1. Rang: «Unbegrenzte Pathologisierung der Kriminalität»
Die dreiköpfige plädoyer-Jury mit der Professorin Eva Maria Belser sowie den Professoren Christopher Geth und Kurt Pärli war sich einig: Das «Fehlurteil des Jahres» fällte die Strafrechtliche Abteilung des Bundesgerichts in Lausanne. Im Entscheid 6B_933/2018 vom 3. Oktober 2019 ging es um eine ambulante Massnahme. Das Bundesgericht hatte zu entscheiden, ob psychische Störungen, die eine Massnahme erlauben, an psychiatrische Standards gebunden bleiben. Das Gericht verneinte dies: Auch Störungen, die in den diagnostischen Klassifikationen nicht vorkommen, könnten als psychische Störungen im Rechtssinne qualifiziert werden. Solche «Störungen sui generis» könnten als schwer gelten, wenn sie einen massgeblichen Einfluss auf die Tat hatten. Im erwähnten Entscheid erachtete das Bundesgericht eine ambulante Massnahme für rechtens, obwohl «keine psychischen Störungen im engeren Sinne» festgestellt wurden. Vielmehr lägen «deliktrelevante Persönlichkeitsmerkmale mit Krankheitswert» vor, die sich therapeutisch behandeln liessen.
Christopher Geth, Strafrechtler an der Uni Bern, kritisiert: «Die Abkoppelung vom medizinischen Klassifikationssystem führt zu einem Wildwuchs bei der Annahme des Begriffs der psychischen Störung.» Gestellte Diagnosen seien kaum mehr überprüfbar und unklar. «Damit besteht die Gefahr der Willkür bei der Feststellung einer psychischen Störung.»
Auch eine historische Auslegung spricht gegen den Bundesgerichtsentscheid: Laut Geth wollte sich der Gesetzgeber für die Auslegung des Begriffs der «psychischen Störung» am medizinischen Klassifikationssystem orientieren und keine eigenständige Begrifflichkeit einführen. «Das Bundesgericht hat dies nun aber getan.»
Eva Maria Belser von der Uni Freiburg kritisiert zudem, dass laut Bundesgericht die beiden festgestellten «Störungen» – die «narzisstische Persönlichkeit» und der «Dominanzfokus» – kombiniert werden könnten. «So können wohl fast beliebige Persönlichkeitsmuster von Täterinnen und Tätern zur Anerkennung einer Störung sui generis führen.» Zwar müssten psychische Störungen nach Gesetz «schwer» sein. Doch auch damit mache es sich das Bundesgericht leicht: Es begründet die Schwere damit, dass der Zusammenhang zur Tat «intensiv» sei. Auch methodologisch ist Belser vom Entscheid nicht überzeugt. Im Ergebnis sage das Bundesgericht, dass Behandlungen, auch Verwahrungen, verfügt werden könnten, wenn eine Gesamtbetrachtung es als sinnvoll erscheinen lasse. «Dies ist jedoch so unbestimmt formuliert, dass es nahezu unbeschränkte Möglichkeiten eröffnet, Kriminalität zu pathologisieren.»
Kurt Pärli von der Uni Basel sieht sich bei der Durchsicht des Entscheids «unangenehm an gewisse Urteile der I. sozialrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts erinnert». «In diesen masst sich das Bundesgericht teils an, über medizinische Fragen zu entscheiden.» Und dies, obwohl die Frage, was die medizinische Frage und was die normative Bewertung sei, oft nicht schwierig zu beantworten sei.
