Falsch verstandene Sorgfalt
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Plädoyer 03/2020
25.05.2020
Gjon David
Anwältinnen und Anwälte üben ihren Beruf laut Artikel 12 des Anwaltsgesetzes «sorgfältig und gewissenhaft» aus. Dies scheint nicht von allen in der Branche Tätigen in gleichem Mass verstanden zu werden, wie folgende Beispiele zeigen.
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Laut einem aktuellen Bundesgerichtsentscheid hatte ein Zürcher Pflichtverteidiger drei Tage vor der Verhandlung die Berufung zurückgezogen – ohne Wissen des Angeklagten. Dem R&...
Anwältinnen und Anwälte üben ihren Beruf laut Artikel 12 des Anwaltsgesetzes «sorgfältig und gewissenhaft» aus. Dies scheint nicht von allen in der Branche Tätigen in gleichem Mass verstanden zu werden, wie folgende Beispiele zeigen.
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Laut einem aktuellen Bundesgerichtsentscheid hatte ein Zürcher Pflichtverteidiger drei Tage vor der Verhandlung die Berufung zurückgezogen – ohne Wissen des Angeklagten. Dem Rückzugsschreiben an das Gericht legte er ein an den Klienten gerichtetes Schreiben bei, in welchem er darlegte, weshalb er eine Berufung als «chancenlos» erachte. Mit diesem Vorgehen wollte sich der Anwalt dem Gericht offenbar für weitere Mandate als Pflichtverteidiger empfehlen. Das Bundesgericht hiess die Beschwerde des Beschuldigten gut und rügte den Anwalt: «Der Verteidiger legte gegenüber der Vorinstanz nicht nur die Verteidigungsstrategie offen, sondern äusserte klare Zweifel an den Erfolgsaussichten der Berufung. Beides entsprach offensichtlich nicht den Interessen des Beschwerdeführers wie auch dessen Vertrauen auf Diskretion des ihm bestellten Verteidigers.» Das Obergericht muss dem Beschuldigten einen neuen Verteidiger bestellen und den Fall neu beurteilen.
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Auch ein Berner Fürsprecher hat die vom Gesetz verlangte Gewissenhaftigkeit nicht wirklich verinnerlicht. Ohne Rücksprache mit seiner Klientin liess er drei Verfügungen des Berner Wirtschaftsstrafgerichts unbeantwortet. Weder orientierte er die Mandantin über den Stand des Verfahrens, noch war er für das Wirtschaftsstrafgericht telefonisch oder per Mail erreichbar. Die Anwaltsaufsicht sprach eine Verwarnung aus.
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Mit 3000 Franken Busse bestrafte die Berner Standesaufsicht einen weiteren Strafverteidiger. Er vertrat zwei Mandanten, die sich gegenseitig schwere strafbare Handlungen vorwarfen und Strafanzeigen gegeneinander eingereicht hatten – im einen Fall sogar wegen eines Raubs. «Eine bestmögliche Interessenwahrung der Interessen beider Klienten war ab diesem Zeitpunkt nicht mehr möglich», begründete die Aufsichtskommission ihren Entscheid.
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In Zürich ist der Umgangston in der Regel etwas rauer. Trotzdem wird im Anwaltsverband ein Mindestmass an gepflegter Ausdrucksweise vorausgesetzt. Tiraden gegen – auch ausländische – Kollegen mit Ausdrücken wie «Bullshit», «You fucking crooks» oder «Fuck you all» sollten vermieden werden. Wer dieser Versuchung nicht widerstehen kann, tritt besser aus dem Verband aus. Dessen Disziplinarkommission meinte dazu: Die Art der Entgleisung, die Reaktion auf die Beschwerde und sein Verhalten im Verfahren hätten sonst «wohl die Frage eines Ausschlusses aufgeworfen».