plädoyer: Seit Anfang Jahr ist die neue Strafprozessordnung in Kraft. Hat sich die Stellung von Geschädigten und Opfern im Strafverfahren verbessert?
Béatrice Müller: Die neue Prozessordnung bringt für Geschädigte und Opfer in der Tat Verbesserungen. Ich begrüsse zum Beispiel sehr, dass Privatkläger neu auch im Strafbefehlsverfahren Schadenersatz und Genugtuung geltend machen können. Bis jetzt mussten sie in solchen Fällen immer über den Zivilprozess gehen. Ich begrüsse ebenfalls, dass Privatkläger ihre Zivilansprüche in Strafverfahren früher einreichen und begründen müssen.
Positiv finde ich auch, dass die unentgeltliche Prozessführung von Privatklägern nicht mehr zurückbezahlt werden muss – bis vor kurzem wurde dies in den Kantonen unterschiedlich gehandhabt. Bedauernswert ist aber, dass es verpasst wurde, eine Pflicht zur audiovisuellen Aufzeichnung der Befragung von Betroffenen häuslicher oder sexualisierter Gewalt in der Prozessordnung zu verankern.
plädoyer: Wirken sich die Änderungen der Opfer- und Geschädigtenrechte auf die Stellung der Beschuldigten im Strafprozess aus?
André Kuhn: Die revidierte Prozessordnung hat zahlreiche Auswirkungen auf die Rechte der Beschuldigten. Die neue Regelung, wonach Zivilforderungen nicht mehr erst an der Hauptverhandlung gestellt und begründet werden müssen, sondern schon früher im Verfahren, ist ein Vorteil für die Beschuldigten. Bis jetzt konnte es vorkommen, dass ein Verteidiger in der Hauptverhandlung mit einer schriftlich vorbereiteten und mündlich vorgetragenen Forderungsklage konfrontiert wurde – und aus dem Stegreif antworten musste. Die neue Regelung schafft hier gleich lange Spiesse. Und auch die Gerichte können sich nun besser vorbereiten. Zivilforderungen dürften künftig genauer geprüft werden.
plädoyer: Béatrice Müller, verlieren Sie nicht einen taktischen Vorteil, wenn Sie die Forderungen schon früh begründen müssen?
Müller: Ich brauche diesen taktischen Vorteil nicht. Als Opfer- und Geschädigtenanwältin ist mir der finanzielle Schaden meist schon früh bekannt – und das Beziffern von Genugtuungsansprüchen ist ohnehin meist eine Art Kaffeesatzlesen. Durch das frühere Einbringen und Substanziieren der Forderungen erhoffe auch ich mir eine sorgfältigere Prüfung durch die Gerichte. Damit verbunden ist die Hoffnung, dass künftig effektiv mehr Zivilforderungen im Strafprozess entschieden werden. Gerade Betroffene von häuslicher oder sexualisierter Gewalt haben in der Regel wenig Interesse, nach dem Strafverfahren auch noch einen Zivilprozess zu führen.
plädoyer: André Kuhn, was halten Sie als Verteidiger davon, dass Staatsanwälte neu in Strafbefehlsverfahren über Forderungen von bis zu 30'000 Franken entscheiden können?
Kuhn: Ich sehe da noch Klärungsbedarf. Wie werden Staatsanwälte zum Beispiel mit unbezifferten Forderungsklagen im Strafbefehlsverfahren umgehen? Wie mit Fällen, in denen der Schaden nach Ermessens bestimmt wird? Ich rechne damit, dass die Staatsanwaltschaften im Strafbefehlsverfahren zurückhaltend über Zivilforderungen entscheiden werden. Es handelt sich ja um eine Kann-Bestimmung.
Müller: Ich bin auch gespannt, ob und wie viele Staatsanwaltschaften jemanden damit beauftragen werden, sich in zivilrechtliche Fragen einzuarbeiten. Es gibt einfache Schäden wie kaputte Scheiben oder einen zerrissenen Anzug – aber häufig sind die Zivilforderungen viel komplexer. Und als Staatsanwälte arbeiten in der Regel nicht jene, die sich besonders gern mit Zivilrecht befassen.
plädoyer: Drohen hemdsärmelige Entscheide durch unqualifiziertes Personal und die Gefahr, dass Beschuldigte öfter zu Unrecht zur Kasse gebeten werden?
