Skandal, Skandal!», titelte Anfang März der «Blick» und füllte nicht weniger als drei Zeitungsseiten mit Empörung – gepaart mit Anschuldigungen ans Bundesgericht, das es einmal mehr versäumt habe, den Volkswillen ernst zu nehmen. Und Täterschutz betreibe, anstatt an die potenziellen Opfer zu denken. Oder ans Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung.
Grund für die schrillen Schlagzeilen war ein Entscheid aus Lausanne, die lebenslängliche Verwahrung eines einschlägig vorbestraften Mörders aufzuheben und die Frage der Massnahme an die Vorinstanz zurückzuweisen. Das Bundesgericht sagt, die gesetzlichen Voraussetzungen für die lebenslängliche Verwahrung (Artikel 64 Absatz 1bis StGB) seien im konkreten Fall nicht erfüllt, da nur einer der zwei beauftragten Gerichtsgutachter von einer dauerhaften Untherapierbarkeit des Täters ausgehe. Der andere Experte hält in seinem Gutachten fest, in der Psychiatrie könnten keine lebenslangen Prognosen betreffend der Behandlungsmöglichkeiten gemacht werden (siehe Gerichte des Bundes aktuell, Seite 68).
Höchstgerichtlich bestätigt wurde hingegen die lebenslange Freiheitsstrafe – verhängt gegen den Mörder der jungen Waadtländerin Marie. Sie war von ihm in einem Waldstück erdrosselt worden. Vor ihr hatte der Mann schon einmal eine Freundin vergewaltigt und erwürgt.
Am gleichen Tag, an dem sich der «Blick» empörte, wurden in Interlaken BE am Kongress der Schweizerischen Arbeitsgruppe für Kriminologie die Fakten auf den Tisch gelegt. Thomas Freytag, Vorsteher des Amts für Justizvollzug im Kanton Bern, und die Freiburger Doktorandin Aimée Zermatten zeigen in einer neuen Studie auf, dass die ordentliche Verwahrung nach Artikel 64 Absatz 1 StGB faktisch zu einer lebenslänglichen Massnahme wurde.
Nur wenige alte und kranke Verwahrte kommen frei
Konkret: Zwischen 2004 und 2017 wurden im Jahresdurchschnitt bloss zwei Prozent der Verwahrten bedingt entlassen – bei einem gemäss Bundesamt für Statistik mittleren Insassenbestand von 138 Verwahrten im Jahr 2016. Im Jahr 2015 kamen zwei Verwahrte frei, 2016 war es einer – 2017 kein einziger. Gegenüber der «Sonntags-Zeitung» führte Freytag aus, bei den wenigen, die in die Freiheit kämen, handle es sich praktisch immer um alte, kranke Menschen. Ein ähnliches Bild, wenn auch nicht gleich drastisch, zeigt sich im Umgang mit Straftätern, die sich in einer Massnahme nach Artikel 59 StGB befinden, also in der «kleinen Verwahrung». Laut Bundesamt betrug 2016 der mittlere Insassenbestand 442 Personen. Die Studie von Freytag und Zermatten weist auf, dass im Jahresdurchschnitt gut zehn Prozent der Verurteilten aus einer stationären Massnahme bedingt entlassen werden. Bei jenen Tätern, die zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurden, beträgt der Anteil der bedingt Entlassenen hingegen über 70 Prozent.
Dass deutlich weniger Gefangene aus der stationären Massnahme bedingt entlassen werden, liegt nicht zuletzt an den strengeren Anforderungen (Artikel 62 StGB, BGE 137 IV 201). Aus der «kleinen Verwahrung» kommt demnach nur, wer neben einem tadellosen Benehmen im Strafvollzug auch eine positive Prognose aufweist. Bei der bedingten Entlassung aus der Freiheitsstrafe nach der Verbüssung von zwei Dritteln der Strafe genügt es, dass die Prognose zum künftigen Verhalten des Täters nicht negativ ist. Die bedingte Entlassung aus dem Strafvollzug stellt die Regel dar (BGE 133 IV 201).
Die Bundesrichter setzten einzig das Gesetz um
Fazit: Die Schelte des «Blick» an die Adresse der Bundesrichter war nicht nur unnötig, sondern auch falsch. Das höchste Gericht hat sich lediglich an die gesetzlichen Vorgaben gehalten.
Eine knappe Woche nach dem Bundesgerichtsurteil im Fall Marie bewegte die lebenslängliche Verwahrung erneut das Land – dieses Mal in Zusammenhang mit dem Fall Rupperswil. Staatsanwältin Barbara Loppacher foutierte sich um die Anforderungen an eine lebenslängliche Verwahrung und forderte diese Massnahme für den Vierfachmörder, obwohl keiner der beiden Gerichtspsychiater von einer Untherapierbarkeit des Täters ausging.
Die Mehrheit des Bezirksgerichts Lenzburg liess sich vom gesetzeswidrigen Antrag der Anklägerin nicht irritieren: Es sprach eine lebenslange Freiheitsstrafe und die ordentliche Verwahrung aus – die ja faktisch eine lebenslängliche ist.