Nur ungern stimmt Yves Rossier einem Porträt zu: «Mein Privatleben geht niemanden etwas an und interessiert auch nicht.» Ob er das ernst meint, ist schwer zu sagen. Der ehemalige Diplomat ist schwer zu lesen. Presst er aber die Lippen zusammen und kneift er die Augen zu, scheint er genervt zu sein. Dann zieht er besonders hastig an seiner E-Zigarette.
Heute ist Yves Rossier Mitglied der Verwaltungsräte der Stadler Rail Kasachstan, der Genfer Privatbank Cramer und der Zürcher Immobiliengesellschaft Züblin. Deren Grossaktionär Viktor Vekselberg, der seit dem Ausbruch des Ukrainekriegs auf der Sanktionsliste der USA steht, hatte den Ex-Diplomaten im vergangenen Jahr als Verwaltungsrat vorgeschlagen.
Der fünffache Familienvater, der heute mehrheitlich in Frankreich lebt, will sogleich über «die Substanz» sprechen: den Krieg in der Ukraine, «den Zerfall» der internationalen Rechtsordnung und die «unaufhaltsame Radikalisierung der Gesellschaft». Doch davon später.
Angesprochen auf die Sanktionen einzelner Staaten presst Rossier seine Lippen zusammen: «Diplomatie und Recht brauchen Präzision», antwortet er. Die Unterschiede zwischen den Sanktionen der EU und denjenigen der USA seien enorm. «Letztere sind ein Akt der Machtpolitik. Sie werden auf Befehl der Exekutive erlassen. Eine rechtliche Überprüfung dieser Sanktionen gibt es nicht. Der Rechtsschutz ist inexistent.» Gegen die Sanktionen der EU dagegen könnten sich Betroffene immerhin vor Gericht wehren. Eine gerichtliche Überprüfung der Sanktionen sei fundamental, weil «sich jeder Mensch verteidigen können soll, auch ein schlechter».
Yves Rossier arbeitet erst seit drei Jahren in der Privatwirtschaft. Als junger Jurist begann er 1990 als Rechtsberater im Integrationsbüro des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA). Das war der Startschuss für eine Karriere, die nur eine Richtung kannte – aufwärts.
Nach bestandener Diplomatenprüfung und einem EDA-Praktikum in der politischen Abteilung (Afrika / Naher Osten) werden auch FDP-Bundesräte auf das junge Parteimitglied aufmerksam: Nach Jean-Pascal Delamuraz machte ihn auch Pascal Couchepin zu seinem wissenschaftlichen Berater.
Steile Karriere vom Beamten bis zum Chefdiplomaten
Anfang der Nullerjahre baut Rossier das Sekretariat der Eidgenössischen Spielbankenkommission auf und leitet es. Ab 2004 übernimmt er das Bundesamt für Sozialversicherungen und verlässt es erst 2012, als Didier Burkhalter vom Innen- ins Aussendepartement wechselt und Rossier zum Staatssekretär ernennt.
In der Diplomatenszene sei dies zähneknirschend registriert worden, sagt ein ehemaliger Mitarbeiter. Als Chefdiplomat führte Rossier die Verhandlungen mit Brüssel über ein Rahmenabkommen. Die Weichen, die er stellte, sorgen bei seinen Gegnern noch heute für rote Köpfe. Auf die Frage der NZZ nach der Rolle des Europäischen Gerichtshofs bei der Streitschlichtung antwortete Rossier: «Ja, es sind fremde Richter, es geht aber auch um fremdes Recht.» 2017 verliess er die Schweiz und wurde Botschafter in Russland. Dort war er bis Ende 2020 tätig.
Auch ausserhalb der Verwaltung bleibt er der Diplomatie treu. Er berät das Centre for Humanitarian Dialogue in Genf, «vor allem rund um den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine». Die internationale Organisation hat sich auf die Schlichtung bewaffneter Konflikte spezialisiert.
«Die Lage ist ziemlich düster, es gibt zurzeit keine Aussicht auf Frieden oder Waffenstillstand», erklärt Rossier. Für die Ukraine bestehe die Schwierigkeit darin, sich damit abzufinden, dass Teile ihres Territoriums besetzt bleiben könnten. «Das könnte jedoch eine wichtige Komponente für eine Lösung sein.»
Dass sich Russland komplett aus den besetzten Gebieten und der Krim zurückziehen werde, sei unwahrscheinlich, sagt Yves Rossier. «Russland ist auf Kriegsfuss. Wir beobachten eine enorme Militarisierung des Produktionsapparats. Und wenn ein Land seine Gesellschaft und Wirtschaft auf Krieg einstellt, ist es sehr schwierig, zurückzukrebsen.»
Frieden sei mehr als ein Waffenstillstand, betont Rossier, denn er erfordere Gerechtigkeit. Ein Waffenstillstand friere zwar einen Konflikt ein, dieser könne später aber wieder auftauen. Die Geschichte von Nord- und Südkorea sei ein gutes Beispiel dafür. «Deshalb sollen Friedensverhandlungen nicht nur einen Waffenstillstand erreichen, sondern eine gerechte Lösung, welche die Sicherheitsinteressen aller Parteien berücksichtigt.»
Dies wird laut Rossier bei allen aktuellen Friedensverhandlungen völlig vernachlässigt. Auf die Frage, was die Schweiz für einen solchen Frieden tun könnte, weicht er erst aus: «Fragen Sie das EDA.» Dann fügt er hinzu: «Mediation kann nur dann stattfinden, wenn man von beiden Parteien dafür angefragt wird. Man kann nicht in die Welt hinausgehen und sagen, ich will jetzt vermitteln. Das ist kindisch und unseriös.»
«Das Etikett ‹Terrorist› wurde zur Lizenz zum Töten»
Rossier sieht die internationale Rechtsordnung seit den Angriffen auf das World Trade Center in New York beschädigt. Seither habe eine «enorme Radikalisierung» stattgefunden. «Die USA, die sich oft auf die Werte der internationalen Rechtsordnung beriefen, änderten in der Aussenpolitik ihre Sprache sowie ihre Taten radikal.» Begriffe wie die «Achse des Bösen» und «Terroristen» nahmen Einzug auf dem politischen Parkett. «Das sind Begriffe, die eine breite Palette von Feinden ohne klare Definition umfasst», sagt Rossier. «Das Etikett ‹Terrorist› wurde zur Lizenz zum Töten. Bush begann damit und Obama wie auch Trump setzten es mit ihren Drohnenangriffen in anderen Staaten fort.
«Heute werfen über 80 Prozent der Staaten dem Westen Heuchelei vor, weil er Konflikte mit unterschiedlichem Mass bewertet», sagt Rossier. Einzig die EU sieht er in der Lage, die internationalen Beziehungen zu zivilisieren. «Doch sie ist politisch und wirtschaftlich schwach. Und ihr fehlt es an einer kohärenten Aussenpolitik.»