1. Rang: «Das Bundesgericht ignoriert die Lehre»
Das Fehlurteil des Jahres 2021 stammt aus der strafrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts. Die dreiköpfige plädoyer-Jury ist sich einig: Das Urteil 6B_913/2021 vom 25. Oktober 2021 strotzt nur so vor «Unstimmigkeiten». Strittig war die Verwertbarkeit von durch die Polizei unrechtmässig erhobenen Beweismitteln. Polizisten hatten beim Beschwerdeführer ohne Hausdurchsuchungsbefehl gegen seinen Willen eine Alkoholprobe vorgenommen. Das Bundesgericht stützte seinen Entscheid auf Artikel 213 Absatz 2 StPO. Danach darf die Polizei bei Gefahr in Verzug private Räumlichkeiten auch ohne Hausdurchsuchungsbefehl betreten. Auch einen nachträglichen Hausdurchsuchungsbefehl erachtete es nicht als nötig.
Niklaus Ruckstuhl, Titularprofessor an der Uni Basel, kritisiert den Entscheid. Die «Gefahr im Verzug» müsse sich hier auf den Verlust von Beweismitteln beziehen. «Diese Voraussetzung war nicht erfüllt, da der Beschuldigte in der Garage seines Hauses angetroffen wurde und der Befehl für eine Alkoholkontrolle problemlos von der Staatsanwaltschaft erhältlich gemacht werden konnte.» Und nach einer Hausdurchsuchung müsse analog zu Artikel 241 Absatz 3 StPO die Staatsanwaltschaft unverzüglich informiert werden. «Doch davon liest man im Bundesgerichtsentscheid kein Wort.»
Sinn dieser Information an die Staatsanwaltschaft sei, dass diese dann zumindest nachträglich noch einen schriftlichen Befehl ausstellen und zustellen müsse. «Und zwar schon allein deshalb, damit ein Anfechtungsobjekt vorliegt, gegen das der Betroffene Beschwerde führen kann und das Klarheit über den Fristenlauf schafft.» Das Bundesgericht behaupte, weder der Gesetzestext noch die Botschaft, noch die Lehre verlange dies, «obgleich das offensichtlich falsch ist», sagt Ruckstuhl. Die beiden Hauptkommentare zur StPO würden dies ausdrücklich verlangen. «Das Bundesgericht ignoriert hier schlicht die Lehre.»
Eva Maria Belser, Professorin an der Universität Freiburg, pflichtet ihm bei. Sie findet es «gravierend, wenn sich das Bundesgericht nicht oder schludrig mit der Lehre auseinandersetzt». Die Lehre gehöre zu den subsidiären Rechtsquellen. «Eine sorgfältige Auseinandersetzung mit ihr ist für das Bundesgericht Pflicht.» Zudem seien Verletzungen der Privatsphäre «keine Banalität». Das Bundesgericht hätte das klar zum Ausdruck bringen sollen.
Der zweite Rang geht an die Erste sozialrechtliche Abteilung des Bundesgerichts: Ein gelernter Zimmermann begann ein Studium zum Holzbauingenieur. In den Semesterferien arbeitete er befristet während knapp vier Wochen in einer Holzfirma. Dabei erlitt er einen schweren Unfall mit einer Schädelbasisfraktur mit anschliessender Epilepsie. Die Suva berechnete eine Schädigung der Integrität von 50 Prozent und einen Invaliditätsgrad von 51 Prozent. Den versicherten Verdienst berechnete sie aufgrund der befristeten Anstellungsdauer mit nur 6027 Franken und gewährte eine monatliche Rente von 205 Franken. Wäre der Rechtsuchende als Lehrling im Rahmen der Erstausbildung, als Praktikant oder gar als Schnupperlehrling verunfallt, läge die Rente rund zehnmal höher. Das Bundesgericht wies die Beschwerde des Studenten ab. Es verneinte bei Artikel 24 Absatz 3 UVV eine unechte Lücke und delegierte den Handlungsbedarf an den Gesetzgeber (Urteil 8C_773/2020 vom 9. November 2021).
