Vor drei Monaten konnte Kaspar Gehring aufatmen. Er schrieb auf der Internetplattform Linkedin: «Ich habe es geschafft. Meine Dissertation zum Thema ‹Beweislosigkeit als Ergebnis des sozialversicherungsrechtlichen Abklärungsverfahrens› wurde abgenommen.» Im Juni erscheint die Arbeit des Zürcher Anwalts in Buchform.
Die Sozialversicherungen AHV, IV, Unfall- und Krankenversicherung sind verpflichtet, den Sachverhalt vor der Ausrichtung von Leistungen vollständig zu ermitteln. Die Versicherten müssen dabei mitwirken, haben aber kaum Mitwirkungsrechte. Die Versicherung muss ihre allfälligen Beweisanträge nicht befolgen.
Rechtlich problematisch kann die Situation werden, wenn eine Versicherung ihre Abklärungspflicht nicht erfüllt oder zum Ergebnis kommt, dass kein eindeutiger Beweis für eine Krankheit oder einen Unfall vorliegt.
Laut Gehring sind die Folgen der Beweislosigkeit im Sozialversicherungsrecht bisher nicht geregelt. Das Bundesgericht wende die Beweisregel von Artikel 8 Zivilgesetzbuch (ZGB) analog an. Das bedeutet: Wer eine Leistung fordert, trägt die Folgen der Beweislosigkeit. Gehring kritisiert, dass sich die Sozialversicherungsgerichte nie vertieft mit der Frage der Beweislosigkeit auseinandersetzten.
Folge: Die Versicherten gehen leer aus, wenn die Versicherung den Anspruch als nicht bewiesen erachtet. Die Versicherungen haben es in der Hand, wie intensiv sie einen Leistungsfall untersuchen und wann sie ihn als unbewiesen betrachten. Kläre eine Versicherung den Fall zu wenig ab, wirke sich dies finanziell zu ihren Gunsten aus, so Gehring.
Immer höhere Hürden für Versicherte
Andererseits schufen die Gerichte in den letzten beiden Jahrzehnten neue und schwieriger zu erfüllende Voraussetzungen für Leistungen. Als Beispiel führt Gehring die Rechtsprechung bei Schmerzsyndromen auf. Die Anforderungen an einen Beweis und damit die Fälle von Beweislosigkeit hätten hier zugenommen.
Gehring zeigt auf, dass die Beweisregel nach Artikel 8 ZGB auf Fälle zugeschnitten ist, bei denen sich zwei gleichberechtigte Parteien gegenüberstehen. Im Sozialversicherungsrecht hingegen steht eine Privatperson einer staatlichen Versicherung gegenüber. Die Beweisregel von Artikel 8 ZGB passe daher nicht ins Sozialversicherungsrecht. Als Lösung schlägt Gehring vor, auch bei den Sozialversicherungen den Grundsatz «Im Zweifel für den Versicherten» einzuführen.
Dieser könne analog dem strafrechtlichen Grundsatz «Im Zweifel für den Angeklagten» angewendet werden. Bleibt beispielsweise trotz Abklärungen der Versicherung unklar, ob eine Erwerbslosigkeit vorliegt oder nicht, müsste die Versicherung von dem Sachverhalt ausgehen, der dem Interesse des Versicherten entspricht. Sie müsste den Versicherten als erwerbsunfähig beurteilen und ihm eine Leistung zusprechen.
Dies entspricht laut Gehring dem Sinn des Sozialversicherungsrechts, wonach der Einzelne vor sozialen Risiken geschützt werden soll. Der erfahrene Anwalt betont, bei einer gesetzeskonformen Abklärung bleibe der Sachverhalt nur in sehr wenigen Fällen offen. Statt des Grundsatzes «Im Zweifel für den Versicherten» wären für Gehring auch «weniger radikale Massnahmen» denkbar – etwa der Ausbau von Parteirechten im Rahmen des Abklärungsverfahrens.
