Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention verlangt, dass über zivilrechtliche Ansprüche und strafrechtliche Anklagen öffentlich verhandelt wird. Weder aus dieser Bestimmung noch aus der Bundesverfassung ergibt sich, dass auch die Beratung des Urteils Teil der sogenannten Justizöffentlichkeit ist.
Artikel 54 Absatz 2 der Zivilprozessordnung überlässt es vielmehr den Kantonen, auch die Urteilsberatung öffentlich zu erklären. Demgegenüber verlangt Artikel 59 Absatz 1 des Bundesgerichtsgesetzes – unabhängig vom Rechtsgebiet – eine öffentliche Beratung, wenn ein Richter eine solche verlangt oder wenn sich die Richter uneins sind (Artikel 58 Absatz 1).
Im Ausland präsentiert sich die Rechtslage anders. Dort dominiert die Vorstellung, dass die Urteilsberatung vertraulich ist und nicht nach aussen dringt, wie das Urteil zustande gekommen ist. Allenfalls wird das Beratungsgeheimnis ergänzt durch das Recht eines Richters, seine abweichende Meinung bekanntzugeben (dissenting opinion).1
Untersuchungen darüber, wie sich öffentliche Beratungen auf das Vertrauen in die Justiz auswirken, gibt es nicht.2 Allein die kleine Anzahl solcher Beratungen macht es illusorisch, hier an belastbares statistisches Material zu gelangen.3
Ich persönlich bin der festen Überzeugung, dass das Vertrauen in die Justiz gestärkt wird, wenn das Bundesgericht als höchste rechtsprechende Behörde des Bundes einen Fall öffentlich berät. «Justice must not only be done, but must also be seen to be done.»4
Öffentliche Beratungen erfüllen diesen Zweck in fast schon idealer Weise. Hier lernt die interessierte Öffentlichkeit nicht nur den einzelnen Richter und seine Meinung kennen, sondern erhält auch Einblick in die Dynamik der Entscheidungsfindung.5 Dies hilft insbesondere der Partei, die den Prozess verliert, das Urteil besser zu verstehen und als Verdikt der Mehrheit zu akzeptieren. Wer weiss, wie der Fall der Klimaseniorinnen ausgegangen wäre, hätte das Bundesgericht sein Urteil (BGE 146 I 145) öffentlich beraten und nicht im Zirkulationsverfahren «erledigt».
An meiner positiven Beurteilung öffentlicher Beratungen ändert auch die Erfahrung nichts, dass kaum ein Richter seine Meinung anlässlich einer solchen ändert. Öffentliche Beratungen verkommen so leicht zum sterilen Austausch vorgefasster Standpunkte.
Es bleibt die Aufgabe der Vereinigten Bundesversammlung, bei der Wahl eines Bundesrichters darauf zu achten, dass dieser gewillt und in der Lage ist, die Beratungskultur hochzuhalten – also Meinungsverschiedenheiten nicht nur hinter verschlossenen Türen, sondern vor Publikum auszufechten.
Fussnoten siehe PDF.