Laut dem neuen beschleunigten Asylverfahren soll ein Asylentscheid innerhalb von 140 Tagen vorliegen. Fälle, die weitere Abklärungen benötigen, werden im sogenannten erweiterten Verfahren behandelt. In Kraft ist diese Regelung seit einem Jahr. Miriam Behrens ist Direktorin der Schweizerischen Flüchtlingshilfe. Sie bilanziert: «Die Beschleunigung geht auf Kosten von Fairness und Qualität der Verfahren.» Beim Staatssekretariat für Migration (Sem) werde nun so schnell gearbeitet, dass es vermehrt zu Beschwerden komme. Besonders akut ist das Problem im beschleunigten Verfahren, wie die Analyse der Flüchtlingshilfe in vier der sechs Asylregionen zeigt: «Jede dritte Beschwerde war erfolgreich.» Das sei ein Indiz dafür, dass das forcierte Verfahrenstempo des Sem auf Kosten der Qualität der Entscheide gehe.
Gegen negative Entscheide in erster Instanz werden auch deutlich mehr Beschwerden eingereicht. 2018 lag die Beschwerdequote bei 28 Prozent, 2019 bereits bei 35 Prozent. Das zeigen die neusten Zahlen des Sem.
Aus Zahlen des Bundesverwaltungsgerichts von 2019 geht hervor, dass das Gericht zwischen 2007 und 2018 im Durchschnitt 4,8 Prozent der Fälle ans Sem zurückwies. Bei den Fällen nach neuem Recht ist dieser Prozentsatz mit 16,8 Prozent mehr als dreimal so hoch. Aus diversen Urteilen wird ersichtlich: Das Staatssekretariat nimmt vor allem medizinische Abklärungen ungenügend oder gar nicht vor.
Laut Eliane Engeler von der Flüchtlingshilfe gibt es allein in der Westschweiz rund 30 Urteile des Bundesverwaltungsgerichts zum Thema medizinische Abklärungen – «insbesondere im Bundesasylzentrum Boudry». Im Tessin sind es mehr als ein Dutzend. Laut dem Staatssekretariatschef Mario Gattiker ist «die Qualität der Entscheide genau gleich wichtig wie die Effizienz». Mehrere Gerichtsurteile aber zeigen: Der Fokus liegt auf Effizienz. Die Kritik der fehlenden medizinischen Abklärung an die Adresse des Sem wurde beim Bundesverwaltungsgericht zu einem Textbaustein. So heisst es in etlichen Urteilen, dass die gesundheitliche Situation der Beschwerdeführer nicht ausreichend abgeklärt worden sei. Auch dann nicht, wenn die Rechtsvertreter im Rahmen ihrer Stellungnahme zum Entscheidentwurf das Sem auf diese offensichtlichen Mängel bereits ausdrücklich aufmerksam gemacht hat. Andere Fälle kassierte das Bundesverwaltungsgericht, weil das Staatssekretariat nicht auf Berichte von Menschenrechtsorganisationen einging oder die Beweismittel nicht angemessen gewürdigt hatte.
In mindestens vier Urteilen wies das Gericht das Sem an, bestimmte Fälle nicht im beschleunigten Verfahren abzuschliessen, sondern im erweiterten Verfahren zu behandeln (etwa im Urteil D-5585/ 2019 vom 5. November 2019, E. 6.3). Dies, weil «die Behandlung eines Falls im beschleunigten Verfahren eine wesentliche Verkürzung der Rechtsmittelfrist zur Folge» habe. Eine Behandlung eines komplexen Falls im beschleunigten Verfahren berge aber an sich die Gefahr einer Verletzung der Verfahrensgarantien zuungunsten der asylsuchenden Person.
Die Antwort des Sem auf die Kritik folgte im Februar mit einer Bilanz zu einem Jahr beschleunigtes Asylverfahren. Es hielt fest, man habe Mühe gehabt, «in allen Asylregionen genügend Ärzte zu finden, die innerhalb der knappen Fristen vertiefte medizinische Abklärungen vornehmen könnten». Statt Alarm zu schlagen oder die Fälle im erweiterten Verfahren zu behandeln, wurden sie einfach im beschleunigten Verfahren negativ entschieden.
Erweitertes Verfahren wird zu wenig angewendet
Laut Amnesty International führte das Sem viele Verfahren weit schneller durch als gesetzlich vorgeschrieben. Die mittlere Verfahrensdauer betrug laut aktuellen Fallzahlen nur 50 Tage – von möglichen 140. Zudem habe das Sem nur 19,4 Prozent der Fälle im erweiterten Verfahren behandelt statt wie geplant rund 40 Prozent.
