Die Schlagworte «Ausländerproblem» und «Ausländerkriminalität» waren in der Schweiz in den letzten Jahrzehnten Inspiration für Abstimmungsplakate, Gegenstand von Volksinitiativen und beliebte Wahlkampflokomotiven. Dabei wurden in der politischen Debatte regelmässig Polizeistatistiken bemüht, die diese Begriffe angeblich wissenschaftlich untermauern (plädoyer 1/2022).
Tatsächlich legt ein Blick auf die zugänglichen Zahlen nahe, dass Ausländer in der Schweiz ein Problem mit dem Strafsystem haben. Das ist allerdings nicht etwa auf eine hohe kriminelle Energie der Zuwanderer zurückzuführen, sondern auf die Ausgestaltung des Systems selbst. Es benachteiligt Ausländer in nahezu sämtlichen Bereichen des Strafverfahrens.
Vor allem für Ausländer ohne Aufenthaltsrecht herrsche in der Schweiz eine Art Paralleljustiz, ein «Feindstrafrecht», formuliert es der Berner Kriminologie- und Strafrechtsprofessor Jonas Weber. Der Zürcher Rechtsanwalt Peter Nideröst, spezialisiert auf Straf- und Migrationsrecht, pflichtet ihm bei: «Die Benachteiligung von Personen ohne Schweizer Pass im Allgemeinen und ohne Aufenthaltsrecht im Speziellen ist im Strafverfahren offensichtlich.» Jeder, der mit Strafjustiz befasst sei, wisse über diesen Missstand Bescheid, sagt Nideröst.
Staatsanwaltschaft will “konsequente Verfolgung”
Die Ungleichbehandlung beginnt dort, wo meist auch die Strafverfahren beginnen: bei den Verhaftungen. Welche Leute aufgrund welcher Delikte davon betroffen sind, ist oft unklar. Die Kantonspolizei Zürich führt in ihrem Geschäftsbericht 2021 immerhin aus, dass im Berichtsjahr total 7421 Personen verhaftet wurden – die meisten von ihnen, 2230 Personen, auf Grundlage des Strafgesetzbuchs. Auf dem zweiten Platz folgt das Ausländer- und Integrationsgesetz (AIG): 1606 Personen wurden auf dieser Grundlage verhaftet. Das sind über 20 Prozent aller Verhaftungen. Zum Vergleich: Wegen Verstössen gegen das Betäubungsmittelgesetz führt die Kantonspolizei 718 Personen auf, 125 waren es wegen Strassenverkehrsdelikten. Vor der Pandemie lag der Anteil der AIG-Verhaftungen im Durchschnitt gar bei 25 Prozent.
Die Strafbestimmungen des Ausländergesetzes, die am häufigsten zur Anwendung gelangen, sind die Delikte nach Artikel 115 AIG: die rechtswidrige Ein- und Ausreise, der rechtswidrige Aufenthalt und die Erwerbstätigkeit ohne Bewilligung. Von landesweit 15 007 Verurteilungen wegen Widerhandlungen gegen das AIG im Jahr 2021 entfielen laut dem Bundesamt für Statistik 12 709 auf Artikel 115 AIG.
Verstösse gegen diese Bestimmung werden gemäss Gesetz mit Geldstrafe oder mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr bestraft. Der Strafrahmen ist gleich hoch wie beispielsweise für den Besitz von Gewaltdarstellungen (Artikel 135 Absatz 1bis StGB) und kleiner als für den Straftatbestand der Verleumdung (Artikel 174 StGB, bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe).
Obwohl Migrationsdelikte somit nicht der schweren Kriminalität zuzuordnen sind, scheinen die Strafverfolgungsbehörden ein spezielles Augenmerk auf ihre Verfolgung zu legen. Das zeigt ein Passus in den Weisungen der Zürcher Oberstaatsanwaltschaft für das Vorverfahren: Dort heisst es, dass Widerhandlungen gegen das Ausländergesetz «keine Bagatelldelikte» darstellen und «konsequent zu verfolgen» seien.
Gleich oder ähnlich lautende Formulierungen zu anderen Delikten finden sich im 289-seitigen Dokument nicht. Der Schluss liegt nahe: Die Verfolgung der nicht besonders schweren AIG-Delikte hat für die oberste Strafverfolgungsbehörde des grössten Kantons besondere Priorität.
