.
Nadja Braun Binder, Liliane Obrecht, AJP 10/2024, S. 1069 ff.
Bei Bund und Kantonen sind Vorstösse hängig, die ein Transparenzregister für den Einsatz von algorithmischen Entscheidungssystemen in der Justiz fordern. Die Autorinnen erachten die Schaffung dieser Transparenz als notwendig. Dies sei wichtig, um möglichen Diskriminierungen und Datenschutzverletzungen vorzubeugen.
Sozialversicherungsrecht
AHV, IV, EL und ALV
Hinterlassenenrenten im Vorentwurf zur AHV: Auswirkungen nach tödlichen Unfällen.
Bettina Hummer, SZS 5/2024, S. 250 ff.
Der Beitrag analysiert den Vorentwurf für die Revision der AHV-Hinterlassenenrente. Mit der Revision fällt die Voraussetzung der Ehe. Auch Ledige sollen Anspruch auf Hinterlassenenrenten erhalten. Es wird aber vorausgesetzt, dass die verstorbene mit der überlebenden Person ein gemeinsames Kind hat. Damit entsteht eine Versicherungslücke für Paare mit Stiefkindern. Der Beitrag kritisiert, dass damit das erklärte Ziel der Revision gerade nicht erreicht wird, wonach keine Hinterbliebenen mit unterhaltsberechtigten Kindern benachteiligt werden sollen.
Regress von Gutachterkosten der Unfallversicherung.
Matthias Huber, HAVE 3/2024, S. 239 ff.
Der Autor beschäftigt sich mit der regressiven Geltendmachung und Erstattungsfähigkeit gutachterlicher Aufwendungen der Unfallversicherung. Mit dem Inkrafttreten der ersten ATSG-Revision im Jahr 2021 wurden Abklärungskosten in den Katalog der regressfähigen Leistungen aufgenommen. Der Autor kritisiert, dass die Haftpflichtversicherer die Kosten entweder gar nicht bezahlen oder sich nur daran beteiligen wollen. Diese Praxis contra legem sei zu korrigieren.
Strafrecht
Übriges Strafrecht
«Diagnose» nach Fortres – das falsche Versprechen, die falsche Sicherheit.
Jürg-Beat Ackermann und Lea Keller, Forum poenale, online/2024
Fortres ist ein Prognoseinstrument, das zur Beurteilung des Risikoprofils von Straftätern auf der Grundlage von über 80 Risikoeigenschaften eingesetzt wird. Die Autoren kritisieren, das Instrument sei mittlerweile «auf unerklärliche Weise» zu einem «Diagnosesystem» mutiert. «Methodisch irreführend und fehlleitend» sei ganz besonders, dass kriminalprognostisch relevante Risikofaktoren wie etwa eine «delinquenzfördernde Weltanschauung» zu diagnostischen Merkmalen umgedeutet werden. Die Autoren zerlegen das Prognoseinstrument mit einer präzisen Analyse. Sie kritisieren auch das Bundesgericht wegen seiner «unheilvollen Parteinahme».
Sexualisierte Gewalt im Völkerstrafrecht.
Sara Airaksinen, Stefan Heimgartner, AJP 9/2024, S. 953 ff.
Der Beitrag beleuchtet die wesentlichen Entwicklungen, die das völkerrechtliche Sexualstrafrecht in den letzten Jahrzehnten durchlaufen hat. Dabei geben sie einen Überblick darüber, wie die strafrechtliche Erfassung von gewaltsamen Sexualdelikten im Kontext von Völkerstraftaten aussieht und welche Fortschritte in der internationalen Rechtsdurchsetzung erzielt wurden. Vor allem wird die Frage erörtert, welche Auswirkungen die im Sommer in Kraft getretene Revision des Sexualstrafrechts auf das schweizerische Völkerstrafrecht hat.
Rollenverständnis und Haltungsfragen bei der strafrechtlichen Begutachtung.
Elmar Habermeyer, Springer Natur, Band 18, S. 388 ff.