Kenner der Materie äussern sich zum Vorschlag von Gehring sehr unterschiedlich. Ulrich Meyer war langjähriger Bundesrichter. Er lehnt den Vorschlag ab. Die Beweislastregel von Artikel 8 ZGB gelte zu Recht auch im Sozialversicherungsrecht. Das Strafrecht hingegen ziehe Freiheitsbeschränkungen und damit schwere Grundrechtseingriffe mit sich. Da brauche es den Grundsatz «in dubio pro reo», der eine Beweislastumkehr mit sich bringt. Bei Versicherungsleistungen sei das aber nicht sinnvoll. Zudem sei Gehrings Vorschlag nicht finanzierbar, denn Beweislosigkeit komme häufig vor.
Basile Cardinaux, Professor für Sozialversicherungsrecht an der Universität Freiburg, beurteilt die Rechtslage ähnlich. Er sieht zwar auch das Grundproblem, dass die Versicherung die Beweise erhebt, aber die Folgen der Beweislosigkeit nicht tragen muss. Doch er sieht «keine bessere Alternative» zur heutigen Regelung. Eine Umkehr der Beweislast würde eine Vermutung für Versicherungsleistungen schaffen, wenn der Versicherte die Voraussetzungen dafür glaubhaft behaupte.
Unter Anwälten findet Gehrings These dagegen Anklang. Hardy Landolt, Anwalt und Titularprofessor aus Glarus, teilt die Auffassung des Zürcher Anwalts. Ausgangspunkt für die Anmeldung von Ansprüchen sei regelmässig eine medizinische Beurteilung der behandelnden Ärzte. «Es ist sehr irritierend, wenn Versicherungen zunehmend die Beurteilungen der behandelnden Ärzte, die auch Fachärzte sind, geringschätzen und sie als befangen zurückweisen.» Vor diesem Hintergrund sei es gerechtfertigt, dass bei Beweisschwierigkeiten oder gar Beweislosigkeit die medizinischen Ausgangsunterlagen genügen.
Massimo Aliotta, Anwalt in Winterthur, kennt Fälle, in denen die Versicherung den Sachverhalt nicht vollständig klären konnte. «Das ist etwa bei einer langen Dauer zwischen Unfall und Erwerbsunfähigkeit der Fall.» Könne aber nicht einmal die Versicherung mit ihrem grossen Abklärungsapparat solche Fälle klären, werde bei starrer Anwendung der zivilrechtlichen Beweisregel die soziale Absicherung ausgehöhlt.
«Zu viel Macht zulasten der Versicherten»
Die auf Sozialversicherungsrecht spezialisierte Anwältin Stephanie C. Elms aus Zug stimmt zu. Sie ergänzt: «Die Hürden in sozialversicherungsrechtlichen Verfahren werden immer höher, sei es durch strengere Rechtsprechung oder die Komplexität von Krankheitsbildern.» Beim Post-CovidSyndrom etwa zeige sich, dass es für die Betroffenen sehr schwierig sei, ihre Ansprüche durchzusetzen. Oft seien sich nicht einmal die Mediziner einig. Eine Erleichterung der Beweisanforderungen wäre ihres Erachtens sehr zu begrüssen.
Gabriela Riemer-Kafka, emeritierte Professorin für Sozialversicherungsrecht in Zürich, will sich noch nicht abschliessend festlegen, solange sie die Dissertation nicht gelesen hat. Sie sieht jedoch Handlungsbedarf im Sozialversicherungsrecht. «Die Sozialversicherungen haben ein Stück zu viel Macht zulasten der Versicherten.» Die Versicherung kläre ab und könne entscheiden, wann sie die Abklärungen einstellen will. Riemer-Kafka: «Ich finde es gut, dass Kaspar Gehring das Thema aufgriff, um eine Diskussion auszulösen.»
Buch
Kaspar Gehring, Beweislosigkeit als Ergebnis des sozialversicherungsrechtlichen Abklärungsverfahrens, Schulthess, 255 Seiten, Fr. 69.–, erscheint im Juni