Kuhn: Nein, das befürchte ich nicht. Die Auswirkungen der neuen Kann-Bestimmung müssen nicht unbedingt negativ sein. Vielleicht führt sie dazu, dass künftig im Strafbefehlsverfahren vermehrt konkrete Eingaben gemacht werden. Der Beschuldigte hätte dann eine bessere Grundlage, um zu entscheiden, ob er eine bestimmte Forderung akzeptieren will und, wenn ja, bis zu welcher Höhe. Ich rechne nicht damit, dass Staatsanwälte in Strafbefehlen über Forderungen entscheiden werden, wenn sie nicht zu hundert Prozent hinter solchen Entscheiden stehen können. Ein Staatsanwalt weiss schliesslich, dass eine Einsprache droht, wenn ein Beschuldigter einen Strafbefehl nicht nachvollziehen kann.
plädoyer: Viele Strafbefehle werden nicht angefochten, obwohl die Erfolgsaussichten durchaus gut wären. Könnten Beschuldigte von Einsprachen gegen einen Strafbefehl abgehalten werden, weil die Kostenrisiken des folgenden Verfahrens höher sind als die im Strafbefehl verlangten Beträge?
Kuhn: Das glaube ich nicht. Es gibt unterschiedliche Gründe, weshalb es zu Einsprachen gegen Strafbefehle kommt oder weshalb sie unterbleiben. Die Kosten können ein Grund sein, aber auch die drohende Publizität einer Hauptverhandlung und vieles anderes.
plädoyer: Gerade im Kontext von Delikten, bei denen es um häusliche oder sexualisierte Gewalt geht, ist immer wieder die fehlende Sensibilität der Strafverfolgungsbehörden ein Thema. Hat die revidierte Prozessordnung dieser Thematik auf irgendeine Weise Rechnung getragen?
Müller: Nein, und das ist auch kaum möglich. Da dürften eher die Änderungen im materiellen Sexualstrafrecht, die am 1. Juli in Kraft treten, eine positive Auswirkung haben. Nach geltendem Recht müssen die Strafverfolgungsbehörden in den Gesprächen mit den Opfern Nötigungselemente herausfiltern. Nach neuem Recht und der «Nein heisst Nein»-Lösung wird das nicht mehr notwendig sein. Es wird dann vielmehr darum gehen, in Erfahrung zu bringen, wie das Opfer das Nein zum Ausdruck gebracht hat. Das ist ein völlig anderes Vorzeichen für Befragungen und wird weitreichende Auswirkungen haben.
Kuhn: Die Gesetzesänderung im Sexualstrafrecht ist kein neues strafprozessuales Setting. Es ist vielmehr ein anderer Sachverhalt, der abgeklärt werden muss. Daraus ergeben sich neue Schwierigkeiten: Zum Beispiel bedeutet eine Schockstarre eines Opfers, ein sogenanntes Freezing, ja auch ein Nein. Das muss der Beschuldigte dann aber auch erkannt haben. Die Ermittlungsbehörden müssen deshalb das Opfer fragen, ob es erstarrt ist und wie dies der Beschuldigte im konkreten Fall erkennen konnte.
Müller: Das wären unzulässige Suggestivfragen. Die Sachverhaltsabklärung bleibt aber sicher auch künftig sehr knifflig. Allgemein geht es hier um gesellschaftliche Werte und die Frage, wie man mit Betroffenen von sexualisierter Gewalt umgeht. Früher bestand die Tendenz, Frauen nicht zu glauben. Und Männer konnten in der Regel gar nicht darüber reden, wenn sie sexuelle Gewalt erfahren hatten. Dann gab es einen gesellschaftlichen Wandel – für mehr Sensibilität im Strafverfahren sind Sensibilisierungen und Weiterbildungen das Mittel der Wahl. Mit gesetzlichen Änderungen kommt man nicht weit.
plädoyer: Würde eine Pflicht zur audiovisuellen Einvernahme von Betroffenen die Sachverhaltsabklärung erleichtern?
