Die dreiköpfige plädoyer-Jury war sich einig: Der Titel «Fehlurteil des Jahres 2016» geht dieses Jahr an die II. zivilrechtliche Abteilung des Bundesgerichts in Lausanne. Im Urteil 5A_52/2015 legte es fest, dass für die Vertretung von Kindern in familienrechtlichen Verfahren in der Regel keine Anwältin oder kein Anwalt nötig sei.
Rang 1: Kind zum Objekt degradiert
Das Scheidungsgericht, so das Bundesgericht, wähle als Rechtsbeistand «eine in fürsorgerischen und rechtlichen Fragen erfahrene Person». Da es sich bei der Kindesvertretung funktionell nicht um eine anwaltliche Tätigkeit handle, sei davon auszugehen, dass ein Verfahrensbeistand durch eine Anwältin oder einen Anwalt den Ausnahmefall bilde.
Roland Fankhauser, Professor an der Universität Basel, kritisiert: «Dieses Urteil widerspricht diametral dem aktuellen Meinungsstand in der Lehre und der langjährigen Praxis, wie sie in den Kantonen gepflegt wurde.» Das Urteil sei ein Rückschritt, das Kind werde wieder als Objekt betrachtet. «Gemäss diesem Urteil soll der Kindsvertreter das Kind begutachten – und nicht dafür sorgen, dass das Kind als Subjekt am Prozess teilnehmen kann.»
Christof Riedo, Professor an der Universität Freiburg, stimmt zu: «Man tut so, als würde es genügen, den betroffenen Kindern während des Verfahrens ein wenig die Hand zu halten.» Dabei sollte ihnen jemand zur Seite gestellt werden, der selbständig deren Interessen wahrnehmen könne. Dieser Aspekt werde im Urteil viel zu wenig betont. Auch der Luzerner Professor Bernhard Rütsche unterstreicht, dass die anwaltliche Vertretung in erster Linie subjektiv die Interessen des Kindes wahrnehmen müsse.
Rang 2: Privatkonkurs abgeschafft
Der zweite Rang geht ebenfalls an die II. zivilrechtliche Abteilung des Bundesgerichts. Mit dem Urteil 5A_78/2016 schaffte sie den Privatkonkurs faktisch ab. Sie entschied, eine Insolvenzerklärung von Privatpersonen sei rechtsmissbräuchlich, wenn der Schuldner über keine Aktiven verfüge, die er an seine Gläubiger verteilen kann (plädoyer 5/16).
Für Rütsche ist dieser Entscheid gesetzeswidrig: Artikel 191 SchKG sehe nämlich in keiner Art und Weise vor, dass noch Aktiven für einen Privatkonkurs vorhanden sein müssten. «Zudem geht das Urteil auch am Zweck dieser Bestimmung vorbei. Der Privatkonkurs soll es dem Schuldner nämlich ermöglichen, einen wirtschaftlichen Neustart zu machen.» Im Ergebnis sei das Urteil unpraktikabel und führe zu Rechtsunsicherheit. Es stelle sich die Frage, wie viele Aktiven vorhanden sein müssten, damit der Schuldner den Privatkonkurs verlangen könne.
Laut Riedo verlange das Bundesgericht mit diesem Entscheid, dass eine zusätzliche Voraussetzung ins Gesetz hineingelesen werde muss, die nicht nur nicht im Gesetz stehe, sondern dem Zweck dieses Rechtsinstituts widerspreche. «Es geht ja gerade darum, dass sich der Schuldner erholen können soll.» Riedo sieht zwar ein gewisses Missbrauchspotenzial dieser Bestimmung. Das könne aber nicht dazu führen, dass ein «Rechtsinstitut ausgehöhlt wird, das volkswirtschaftlich sinnvoll ist.» Für Fankhauser bedeutet das Urteil, dass der Schuldner den Privatkonkurs verlangen müsste, solange er noch über Aktiven verfügt. «Dies widerspricht der Realität. Zunächst versucht man doch, sämtliche Löcher zu stopfen – bis es einfach nicht mehr geht.» So bestrafe das Urteil letztlich den willigen Schuldner.
Rang 3: Zwang zum Kostenvorschuss
Den dritten Rang vergaben die Professoren an die II. öffentlich-rechtliche Abteilung in Lausanne (Urteil 2C_586/2016). Ein Rechtsanwalt hatte in seiner Eigenschaft als Willensvollstrecker des Nachlasses eines Berufskollegen um Entbindung vom Anwaltsgeheimnis nachgesucht, um eine aus dem Nachlass stammende Honorarforderung gerichtlich durchzusetzen.
Das Bundesgericht wies in seinem Entscheid auf ein «institutionell begründetes Interesse» an der Wahrung des Berufsgeheimnisses und das Interesse des Klienten auf Geheimhaltung der Mandatsbeziehung hin. Bei der Abwägung dieser Interessen mit dem des Anwalts auf Durchsetzung des Honoraranspruchs sei dem Umstand Rechnung zu tragen, dass ein Anwalt vom Klienten grundsätzlich einen Vorschuss verlangen könne, der die voraussichtlichen Kosten seiner Tätigkeit decke. Es verlangte, dass Anwälte bei Gesuchen zur Entbindung vom Berufsgeheimnis künftig vor Eintreibung einer offenen Honorarforderung darzulegen haben, weshalb ein Kostenvorschuss nicht möglich gewesen war (plädoyer 6/16). Faktisch würde dieser Entscheid die Anwälte zwingen, nur noch gegen Vorschuss zu arbeiten.
«Unsinnige» Erwägungen zum verlangten Vorgehen
Laut Riedo ist dies nicht praktikabel: «Wenn man langjährige Klienten vertritt, pocht man nicht auf Vorschüsse. Es würde als unfreundlich betrachtet, wenn man dauernd jeden Rappen zum Voraus einfordern würde.» Riedo sieht nicht ein, weshalb man bei der Entbindung vom Anwaltsgeheimnis argumentieren muss, dass die vorgängige Einholung eines Kostenvorschusses im konkreten Fall nicht möglich gewesen sei. «Das würde man in keiner anderen Branche so verlangen.» Entsprechende Erwägungen seien «unsinnig». Rütsche stimmt ihm vollumfänglich zu: «Das Urteil geht klar zu weit.»
Laut Fankhauser führt das Bundesgericht mit diesem Entscheid plötzlich eine Kostenvorschusspflicht für Anwälte ein, die gestützt auf das Berufsrecht gar nicht bestehe. Im Übrigen könne das Verfahren bei der Durchsetzung der Honorarforderung durchaus so gestaltet werden, dass das Anwaltsgeheimnis nicht zwingend verletzt werde – beispielsweise durch den Ausschluss der Öffentlichkeit in den entsprechenden Gerichtsverfahren.
Die Jury
Eine Jury aus Professoren kürt am Jahresende jeweils das Fehlurteil des Jahres. Basis des Entscheids sind rechtskräftige Entscheide, die der plädoyer-Redaktion aus dem Leserkreis zugesandt werden.
Die Mitglieder der diesjährigen Jury: Roland Fankhauser, Professor für Zivilrecht und Zivilprozessrecht an der Universität Basel; Christof Riedo, Professor für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Universität Freiburg; und Bernhard Rütsche, Professor für öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Universität Luzern.