Der Autor erstellt im Rahmen seiner Tätigkeit an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich psychiatrische Gutachten und bildet andere Gutachter aus. Sein Beitrag beleuchtet die Unterschiede und Gemeinsamkeiten von forensisch-psychiatrischer Begutachtung und Therapie. Dabei betont er, dass auch bei der Begutachtung das im hippokratischen Eid verankerte zentrale Paradigma ärztlichen Wirkens, der Grundsatz «nihil nocere» (du sollst nicht schaden), uneingeschränkt gilt.
Die begutachtende Person müsse die Prozessfairness wahren und jeden vermeidbaren Schaden verhindern. Obwohl Begutachtungen keine Therapie darstellen, seien sie dennoch nicht losgelöst von psychiatrisch-psychotherapeutischem Wissen und der therapeutischen Haltung. Dies stehe nicht im Widerspruch zur erforderlichen Objektivität der gutachterlichen Arbeit.
Arbeitsrecht
Der Weiterbeschäftigungsanspruch bei rechtswidriger Kündigung im öffentlichen Personalrecht.
Christoph Reusser, ARV 2/2024, S. 241 ff.
Bei einer rechtswidrigen Kündigung sind die Rechtsfolgen in den kantonalen Personalgesetzen unterschiedlich geregelt. Dies gilt auch bei der Frage, ob eine Weiterbeschäftigung ermöglicht werden soll oder nur ein Entschädigungsanspruch gewährt wird. Als Tendenz zeigt sich, dass immer mehr Kantone nur noch den Entschädigungsanspruch vorsehen.
Familienrecht
Übersicht zur Rechtsprechung im Kindes- und Erwachsenenschutzrecht.
Philippe Meier, Thomas Häberli, ZKE 5/2024, S. 314 ff.
Die Autoren fassen zwei EGMR-Entscheide und fast 40 Bundesgerichtsurteile zusammen. Darunter befinden sich Entscheide zur elterlichen Sorge, zum Besuchsrecht von Pflegeeltern, zum Unterhaltsrecht und zu Kinderschutzmassnahmen.
Handels- und Wirtschaftsrecht
Geldwäschereirecht
Die Banken im Clinch zwischen Behörden und Kunden bei Geldwäschereiverdacht, Sanktionsmassnahmen und drohenden Strafen im Ausland.
Othmar Strasser, SJZ 20/2024, S. 907 ff.
Banken sind bei Verdacht auf Geldwäscherei verpflichtet, der eidgenössischen Meldestelle Bericht zu erstatten. Tun sie das voreilig oder zu Unrecht, droht ein Strafverfahren wegen Verletzung des Bankkundengeheimnisses oder eine Zivilklage wegen Vertragsverletzung. Verhält sich die Bank zu zögerlich, droht ein Strafverfahren wegen Verletzung der Meldepflichten und Geldwäscherei. Der Autor bespricht verschiedene Entscheide zum Spannungsfeld der Banken zwischen den Pflichten gegenüber den Kunden und den Behörden.
Verfahrens- und Vollstreckungsrecht
Strafprozessrecht
Wenn Formvorschriften nicht mehr interessieren – eine kritische Anmerkung zu BGE 149 IV 352.
Camill Droll, Joël Dietler, Forum poenale 5/2024, S. 372
Die Autoren analysieren anhand des letztjährigen BGE 149 IV 352 die beweisrechtliche Ausnahmeklausel gemäss Artikel 141 Absatz 2 Strafprozessordnung. Sie stipuliert, dass Beweise, die auf unrechtmässige Weise von Strafbehörden erhoben werden, trotzdem verwertet werden dürfen, wenn sie «zur Aufklärung schwerer Straftaten unerlässlich» sind. Der Beitrag zeigt auf, wie der besagte BGE diese Bestimmung weiter verwässert. Diese Norm sei aufgrund ihres Ausnahmecharakters ein blosses Notventil.
