1. Rang
Die dreiköpfige plädoyer-Jury hat ein Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung des Bundesgerichts in Lausanne zum «Fehlurteil des Jahres 2018» erkoren. Es handelt sich um einen zur Publikation vorgesehenen Entscheid vom 29. Oktober 2018 (1C_163/2018, 1C_239/2018). Darin ging es um Beschwerden der Piratenpartei im Zusammenhang mit der Abstimmung über das Geldspielgesetz. Das Bundesgericht wies die Beschwerden ab. Gemäss dem höchsten Schweizer Gericht heilt ein klares Ergebnis der Abstimmung eine potenziell unzulässige Finanzierung des Abstimmungskampfes. Zudem hätten die im Vorfeld der Abstimmung vom 10. Juni 2018 erfolgten behördlichen Interventionen – das Abstimmungsvideo der Bundeskanzlei, Medienmitteilungen der Kantone sowie von Swisslos/Loterie Romande – die Abstimmungsfreiheit nicht verletzt.
Bernhard Rütsche, Professor an der Universität Luzern, kritisiert: «Wegen des grossen Stimmenunterschieds schaut das Bundesgericht nicht richtig hin, was während der Abstimmungskampagne passierte.» So würden die beiden Medienmitteilungen der Konferenz der Kantonsregierungen (KDK) und von Swisslos/Loterie Romande vorschnell als «objektiv und sachlich» betrachtet. «Eine echte Auseinandersetzung mit diesen beiden Medienmitteilungen findet jedoch nicht statt.»
Rütsche bemängelt zudem, dass das Bundesgericht der Frage nicht nachging, wie viel Geld von den Lotteriegesellschaften in den Abstimmungskampf investiert wurde. «Mit Blick auf den Schutz der Abstimmungsfreiheit ist dies aber eine wesentliche Frage.» Es gehe um Waffengleichheit im Abstimmungskampf sowie darum, dass finanzpotente Akteure im Spiel seien, die mit dem Staat eng verbunden seien. «Swisslos ist eine Genossenschaft, in der die Kantone vertreten sind.» Es sei sehr wohl mitentscheidend, wie viel Geld der Staat oder staatsnahe Unternehmen in einer Abstimmungskampagne einsetzen würden. «Nach ständiger Rechtsprechung müssen die Kantone diesbezüglich sehr zurückhaltend sein.»
Laut Rütsche hätte das Bundesgericht unabhängig vom Abstimmungsresultat abklären sollen, wie viel Geld von den Lotteriegesellschaften in den Abstimmungskampf investiert wurde. «Als Rechtsfolge hätte das Gericht im Sinne eines Appellentscheids festhalten können, dass die Wahl- und Abstimmungsfreiheit verletzt wurde.» Generell könnte das Bundesgericht in diesem Bereich viel häufiger förmliche Feststellungsentscheide fällen.
Auch Roland Fankhauser, Professor an der Uni Basel, hält das Urteil in der rechtlichen Begründung für sehr dünn. «Die eigentliche ratio decidendi ist kaum begründet.» Dies sei stossend, da das Bundesgericht bei der Beurteilung von Beschwerden ziemlich streng sei. So bezeichne es Kritik nicht selten als bloss appellatorisch und moniere, die Beschwerde habe zu wenig klargemacht, inwiefern das angefochtene Urteil willkürlich sei. «Vergleicht man die Anforderungen an Beschwerden und die entscheidrelevanten Erwägungen des Urteils, erkennt man eine riesige Diskrepanz.»
Der eigentliche Begründungssatz sei im Urteil unbegründet und bestehe aus einem Satz. So werde zum Beispiel in der Schlusserwägung gesagt, die Interventionen hätten eine beschränkte Bedeutung gehabt. «Belege, auf die man sich abstützte, werden aber keine angegeben.» Dies sei damit letztlich eine reine Prognose ohne jegliche Anhaltspunkte.
Professor Christof Riedo von der Universität Freiburg stört wie Rütsche, dass das Bundesgericht lapidar festhalte, das Abstimmungsergebnis sei derart klar gewesen, dass unerheblich bleibe, was in der Abstimmungskampagne passiert sei. Weiter will sich Riedo indes nicht äussern, weil er mit Bezug auf das Geldspielgesetz aufgrund persönlicher Beziehungen als befangen gelten müsse.
