Rang 1: «Schwerer Verfahrensfehler»
Zum Fehlurteil des Jahres 2014 wählte die plädoyer-Jury (siehe Kasten) das Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung des Bun-desgerichts in Luzern (9C_738/ 2013). Eine ausländische Beschwerdeführerin, die nur schlecht Deutsch spricht, hatte eine Invalidenrente beantragt. Das Problem: Ihre psychiatrische Begutachtung erfolgte unter Beizug der Tochter der Versicherten statt einer Dolmetscherin. Gemäss Bundesgericht sei dies zwar nicht lege artis, schmälere den Beweiswert des Gutachtens im konkreten Fall aber trotzdem nicht.
Laut Bernhard Rütsche von der Universität Luzern hat dieses Urteil eine negative Signalwirkung auf medizinische Begutachtungen im IV-Verfahren. Auf dem Spiel stünden das Vertrauen in das Verfahren und dessen Akzeptanz, was im Bereich der IV angesichts der grossen strukturellen Ungleichgewichte zwischen Behördenmacht und oft besonders verletzbaren Personen von besonderer Bedeutung sei. Bernhard Rütsche: «Hier ist ein schwerer Verfahrensfehler passiert, über den das Bundesgericht hinwegsah. Stattdessen stellte es Spekulationen dazu an, dass sich dieser Fehler nicht auf den Entscheid ausgewirkt habe.»
Auch der Freiburger Professor Christof Riedo bezeichnet dieses Urteil als stossend: «Das Bundesgericht sagt, es wäre ohnehin nicht anders herausgekommen, da sich die Frau nicht klar ausdrücken könne. Das ist aber eine reine Vermutung.»
Rang 2: «Verheerende Signalwirkung»
Der zweite Rang geht an die strafrechtliche Abteilung des Bundesgerichts in Lausanne. Laut ihrem Urteil 6B_715/2012 stellen die Ausdrücke «Sau-Ausländer» und «Drecksasylant» keine Rassendiskriminierung im Sinne von Artikel 261bis Absatz 4 StGB dar. Sie hätten keinen Bezug auf eine bestimmte Rasse, Ethnie oder Religion.
Die Verwendung von «Sau-» oder «Dreck-» in Verbindung mit einer Nationalität oder Ethnie werde von unbefangenen Dritten nicht als rassistischer Angriff auf die Menschenwürde aufgefasst.
Für Roland Fankhauser von der Universität Basel ist dieses Urteil das Fehlurteil des Jahres 2014. «Juristisch kann man das Urteil noch halbwegs nachvollziehen. Dass die Menschenwürde mit solchen Ausdrücken wie ‹Sau-Ausländer› aber nicht herabgewürdigt werden soll, ist für mich schlicht nicht nachvollziehbar. Es widerspricht auch dem Verständnis von Laien.»
Christof Riedo präzisiert: «Das Urteil ist zwar im Ergebnis richtig oder mindestens vertretbar. Extrem verunglückt und auch völlig unnötig ist jedoch die Erwägung zur Menschenwürde.» Das könne fatale Auswirkungen haben. Bernhard Rütsche sagt dazu: «Aus dieser Erwägung muss man schliessen, dass man künftig etwa ‹Drecksjude› sagen kann, ohne sich wegen Rassendiskriminierung strafbar zu machen. Damit geht vom Urteil eine verheerende Signalwirkung aus.»
Rang 3: «Bundesgericht sehr streng»
Der dritte Rang geht an das Urteil der I. sozialrechtlichen Kammer, mit dem ein Fehler der Suva zu einem Rechtsverlust eines Behinderten führte (8C_84/2014). In diesem Fall hatte die Anwältin eines Verunfallten eine Einsprache gegen einen Suva-Entscheid einen Tag zu spät eingereicht, weil die Suva die Verfügung falsch datiert hatte: nämlich auf den 5. November 2012, obwohl sie den Entscheid schon am 2. November verschickt hatte. Nach der Zustellung der Verfügung wechselte der Verunfallte die Rechtsvertretung. Die neue Anwältin nahm fälschlicherweise an, die Verfügung sei wie vermerkt am 5. November 2012 erstellt und zur Post gebracht worden. Dann hätte sie frühestens am 6. November 2012 zugestellt werden können, womit die Frist gewahrt worden wäre. Die Suva und das Verwaltungsgericht traten wegen verpasster Frist nicht auf die Rechtsmittel ein, das Bundesgericht wies die Beschwerde ab.
«Hier war das Bundesgericht sehr streng», ist sich die Jury einig. Roland Fankhauser: «Man sollte darauf vertrauen können, dass das Datum auf der Verfügung stimmt. Denn eine Verfügung vom 5. November kann nicht am 2. des Monats zugestellt worden sein.» Der Entscheid des Bundesgerichts fiel mit 3 zu 2 Stimmen aus – gegen den Willen der Präsidentin Susanne Leuzinger. Sie war der Ansicht, dass ein Versicherter darauf vertrauen können müsse, dass die Verwaltungsstellen korrekt handeln.
Die Jury
Eine Jury aus Professoren erkürt jeweils das Fehlurteil des Jahres. Basis des Entscheids sind rechtskräftige Urteile, die der plädoyer-Redaktion aus dem Leserkreis zugesandt werden.
Die Mitglieder der diesjährigen Jury: Roland Fankhauser, Professor für Zivilrecht und Zivilprozessrecht an der Universität Basel; Christof Riedo, Professor für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Universität Freiburg; und Bernhard Rütsche, Professor für öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Universität Luzern.