2. Rang: «Machtgefälle von Versicherungen zu Versicherten ignoriert»
Den zweiten Rang vergaben die Professoren an die I. zivilrechtliche Abteilung des Bundesgerichts (4A_196/2019 vom 10. Juli 2019). In diesem Urteil befasste sich das höchste Gericht mit der Frage des Zusammenspiels zwischen einer vertraglichen Verfallklausel (Artikel 46 Absatz 2 des Versicherungsvertragsgesetzes) und der gesetzlichen Verjährungsfrist von Versicherungsansprüchen. Es entschied, eine Verfallklausel und eine gesetzliche Verjährungsfrist würden sich nicht gegenseitig ausschliessen. Die zweijährige Frist einer Verfallklausel bleibe deshalb grundsätzlich durch die Erklärung, für eine bestimmte Zeit auf die Einrede der Verjährung zu verzichten, unbeeinflusst und laufe weiter. Folge: Auch eine noch nicht verjährte Forderung kann verwirken. Anwälte müssen deshalb nun dafür sorgen, dass eine Versicherung explizit auch auf die Verwirkung verzichtet, wenn sie einen Verjährungsverzicht unterschreibt.
Belser bezeichnet dieses Urteil als «schwer verständlich». Laut Belser hat das Bundesgericht damit die Chance verpasst, das Gesetz versicherungsnehmerfreundlicher auszulegen. Fachleute würden zwar die Unterscheidung zwischen Verjährung und Verwirkung ohne weiteres verstehen. «Das Bundesgericht hätte aber vermeiden können, dass diese Unterscheidung Laien entgegengehalten werden kann.» Am Ende des Urteils heisse es, wenn der Versicherungsnehmer diesen Unterschied nicht kenne, habe er das sich selbst zuzuschreiben. «Diese Bemerkung stört mich angesichts des Machtgefälles zwischen Versicherungen und ihren Versicherten sehr.»
Kurt Pärli pflichtet seiner Kollegin bei. «Nicht nur Laien haben Probleme mit der Unterscheidung. Auch viele Studenten verstehen den Unterschied zwischen Verjährung und Verwirkung nach einigen Semestern noch nicht.» Auch er hätte sich daher eine konsumentenfreundlichere Auslegung durch das Bundesgericht gewünscht. «Dies wäre möglich gewesen, ohne contra legem zu entscheiden.» Christopher Geth schliesst sich dieser Argumentation seiner beiden Kollegen an.
3. Rang: «Das Urteil lässt Mieter ratlos zurück»
Der dritte Rang geht ebenfalls an die I. zivilrechtliche Abteilung des Bundesgerichts. Sie äusserte sich in ihrem Urteil 4A_563/2017 vom 19. Februar 2019 zur Frage, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen der Mieter eine Schadenersatzklage wegen vorgeschobenen Eigenbedarfs erheben kann, nachdem er die Kündigung erfolglos angefochten hatte. Das Bundesgericht verwies auf das Prozessrecht: Das Mietgericht Zürich habe rechtskräftig entschieden, dass die Kündigung nicht rechtsmissbräuchlich sei. An diese Feststellung sei es im zweiten Prozess gebunden, wenn im Rahmen einer Klage auf Schadenersatz erneut geltend gemacht werde, die Kündigung verstosse gegen Treu und Glauben, weil der Eigenbedarf nach dem Auszug nicht realisiert wurde.
Pärli stört sich vor allem am Ergebnis. Es lasse Mieter ratlos zurück. «Diese können eine Täuschung über den wahren Kündigungsgrund nicht mehr geltend machen, wenn der rechtskräftige Entscheid im Kündigungsschutzverfahren vorliegt.» Auch Belser und Geth finden das Urteil im Ergebnis für die Mieter «sehr unbefriedigend». Belser verweist auf Handlungsbedarf des Gesetzgebers. «Das Gericht hätte den Gesetzgeber auffordern können, nachzubessern.» Er ist aufgrund der Bundesverfassung verpflichtet, wirksame Vorschriften gegen Missbräuche im Mietwesen zu erlassen.
Die Jury
Eine Jury aus Professoren kürte am Jahresende das Fehlurteil des Jahres. Basis der Entscheide sind rechtskräftige Entscheide des Jahres 2019, die der plädoyer-Redaktion aus dem Leserkreis vorgeschlagen wurden. Die Mitglieder der diesjährigen Jury: Eva Maria Belser, Professorin für Staats- und Verwaltungsrecht an der Uni Freiburg, Christopher Geth, Assistenzprofessor für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Uni Bern, und Kurt Pärli, Professor für Soziales Privatrecht an der Uni Basel.