2. Rang
Der zweite Rang geht an das Bundesverwaltungsgericht. Das Bundesamt für Migration hatte das Asylgesuch eines Kurden wegen Gefährdung der inneren und äusseren Sicherheit abgewiesen. Begründung: Der Kurde habe an einem Kongress einer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) nahen Organisation teilgenommen. Das Bundesverwaltungsgericht bestätigte mit Urteil E-2412/2014 vom 25. September 2018 diesen Entscheid.
Riedo erachtet dieses Urteil als extrem stossend. Lasse man eine Organisation in der Schweiz zu, könne man aus der Mitgliedschaft in dieser Organisation auch keine Asylunwürdigkeit ableiten. Strafbare Verhaltensweisen habe man dem Gesuchsteller nicht nachweisen können. «Auf dieser Grundlage kann man dem Gesuchsteller keine konkrete Gefährdung der inneren Sicherheit vorwerfen – und eine rein abstrakte Gefährdung kann hier nicht ausreichen.» Der Gesuchsteller müsse zudem im Asylverfahren darlegen, dass er eine Flüchtlingseigenschaft aufweise. «Der Gesuchsteller muss also eine gewisse Nähe – hier zu politischen Kreisen – dartun.» Umgekehrt werde ihm dann genau dies zum Vorwurf gemacht.
Auch Roland Fankhauser hält das Urteil für «hochproblematisch». Den Ausführungen von Kollege Christof Riedo stimmt er zu 100 Prozent zu. Und er fragt sich, ob man an den Gesuchsteller nicht Anforderungen stellt, die sonst an niemanden gestellt werden.
Rütsche ergänzt, dass eine Asylunwürdigkeit gemäss Gesetz eine Gefährdung der inneren oder äusseren Sicherheit verlange. «Das Bundesverwaltungsgericht argumentiert jedoch mit neutralitätspolitischen Überlegungen.»
3. Rang
Den dritten Rang vergaben die Professoren an die Strafrechtliche Abteilung des Bundesgerichts (Urteil 1B_192/2018 vom 17. Juli 2018). Dieses Urteil bezeichnete eine amtliche Verteidigung für einen Angeklagten als unnötig, obwohl der Vorwurf einer erheblichen Körperverletzung im Raum stand.
«In der Begründung ist dieses Urteil teilweise sehr stossend», sagt Riedo. Der Entscheid sei Ausdruck einer Geringschätzung der Verteidigung. «Es ist ein Beispiel unter vielen, das zeigt, dass die Verteidigung wenn immer möglich für unnötig befunden wird.»
Im Urteil geht es um eine mittellose Person mit psychischen Problemen. Worin die Persönlichkeitsstörung besteht und weshalb sie den Beschuldigten nicht beeinträchtigen soll, ist aus der Begründung nicht ersichtlich. Riedo führt aus, es werde lediglich festgehalten, der Beschuldigte habe sich zum Tatvorwurf geäussert und Einsprache gegen den Strafbefehl erhoben und es sei deshalb nicht ersichtlich, weshalb er seine Interessen nicht selbst wahrnehmen könne. «Wenn Verteidigung derart banal und belanglos wäre, könnte man sie abschaffen.»
Rütsche ergänzt: «Mir fehlt eine genauere Auseinandersetzung mit der Frage, ob es ein Bagatellfall ist.» Auch werde auf die Auswirkungen der Geldstrafe für den von Sozialhilfe abhängigen Betroffenen nicht eingegangen. Fankhauser hält die bundesgerichtliche Einschätzung, die Verfahrensleitung könne gestützt auf ihre Fürsorgepflicht später immer noch eine Vertretung anordnen, sollte der Beschwerdeführer den Anforderungen des Verfahrens nicht gewachsen sein, für etwas gar optimistisch.
Die Jury
Eine Jury aus Professoren kürt am Jahresende das Fehlurteil des Jahres. Basis der Beurteilung sind rechtskräftige Entscheide des Jahres 2018, die der plädoyer-Redaktion von den Leserinnen und Lesern als Fehlurteil vorgeschlagen wurden. Die Mitglieder der diesjährigen Jury: Roland Fankhauser, Professor für Zivilrecht und Zivilprozessrecht an der Universität Basel, Christof Riedo, Professor für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Universität Freiburg, und Bernhard Rütsche, Professor für öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Universität Luzern.