Zum Fehlurteil des Jahres 2015 wählte die plädoyer-Jury einstimmig ein Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts in Luzern (BGE 141 I 70): Das Bundesgericht erachtete es als nicht willkürlich, einer unentgeltlichen Anwältin die Entschädigung für den Aufwand ihres Vertreters während ihres Mutterschaftsurlaubes zu verweigern.
Laut dem Bundesgericht bedarf demnach eine Stellvertretung des unentgeltlichen Rechtsbeistands einer Bewilligung durch das Gericht. Und ohne eine solche Bewilligung könne der Aufwand eines substituierten Rechtsvertreters nicht in Rechnung gestellt werden.
Christof Riedo, Professor an der Universität Freiburg, weist darauf hin, dass Anwälte gesetzlich verpflichtet sind, im Rahmen der unentgeltlichen Rechtspflege Rechtsvertretungen zu übernehmen. Im Ergebnis empfindet er das Urteil deshalb als «stossend». Der amtlich eingesetzte Anwalt müsse nach dieser Praxis die Kosten für seine Stellvertretung selbst übernehmen.
“Sehr apodiktisch und zu wenig differenziert”
Gleicher Meinung ist der Basler Professor Roland Fankhauser. «Schaut man die Begründung an, ist das Urteil sehr apodiktisch und zu wenig differenziert, vor allem dessen Bedeutung für sonstige Ferienvertretungen.» Bei der Beschneidung der Rechte im Rahmen der unentgeltlichen Prozessführung müsse man genau hinsehen, da die Gerichte in diesem Bereich, namentlich beim Umfang der Entschädigung, oft fern der realen (anwaltlichen) Verhältnisse entscheiden würden.
Bernhard Rütsche von der Universität Luzern stört vor allem die Tragweite des Urteils, wie sie aus der Begründung hervorgeht. «Es geht um den Zugang zur Rechtspflege. Mit diesem Urteil wird das System der unentgeltlichen Rechtspflege insgesamt ein Stück weit geschwächt.» Der Professor sieht keine öffentlichen Interessen, die es rechtfertigen würden, für jede vorübergehende Einsetzung eines Stellvertreters im Rahmen der unentgeltlichen Prozessführung eine Bewilligung zu verlangen. «Prozessökonomisch ist das widersinnig und für die Qualitätssicherung nicht nötig.»
“Methodisch falsches Urteil mit stossendem Ergebnis”
Der zweite Rang geht an die II. sozialrechtliche Abteilung des Bundesgerichts. Eine Schweizerin war in den Ferien in Paris erkrankt und musste notfallmässig ins Spital. Das Spital stellte 20 Prozent Selbstbehalt in Rechnung. Das entspricht französischem Recht. In der Schweiz hätte die Patientin weder Franchise noch Selbstbehalt bezahlen müssen. Laut der Krankenversicherungsverordnung (KVV) wäre die Grundversicherung verpflichtet, im Ausland bis zum Doppelten des Schweizer Tarifs zu bezahlen. Trotzdem weigerte sich die Krankenkasse, den in Frankreich geleisteten Selbstbehalt zu übernehmen. Das Bundesgericht schützte dieses Vorgehen, es berief sich auf die bilateralen Verträge, die aber die Schweizer im EU-Ausland besser stellen wollten als im übrigen Ausland (9C_209/2015).
Rütsche bezeichnet die Auslegung der Bundesrichter als «formalistisch»: «Es kann nicht sein, dass eine innerstaatliche Bestimmung, deren Zweck die Begünstigung der Versicherten ist, nämlich die Übernahme von Behandlungskosten im Ausland, durch einen Staatsvertrag unterlaufen wird, der ebenfalls den Zweck hat, die Versicherten zu begünstigen.» Hier werde nicht teleologisch, sondern formalistisch, das heisst den Buchstaben nach, ausgelegt. «Dies führt zu einem stossenden Ergebnis, welches auch methodisch falsch ist.»
Auch für Riedo ist dieser Entscheid vom Ergebnis her nicht einleuchtend. Das Bundesgericht lege eine Gesetzesbestimmung relativ oft teleologisch aus. «Geht es etwa darum, dem Staat Kosten zu sparen, wird dies laufend getan.» Ausgerechnet dort, wo die Patienten begünstigt werden sollten, klebe man aber am Buchstaben.
Fankhauser sieht «schlicht nicht ein, weshalb das – international der Personenfreizügigkeit dienende – europäische Koordinationsrecht zu einer Nivellierung nach unten führen soll»: «Mit der Bestimmung in der KVV wird ja jeder für dumm verkauft!»
“Überspitzt formalistisch bei Rechtsvertretern …”
Den dritten Rang im Wettstreit um das Fehlurteil des Jahres 2015 vergaben die Professoren an die II. öffentlich-rechtliche Abteilung des Bundesgerichts in Lausanne. Gemäss diesem Entscheid muss ein Anwalt sein Schreiben explizit als Einsprache bezeichnen. Zugleich wird hingegen ein Schreiben der Gebäudeversicherung ohne eine entsprechende Bezeichnung und ohne Rechtsmittelbelehrung als Verfügung qualifiziert (2C_647/2014).
“… bei Behörden jedoch grosszügig”
Rütsche stösst sich an der Asymmetrie der Massstäbe. Es sei unfair, dass man bei Behörden und Parteien unterschiedliche Sorgfaltsmassstäbe ansetze: «Schreiben der Behörden, die Verfügungscharakter haben, müssten eigentlich von Gesetzes wegen als Verfügungen bezeichnet werden.» Hier sei das Bundesgericht grosszügig – während es in Bezug auf Eingaben von Rechtsvertretern sehr streng, wenn nicht geradezu überspitzt formalistisch sei.
Roland Fankhauser ist gleicher Meinung. Auch Riedo stört sich an der widersprüchlichen Rechtsprechung: «Es werden ganz unterschiedliche Anforderungen gestellt: Eine Behörde, die laufend Verfügungen erlässt, kann sich Fehler erlauben, ein Anwalt nicht.»
Für den Zivilrechtler Fankhauser wäre das Urteil 5A_51/2015 der II. zivilrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts ebenfalls ein Kandidat für Rang 3. Es betrifft einen Rückführungsentscheid. Fankhauser stösst sich daran, dass das Bundesgericht bei solchen Entscheiden das Schwellenalter für die Berücksichtigung des Kindeswillens – im Vergleich zu anderen Bereichen – sehr hoch ansetzt, nämlich bei 14 Jahren. «Fast noch mehr stört mich aber, dass die Bundesrichter in den Erwägungen 6.1 und 6.2 ohne Rückgriff auf fachliche Kompetenz eigene psychologische und aussagepsychologische Mutmassungen anstellen, um eine schwerwiegende Gefahr im Fall einer Rückkehr zu verneinen.»
Die Jury
Eine Jury aus Professoren erkürt jeweils das Fehlurteil des Jahres. Basis des Entscheids sind rechtskräftige Entscheide, die der plädoyer-Redaktion aus dem Leserkreis zugesandt werden.
Die Mitglieder der diesjährigen Jury: Roland Fankhauser, Professor für Zivilrecht und Zivilprozessrecht an der Universität Basel; Christof Riedo, Professor für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Universität Freiburg; und Bernhard Rütsche, Professor für öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Universität Luzern.