Diese Kritik wird von allen Rechtsvertretungsstellen – Heks, Berner Rechtsberatungsstelle für Menschen in Not und Caritas – geteilt. Heks-Sprecher Dieter Wüthrich: «Der Rechtsschutz in allen Regionen war bemüht, mit Beschwerdeeingaben die Rechtsverletzungen zu korrigieren und mit Hilfe der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts dazu beizutragen, dass die Kriterien für Zuweisungen ins erweiterte Verfahren klarer definiert sind.»
An den aktuell publizierten Zahlen des Staatssekretariats fällt auf, dass sehr wenige Asylgesuche innerhalb des beschleunigten Verfahrens positiv beurteilt werden. 2019 wurden in den Bundesasylzentren insgesamt 10 151 Asylgesuche eingereicht. 1566 wurden gutgeheissen. Im beschleunigten Verfahren wurden 385 Fälle (ohne Geburten und Familiennachzug) positiv entschieden – das sind knapp 3,8 Prozent.
Das zeigt, dass das Sem vor allem negative Entscheide beschleunigt, während Personen mit Aussicht auf einen Flüchtlingsstatus lange auf ihren Entscheid warten müssen. Diese Priorisierung halten viele im Asylrecht tätige Anwälte für falsch: Fälle, die gut begründet sind, sollten schneller erledigt werden, da es sich oft um traumatisierte Menschen handelt, für die die lange Verfahrensdauer gesundheitlich schädlich ist und sich negativ auf die Integrationschancen auswirkt.
Laut Gesetz muss das Bundesverwaltungsgericht je nach Art des Verfahrens nun innerhalb von 5 bis 30 Tagen entscheiden. Die neuen Fristen haben auch für das Beschwerdeverfahren beim Bundesverwaltungsgericht einschneidende Folgen, sagt die Berner Rechtsanwältin Annina Mullis: «Welches Gericht kann innerhalb von einer Woche eine Asylbeschwerde sorgfältig und vollständig prüfen?» Dominique Wetli, ist Geschäftsführer der Berner Rechtsberatungsstelle für Menschen in Not, die für die Rechtsvertretung in den Kantonen Zürich und Bern zuständig ist. Er sagt: «Wir haben den Eindruck, dass das Gericht im neuen Verfahren eher schneller kassiert und bei teilweise unvollständig abgeklärten Sachverhalten entsprechend weniger selber materielle Abklärungen vornimmt.» Unzureichend ist laut Juristen die Unabhängigkeit der Rechtsvertretung gegenüber dem Staatssekretariat selbst. Gemäss Gesetz müssen alle Parteien im gleichen Gebäude untergebracht sein. Diese räumliche und organisatorische Nähe wertet die Freiplatzaktion Zürich als problematisch: «Die Vertrauensbildung zur Rechtsvertretung wird nicht ausreichend garantiert.»
Shahryar Hemmaty ist Geschäftsführer der Organisation BBFM – ein Dienstleistungsinstitut im Migrationsbereich mit den Schwerpunkten Asyl- und Migrationswesen. Seiner Meinung nach geniessen die Rechtsvertreter unter den Asylsuchenden kein grosses Vertrauen. Er erhalte «fast täglich Anfragen von Asylsuchenden, ob wir sie als unabhängige Institution im Asylverfahren vertreten würden». Caritas-Sprecher Stefan Gribi ist anderer Meinung: «Die kostenlose Rechtsvertretung und Rechtsberatung sind ein Gewinn für die Asylsuchenden und brachten hinsichtlich fairer Verfahren eine Verbesserung.»
Die Beschwerdefristen sind viel zu kurz
Das neue Recht schreibt vor, dass eine Beschwerde gegen einen Entscheid im beschleunigten Verfahren innert fünf bis sieben Arbeitstagen am Gericht einzureichen ist. Für Hemmaty ist diese Frist zu kurz. Deshalb müsse er viele Mandate ablehnen. «Nicht zu vergessen, dass innert der kurzen Frist auch Beweismittel beschafft, eine Fürsorgebestätigung eingeholt werden muss und die finanzielle Frage abzuklären ist.» Das erlaube Asylsuchenden keine Chance auf einen fundierten Rekurs.
Mullis macht ähnliche Erfahrungen: «Die Frist von sieben Tagen ist für uns Anwältinnen ein Riesenproblem. Es ist eigentlich unmöglich, sich in dieser Zeit sorgfältig in einen Fall einzuarbeiten und eine umfassende Beschwerde einzureichen.» Warte das Bundesverwaltungsgericht zudem in Aussicht gestellte Beweismittel nicht ab und entscheide innerhalb von wenigen Tagen, «erscheint die Gewährleistung des Anspruchs auf Zugang zu einer effektiven Beschwerde nach Art. 13 EMRK in Frage gestellt».