Müller: Ja. Bei Kindern ist das bereits heute so gestaltet. Deren Befragung muss audiovisuell aufgezeichnet werden, damit ihnen eine weitere Befragung vor Gericht erspart bleibt. Ich bin der Ansicht, dass dies auch im Umgang mit erwachsenen Opfern von häuslicher oder sexueller Gewalt so sein müsste. Zum Teil scheitert es allerdings bereits an der Technik und der Logistik bei den Ermittlungsbehörden. Ich bin aber zuversichtlich, dass wir uns im Strafprozess einem solchen Szenario annähern.
Kuhn: Es mag vielleicht überraschend klingen, aber grundsätzlich befürworte ich die Aufzeichnung sämtlicher Einvernahmen im Strafverfahren. Vor allem gilt das für polizeiliche Befragungen. An deren Ende resultieren oft viele Seiten Text. Aus diesem geht nicht hervor, ob und wann es bei der Einvernahme Zwischenfragen gab, mitunter wird stark zusammengefasst. Verlangt ein Verteidiger Änderungen am Text, heisst es, dass es sich ja nicht um ein Wortprotokoll, sondern um ein sinngemässes Protokoll handle.
An der Hauptverhandlung stützen sich die Richter bei der Urteilsbegründung dann aber nicht selten auf Details in genau diesem Protokoll, behandeln es also wie ein Wortprotokoll. Es gilt im Strafverfahren somit immer noch der ungeschriebene Grundsatz: Wer das Protokoll führt, hat die Macht. Es kommt auch vor, dass man als Verteidiger bei einer ersten Einvernahme nicht zugegen war und man allein anhand des Protokolls nicht nachvollziehen kann, was überhaupt genau gefragt wurde. All diese Mängel liessen sich beheben, wenn man von Anfang an alles aufzeichnen würde.
plädoyer: Können die Strafverfolgungsbehörden auf mehrfache Befragungen der Opfer verzichten, wenn alles aufgezeichnet wird, um sie weniger zu belasten?
Kuhn: Sicher nicht. Gerade Fälle, bei denen es um sexualisierte Gewalt geht, sind häufig Indizienprozesse. Der Richter muss am Ende eine Beweiswürdigung vornehmen und entscheiden, welchen Aussagen er mehr Glauben schenkt. Dafür muss er eine Aussagenanalyse vornehmen, nach Lügen- und Wahrheitssignalen suchen. Kann er nur auf die Aussagen in einer einzigen Befragung abstellen, kann er viele Elemente der Aussagenanalyse gar nicht anwenden. Und eine Aussage früh im Verfahren mag einen bestimmten Eindruck vermitteln – den persönlichen Eindruck vor Gericht kann sie aber nicht ersetzen.
Für eine korrekte Analyse braucht es deshalb mehrere Befragungen. Ich sehe ein, dass dies für tatsächliche Opfer mit Stress verbunden ist. Das lässt sich mit gewissen Schutzmassnahmen ein Stück weit auffangen – etwa indem Opfer und Beschuldigter sich nicht im selben Raum befinden und die Befragung durch eine Person des gleichen Geschlechts vorgenommen wird.
Müller: Ich kann die Forderung, dass sich das Gericht einen eigenen Eindruck verschaffen und potenzielle Opfer somit noch einmal befragen sollte, verstehen. Mit insgesamt zwei Einvernahmen im ganzen Verfahren wäre ich einverstanden. Aber oft werden Opfer drei oder gar vier Mal befragt. Das geht nicht, weil es mit einer Retraumatisierung verbunden ist. Eine audiovisuelle Aufzeichnung könnte in diesem Kontext helfen. Auch für obere Instanzen wäre sie nützlich, dort finden in der Regel ja keine Befragungen mehr statt.
Kuhn: Ich bin gegen einen Mechanismus, wonach es bei Vorhandensein audiovisueller Aufnahmen nur zwei Befragungen im Verfahren geben darf. Es gibt die Problematik falscher Anschuldigungen, und diese muss man aus den Aussagen herausfiltern. Dafür braucht es eine Aussagenanalyse und mehrere Befragungen. Zwei sind manchmal zu wenig.