Damit solle verhindert werden, dass ein schweres Verbrechen nicht bestraft werden kann, weil einfache Gültigkeitsvorschriften verletzt wurden. Die Autoren fürchten, dass diese beweisrechtliche Ausnahmebestimmung künftig auf Delikte, die nur mit Strafbefehl geahndet werden, Anwendung finden. So würde jegliche richterliche Prüfung nicht rechtmässig erhobener Beweise umgangen.
Die Verwertbarkeit von Polizeirapporten.
Von Beweiswert, Beweisverwertung und konkludenter Verwirkung.
George Poulikakos, Jusletter vom 7.10.2024
Der Beitrag geht der Frage nach, unter welchen Voraussetzungen ein Polizeirapport verwertbar ist und welche Funktion der beschuldigten Person beziehungsweise deren Verteidigung bei der Bestimmung der Verwertbarkeit zukommt. Dabei richtet er sein Augenmerk auf die Möglichkeit der konkludenten Verwirkung des Konfrontationsrechts. Gestützt auf die Rechtsprechung entwickelt er Kriterien, anhand welcher bei Ausübung des Konfrontationsrechts bestimmt werden kann, ob ein Polizeirapport verwertbar ist oder nicht.
Zivilprozessrecht
Verzugszinsen auf der Parteientschädigung?
Philipp H. Haberbeck, AJP 11/2024, S. 1229 ff.
Mit der Revision der Zivilprozessordnung, die im Januar 2025 in Kraft tritt, werden die Kosten- und Entschädigungsfolgen der Parteien neu geregelt. Auch nach dem neuen Artikel 111 Absatz 2 ZPO hat die kostenpflichtige Partei der anderen Partei die zugesprochene Parteientschädigung zu bezahlen. Die Prozessordnung regelt nicht ausdrücklich, ob auch ein Verzugszins von 5 Prozent pro Jahr geschuldet ist, wenn die Entschädigung nicht rechtzeitig bezahlt wird. Der Autor bejaht dies. Der Verzugszins sei im Säumnisfall nach einer Mahnung geschuldet. Die Gesetzesmaterialien zeigten, dass sich ein qualifiziertes Schweigen des Gesetzgebers im betreffenden Zusammenhang ausschliessen lasse.
Auf dem Weg zur KI-Richterin? Digitalisierung der Justiz mit besonderem Blick auf den Zivilprozess.
Cordula Lötscher, Cyrill A. H. Chevalley, Siddharth Kumar, Karin Baader, AJP 10/2024, S. 1082 ff.
Der Beitrag untersucht den Einsatz sogenannt künstlicher Intelligenz in der Justiz. Nach einer Übersicht über den Stand der Digitalisierung im Schweizer Zivilprozess sowie Überlegungen zu deren Zulässigkeit werden einzelne Digitalisierungsprojekte in anderen Rechtsordnungen thematisiert. Zudem stellen die Autoren Digitalisierungsprojekte in Österreich, den Niederlanden und in Estland vor.
Schuldbetreibungs- und Konkursrecht
SchKG-Streitigkeiten in der aktuellen Rechtsprechung des Bundesgerichts.
Marco Levante, ZZZ 67/2024, S. 233 ff.
In Betreibungs- und Konkursverfahren gibt es rund 30 mögliche Klagen, zum Beispiel die Aberkennungs-, die Aussonderungs- oder die Anfechtungsklage. Der Autor ist Gerichtsschreiber am Bundesgericht und erläutert die Praxis des Bundesgerichts zu diesen Klagen.
Öffentliches Verfahrensrecht
Bundesgerichtsgesetz: Verpasste Reformen und Aussichten.
Niccolò Raselli, Justice – Justiz – Giustizia 2024/3
Der ehemalige Bundesrichter hat sich mit der Reform des Bundesgerichtsgesetzes auseinandergesetzt und kommt zu einem vernichtenden Fazit: Wichtige Ziele der Justizreform der Jahrtausendwende – wirksame Entlastung des Gerichts und Ausbau des Rechtsschutzes – wurden verpasst. In seinem Beitrag unterbreitet Niccolò Raselli auch konkrete Vorschläge, die darauf abzielen, endlich Abhilfe zu schaffen.