Fehlurteil 2013: «Falsche Argumentation»
Inhalt
Plädoyer 01/2014
03.02.2014
Regula Müller Brunner
Platz 1: «Haarsträubende Signalwirkung»
Die Jury fällte das Verdikt einstimmig: Als Fehlurteil des Jahres 2013 bezeichneten die drei Professoren Roland Fankhauser, Bernhard Rütsche und Christof Riedo den Entscheid 8C_932/2012 der I. sozialrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts vom 22. März 2013 (plädoyer 3/13). Die drei Luzerner Bundesrichter Rudolf Ursprung (Vorsitz), Jean-Maurice Frésard und Marcel Maillard hatten de...
Platz 1: «Haarsträubende Signalwirkung»
Die Jury fällte das Verdikt einstimmig: Als Fehlurteil des Jahres 2013 bezeichneten die drei Professoren Roland Fankhauser, Bernhard Rütsche und Christof Riedo den Entscheid 8C_932/2012 der I. sozialrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts vom 22. März 2013 (plädoyer 3/13). Die drei Luzerner Bundesrichter Rudolf Ursprung (Vorsitz), Jean-Maurice Frésard und Marcel Maillard hatten dem Opfer einer Schlägerei die Leistungen der Unfallversicherung um die Hälfte gekürzt, weil er die Täter durch Zeigen des Stinkefingers provoziert habe. Damit gaben sie der Allianz-Versicherung recht.
Das Urteil ist laut der plädoyer-Jury in der juristischen Argumentation falsch: Der Verletzte habe sich mit seiner Geste nicht aktiv an einem Raufhandel oder einer Schlägerei beteiligt. Das wäre für die im Urteil gutgeheissene Kürzung der Taggeldleistungen um die Hälfte aber nötig gewesen. Der verletzte Autolenker habe zudem nicht agiert, sondern erst auf die massive Provokation der Täter mit dem Zeigen des Stinkefingers reagiert. Der Sachverhalt war nicht umstritten: Die beiden Täter waren in einem Parkhaus vor dem Fahrzeug des Verletzten und seiner Frau hergelaufen, hatten sie beim langsamen Vorbeifahren behindert, mit Gesten provoziert und ihnen Schimpfwörter nachgerufen. Das Bundesgericht argumentierte, der Verletzte habe «aktiv und kausal die erste Ursache dafür geschaffen, dass er danach von den beiden Männern bewusstlos geschlagen worden war». Nach der allgemeinen Lebenserfahrung und dem gewöhnlichen Lauf der Dinge habe er die Gefahr einer tätlichen Auseinandersetzung erkennen müssen.
Das Urteil ist laut Jury nicht nur falsch, sondern auch in seiner «rechtspolitischen Signalwirkung haarsträubend». Es könne doch nicht sein, dass höchstrichterlich legitimiert wird, dass «in der heutigen Zeit bei solchen Vorkommnissen mit einer derartigen Eskalation gerechnet werden muss». Sie fragen sich, welchen Einfluss auf die Rentenhöhe etwa das erstaunte Kopfschütteln des späteren Opfers gehabt hätte.
Platz 2: «Eine skandalöse Medienhetze»
Den zweiten Platz auf der Liste der Fehlurteile erreicht der Entscheid UH 130283 der III. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Zürich vom 17. September 2013. Es handelt sich um die vom Gericht abgesegnete Einweisung des Jugendlichen «Carlos» ins Bezirksgefängnis, obwohl er sich in einer gut laufenden Massnahme befand.
Die Jury bezeichnet die Vorkommnisse als «etwas vom Widerwärtigsten der Justiz im Jahr 2013». Der seit Jahren auf- und straffällige Carlos befand sich in einer erfolgversprechenden Behandlung, als ein Dokumentarfilm über den zuständigen Jugendstaatsanwalt eine grosse mediale Auseinandersetzung auslöste. Carlos wurde negativ dargestellt, seine hohen Behandlungskosten thematisiert. «Für den persönlichen Schutz» wurde er in einer geschlossenen Anstalt untergebracht, da «er dem äusseren Druck von Medienleuten nicht standhalten könne, ohne unbeherrscht impulsiv und aggressiv zu reagieren», so das Obergericht. Die Jury sieht das anders: Man hätte vielmehr Carlos vor der TV-Sendung schützen sollen. Die Folgen der Medienhetze seien beunruhigend. Man werde den Eindruck nicht los, dass sich die Behörden vor einer Medienschelte hätten schützen wollen.
Platz 3: «Ein Klassiker von überspitztem Formalismus»
Der dritte Platz geht an das Bundesstrafgericht. Es berechnete die Beschwerdefrist gegen einen Haftbefehl ab dem Tag des Empfangs durch den Inhaftierten, nicht durch seine Verteidigerin (RH.2013.6 vom 2. Oktober 2013). Der Inhaftierte erhielt den Haftbefehl des Bundesamts für Justiz am 2. September. Am 29. August wusste das Amt aber vom Vertretungsverhältnis. Bei der Verteidigerin ging der Haftbefehl am 3. September ein. Die Beschwerde der Vertreterin vom 13. September hat das Strafgericht als nicht fristgerecht zurückgewiesen. Die Jury findet den Entscheid unverständlich. Gemäss StPO beginnen Beschwerdefristen, wenn eine Mitteilung an den Rechtsbeistand zugestellt wird. «Das Verhalten der Behörden entspricht nicht gerade dem in der StPO verankerten Grundsatz von Treu und Glauben.»