Für den Basler Professor Kurt Pärli ist das Urteil stossend: «Das Bundesgericht erkennt den Handlungsbedarf, verweist aber auf den Gesetzgeber.» Das gleiche Bundesgericht habe sich in anderen sozialversicherungsrechtlichen Fragen durchaus die Rolle des Gesetzgebers angemasst.» Vor allem im Bereich der Invalidenversicherung, «wenn es um die Erhöhung der Zugangshürden für Renten ging».
Auch Eva Maria Belser wertet das Urteil als «furchtbar mutlos». Eine unechte Lücke hätte gar nicht angenommen werden müssen. Belser: «Dieser Begriff sollte ohnehin endlich aus der Welt geschafft werden. Es hätte gereicht, die Rechtsprechung zu ändern.» Dafür gebe es gute Gründe: «Unter anderem hat sich die Ausbildungslandschaft geändert, es gibt eine Pflicht zur Förderung der Aus- und Weiterbildung und die Zahl der Werkstudenten nimmt zu.» Das Bundesgericht hätte ihrer Ansicht nach die Unfallversicherungsverordnung zeitgemäss und verfassungskonform auslegen sollen.
Den dritten Rang holte sich die Erste zivilrechtliche Abteilung. Im Urteil 4A_234/2021 vom 9. September 2021 ging es um einen Unfall zwischen Fussgängern und einem Motorrad: Eine nicht ortskundige Mutter überquerte mit ihrer fünfjährigen Tochter zu Fuss eine Hauptstrasse, um zur Postautostation zu gelangen. Beide wurden von einem Motorrad erfasst. Die Tochter erlitt schwere Kopf- und Hirnverletzungen. Die Gemeinde schoss die Heilungskosten vor. Die Haftpflichtversicherung des Motorradhalters erklärte gegenüber der Gemeinde, sie beteilige sich zu 50 Prozent an den Heilungskosten. Die Tochter klagte die Motorfahrzeughaftpflichtversicherung ein. Das erstinstanzliche Gericht hiess die Klage gut. Das Kantonsgericht Graubünden hingegen lehnte die Haftung des Halters ab. Begründung: Die Mutter habe den Unfall durch grobes Verschulden verursacht, weil sie die Strasse mit ihrer Tochter – ohne auf den Verkehr zu achten – überquert habe. Das Bundesgericht bestätigte den Entscheid. Der Mutter sei ein grobes, die Kausalität unterbrechendes Drittverschulden anzulasten.
«Diese Argumentation überzeugt nicht», sagt dazu Kurt Pärli. «Insbesondere im Verhältnis zur Betriebsgefahr, die von einem Motorrad ausgeht, kann im vorliegenden Fall nicht von einem haftungsdurchbrechenden Drittverschulden ausgegangen werden.» Auch Eva Maria Belser leuchtet nicht ein, weshalb das Selbstverschulden der Mutter die Betriebsgefahr des schweren Motorrads vollkommen verdrängen solle. Und Niklaus Ruckstuhl sieht eine «übermässige Gewichtung» des Verschuldens der Mutter. Die Betriebsgefahr des Motorrads könne nicht völlig ausser Acht gelassen werden, da sich daraus eine erhöhte Sorgfaltspflicht auf Seiten des Motorradfahrers ergebe.
Die Jury
Eine Jury kürt jeweils am Jahresende das Fehlurteil des Jahres. Basis waren rechtskräftige Entscheide des Jahres 2021, die der plädoyer-Redaktion von den Lesern vorgeschlagen wurden. Die Mitglieder der diesjährigen Jury:
Eva Maria Belser, Professorin für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Freiburg, Kurt Pärli, Professor für Soziales Privatrecht an der Universität Basel, und Niklaus Ruckstuhl, Titularprofessor für Strafrecht an der Universität Basel.