Müller: Verteidiger gehen davon aus, dass viele Beschuldigungen unzutreffend sind. Nach meiner Erfahrung als Opferanwältin sind Falschbeschuldigungen zumindest bei schweren Delikten sehr selten. Wenn sich eine Frau an mich wendet und sagt, sie sei von einem Sexualdelikt betroffen, kläre ich sie auf, was auf sie zukommt: ein mehrjähriges Verfahren. Mehrfachbefragungen. Die Belastung, mehrere Jahre im Unklaren über den Ausgang des Verfahrens zu sein und nicht therapeutisch mit dem Delikt abschliessen zu können. Einige Betroffene überlegen sich dann, ob sie das wirklich wollen. Nicht selten verzichten sie in der Folge auf eine Anzeige.
Kuhn: Meine Perspektive ist eine andere. Wird jemand eines Sexualdelikts beschuldigt und verhaftet, ist der Verteidiger die einzige Person, die sich für ihn einsetzt. Die Strafverfolgungsbehörden gehen in der Regel entschieden dem Anfangsverdacht nach, suchen nach belastenden Elementen. Nur der Verteidiger kämpft für die Rechte des Beschuldigten. Verteidiger finden es unhaltbar, dass falsche Anschuldigungen zu Verurteilungen führen, weil man Stress für potenzielle Opfer vermeiden will. Ein gewisses Mass an Stress lässt sich nicht vermeiden, wenn man ein faires Verfahren will.
plädoyer: Das Bundesgericht hat kürzlich entschieden, dass Privatstrafkläger nach Anklageerhebung eine andere rechtliche Qualifikation eines Delikts als jene durch die Staatsanwaltschaft verlangen können – also zum Beispiel schwere statt einfache Körperverletzung –, falls sich dies auf die Zivilforderung auswirkt. Ist der Entscheid richtig? Der Strafanspruch kommt doch dem Staat zu.
Müller: Als Anwältin von Geschädigten bin ich in der Regel schon früh im Verfahren mit von der Partie. Ich gestalte das Verfahren aktiv mit, sichte die Akten, tausche mich mit meinen Klienten und Klientinnen aus. Gehen die Ermittlungen in eine falsche Richtung, greife ich ein. Falls es die Staatsanwaltschaft meiner Meinung nach tatsächlich verpasst, ein bestimmtes Delikt zu prüfen, stelle ich dies in der Regel schon vor Anklageerhebung fest und stelle entsprechende Anträge. Dass dies erst nach Anklageerhebung nötig wird, habe ich noch nie erlebt. Vermutlich betrifft der neue Entscheid eher Leute, die nicht anwaltlich vertreten sind.
Kuhn: Die Frage, in welcher Form sich die Privatklägerschaft im Strafverfahren einbringen kann, ist wichtig. Es geht dabei tatsächlich auch darum, dass die Strafverfolgung eine staatliche Aufgabe ist – und keine private. Ich finde die geltende Praxis sinnvoll, welche auf die Zivilforderung abstellt. Ist der Privatkläger von einer bestimmten rechtlichen Qualifikation der Staatsanwaltschaft betroffen und damit nicht einverstanden, kann er sich wehren – aber im Übrigen liegt die Verfahrenshoheit beim Staat. Dass sich die Privatklägerseite erst spät im Verfahren vor Gericht einbringt, erlebe ich selten. Dass sie es schon früher tut, ist hingegen gelebte Praxis. Das funktioniert in der Regel ohne Probleme.
Müller: Auf der Stufe Ermittlungsverfahren, wenn die Polizei noch zuständig ist, musste ich durchaus schon darauf hinweisen, dass wir – Privatklägerschaft und Vertretung – auch noch da sind und unsere Rechte wahrnehmen wollen. Sobald die Staatsanwaltschaft übernimmt, läuft es in der Regel rund. Dass die Strafzumessung nicht Sache des Opfers ist, begrüsse auch ich. Wenn sie eine vergewaltigte Frau fragen, was eine gerechte Strafe wäre, dann lautet die Antwort nicht selten «lebenslänglich» oder «kastrieren».
Béatrice Müller, 55,
Advokatin in Basel. Sie ist als Opfer- und zertifizierte Kinderanwältin spezialisiert auf deren Vertretung in Straf- und in Zivilverfahren.
André Kuhn, 50,
Rechtsanwalt in Aarau, als Fachanwalt Strafrecht vorwiegend in den Gebieten Straf- und Strafprozessrecht tätig.