1. Rang
Die plädoyer-Jury mit den drei Professoren Roland Fankhauser, Christof Riedo und Bernhard Rütsche war sich einig: Die Auszeichnung «Fehlurteil des Jahres 2017» geht an die II. sozialrechtliche Abteilung des Bundesgerichts in Luzern für einen Entscheid vom 14. Juli 2017 (9C_806/2016).
In diesem Urteil ging es um die Verwertbarkeit von unrechtmässig erhobenen Beweismitteln durch die Invalidenversicherung. Die zuständige IV-Stelle liess einen Versicherten, der eine halbe Rente bezog, an vier Tagen jeweils zwischen fünf und neun Stunden observieren. Anschliessend hob sie seine IV-Rente auf. Das Bundesgericht beurteilte das Vorgehen der IV gestützt auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Urteil 61838/10 vom 18. Oktober 2016) als rechtswidrig. Trotzdem erklärte es die unrechtmässig erhobenen Beweismittel als verwertbar. Von einem absoluten Verwertungsverbot rechtswidrig erhobener Beweismittel sei im Sozialversicherungsrecht wohl nur dann auszugehen, wenn die Überwachung in privaten Räumen erfolgt sei. Zudem sei die Observation nicht systematisch oder ständig erfolgt, die Grundrechtsposition sei so nur bescheiden beeinträchtigt worden. Dem gegenüber stehe das öffentliche Interesse an der Verhinderung des Versicherungsmissbrauchs.
Roland Fankhauser, Professor an der Universität Basel, kritisiert: «Das Bundesgericht sieht ein, dass keine gesetzliche Grundlage für die Observation besteht. Trotzdem gelangt es mittels Interessenabwägung dazu, dass die Beweise verwertet werden dürfen.» Das Bundesgericht habe in diesem Fall «sehr ergebnisorientiert» geurteilt. Mit den Grundrechten werde hier etwas gar leichtfertig umgegangen. Die Signalwirkung, die mit diesem Urteil gesetzt werde, sei bedenklich, damit werde die Behörde im Zweifelsfall zu Grundrechtsverletzungen eingeladen.
Laut Christof Riedo, Professor an der Universität Freiburg, manifestiert sich in diesem Urteil ein grundlegendes Problem: «Der Staat hält sich nicht an die eigenen Regeln, die ihn binden sollen.» In einer solchen Konstellation sei die Nichtverwertbarkeit der Beweise die einzige Konsequenz, die den Rechtsstaat schützen könne. «Wenn es für eine Beweiserhebung keine gesetzliche Grundlage gibt, dürfen die entsprechenden Beweise auch bei vordergründig überwiegenden staatlichen Interessen nicht verwertet werden. Schiebt man hier keinen Riegel, ist der Rechtsstaat irgendwann ausgehöhlt.» Für Riedo ist der Entscheid «leider typisch für den Umgang mit Beweisverwertungsverboten».
Auch Bernhard Rütsche, Professor an der Universität Luzern, legt den Finger auf die nachträgliche Interessenabwägung. «Sie unterläuft die rechtsstaatlichen Anforderungen an Überwachungsmassnahmen und hebelt das Gesetzmässigkeitsprinzip ein Stück weit aus.»
2. Rang
Den zweiten Rang vergab die Jury an die I. öffentlich-rechtliche Abteilung des Bundesgerichts in Lausanne. Mit dem Urteil BGE 143 IV 69 verneinte sie einen Ausstandsgrund, wenn derselbe Richter eines Zwangsmassnahmengerichts im Rahmen verschiedener Untersuchungshandlungen mehrere Entscheide fällt. Zudem verweigerte das oberste Gericht dem Beschwerdeführer wegen angeblicher Aussichtslosigkeit die unentgeltliche Rechtspflege – obwohl der Entscheid in Fünferbesetzung gefällt wurde.
«Es ist falsch, wenn das Bundesgericht hier sagt, die Beschwerde sei aussichtslos», sagt Riedo. Ohnehin seien kaum Konstellationen denkbar, in denen es am Bundesgericht einen Entscheid eines Fünfergremiums gebe, in dem die Beschwerde aussichtslos sei. Aussichtslos heisse, dass es unsinnig sei, überhaupt Beschwerde zu führen. «Hier hatte der Beschwerdeführer aber offenbar mindestens einen Richter auf seiner Seite.» Es werde «auf befremdliche Art» auf dem Buckel der Rechtsuchenden Geld gespart.
Rütsche stimmt zu: Das Urteil kranke an einem internen Widerspruch. «Eine Fünferbesetzung bedeutet, dass eine Frage umstritten bzw. eine grundlegende Frage zu entscheiden ist.» Dann könne man den Antrag auf unentgeltliche Rechtspflege «nicht einfach so abschmettern».
Fankhauser ergänzt: «Ich finde es stossend, dass in einem Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege substanziiert dargelegt werden muss, weshalb das ergriffene Rechtsmittel nicht chancenlos ist, das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege aber vom Bundesgericht ohne konkrete Begründung und lediglich mit einem Pauschalverweis auf die materiellen Erwägungen abgewiesen wird.»
3. Rang
Ein weiteres Fehlurteil war in den Augen der Jury der Entscheid der II. zivilrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts (5A_590/ 2016). Das Migrationsamt wollte eine Frau aus der Schweiz wegweisen, da es ihre frühere Ehe mit einem Schweizer als Scheinehe bewertete. Die Frau hat mit ihrem Ehemann ein Kind, das zufolge Anerkennung Schweizer Bürger ist. Deshalb durfte die Frau in der Schweiz bleiben. Die Wohnsitz- und die Heimatgemeinde des Vaters klagten jedoch gegen seine Anerkennung des Kindes. Das Bezirksgericht Winterthur wies die Klage ab, es verneinte die Klageberechtigung der Gemeinden. Das Obergericht des Kantons Zürich bejahte auf Beschwerde hin zwar die Berechtigung zur Klage der Gemeinwesen, lehnte die zwangsweise Durchführung eines DNS-Tests beim Vater aber ab.
Anders das Bundesgericht: Es bejahte die Klageberechtigung der Heimat- und der Wohnsitzgemeinde des Mannes und die Zulässigkeit einer zwangsweisen Durchführung des vom Vater verweigerten DNS-Gutachtens zwecks Klärung der Vaterschaft.
Alle drei Professoren kritisieren, dass das Bundesgericht in diesem Entscheid die Kinderrechtskonvention überging. Bernhard Rütsche bemängelt, die Kinderrechtskonvention werde durch die Bundesgerichtspraxis notorisch zu wenig berücksichtigt: «In diesem Entscheid instrumentalisierte das Bundesgericht das Zivilrecht zudem für ausländerrechtliche Anliegen.» Ausländerrechtliche öffentliche Interessen seien so weit wie möglich aus zivilrechtlichen Entscheiden herauszuhalten.
Auch Roland Fankhauser stört es, dass das Bundesgericht mit dem Urteil Bestrebungen, mit Zivilrecht Ausländerrecht zu betreiben, weiter stärke. «Auch die Bejahung der zwangsweisen Durchsetzung eines Wangen-schleimhautabstrichs zur Feststellung der DNS lässt eine kritische grundrechtliche Reflektion vermissen.»
Christof Riedo findet «die Art und Weise, wie in diesem Urteil argumentiert wird, stossend». Die Schweiz sei mit der Kinderrechtskonvention internationale rechtliche Verpflichtungen eingegangen, die vom Bundesgericht aufgrund von migrationspolitischen Überlegungen missachtet worden seien.