Migrationsamt als “Staat im Staat”
«Dass die Strafverfolgungsbehörden aufgrund beschränkter Ressourcen Schwerpunkte legen müssen, ist klar – die grosse Frage ist, in welchen Bereichen sie dies tun», sagt Peter Albrecht, Strafrechtsprofessor und ehemaliger Präsident des Strafgerichts Basel-Stadt. Er hat mehrfach zum Thema Ausländerdiskriminierung im Strafrecht publiziert und kommt zum Schluss: «Migrationsdelikte sind Straftatbestände, die in erster Linie Ausländer betreffen. Das liegt ein Stück weit in der Natur der Sache und ist vom Gesetzgeber so gewollt.» Die Krux, so Albrecht, sei jedoch, wie streng diese Delikte in der Praxis verfolgt und sanktioniert werden.
Erich Wenzinger von der Medienstelle der Zürcher Oberstaatsanwaltschaft sagt zum Passus in den Weisungen, dass «eine konsequente Strafverfolgung innerhalb des gesetzlichen Rahmens die Kernaufgabe der Staatsanwaltschaft» sei. Dies gelte für alle Deliktkategorien und unabhängig von der Nationalität der beschuldigten Person. Das Wort «konsequent» werde in diesem Fall «im Kontext der Verneinung von Bagatelldelikten» genannt.
Rechtsanwälte betonen auch die Rolle des kantonalen Migrationsamtes, das bei den Strafverfolgungsbehörden auf eine harte Linie poche und regelmässig Razzien in den Notunterkünften veranlasse, wo abgewiesene Asylbewerber leben. «Meiner Erfahrung nach lassen sich Polizei und Staatsanwaltschaften allzu oft vom Migrationsamt instrumentalisieren. Dieses stellt im Kanton Zürich eine Art Staat im Staat dar», sagt Anwalt Nideröst. Erich Wenzinger bestätigt, dass Verhaftungen im AIG-Bereich meist Folge von polizeilichen Personenkontrollen oder Kontrollen in den Asylzentren seien. Das Zürcher Migrationsamt meint auf Anfrage bloss, dass es die bundesgesetzlichen Vorgaben aus dem AIG «konsequent» umsetze.
Die strenge Verfolgung von AIG-Delikten stellt jedoch keine Zürcher Besonderheit dar. Das legt ein Blick auf gesamtschweizerische Statistiken nahe.
Hoher Anteil an unbedingten Strafen
2021 wurden gemäss dem Bundesamt für Statistik 7104 Personen zu einer unbedingten Freiheitsstrafe verurteilt. 2852 davon entfallen auf Verstösse gegen das AIG, also 40 Prozent. Ein Jahr zuvor waren die Zahlen ähnlich. Das zeigt: In den Gefängnissen sitzen nicht vor allem Intensivtäter und Schwerkriminelle.
Strafrechtsprofessor Jonas Weber führt die hohen Zahlen auf die Prioritätensetzung der Strafverfolgungsbehörden und auf eine weitere Ungerechtigkeit im System zurück: «Eigentlich gibt es in der Sanktionspraxis den Grundsatz, dass Delikte dieser Kategorie mit Geldstrafen zu sanktionieren sind.» Davon werde abgewichen, wenn die Geldleistung nicht eingetrieben werden könne. Bei den meist mittellosen Ausländern ohne Aufenthaltsbewilligung sei das oft der Fall.
Die Zürcher Oberstaatsanwaltschaft stimmt ihm im Kern zu. «Der Gesetzgeber sieht bei Fällen mangelnder Solvenz die Möglichkeit der direkten Aussprechung einer Freiheitsstrafe anstelle einer Geldstrafe ausdrücklich vor», sagt Mediensprecher Wenzinger. «Diese Ausgangslage ist bei der Sanktionierung von Verstössen gegen das AIG oft gegeben.» Hinzu komme, dass oft «einschlägige Wiederholungstaten» zu verzeichnen seien, «weil der rechtswidrige Aufenthalt seitens der beschuldigten Person konsequent aufrechterhalten» werde.
An dieser Sanktionierungspraxis üben verschiedene Migrationsrechtsanwälte Kritik: «Wer wegen rechtswidrigen Aufenthalts einen Strafbefehl erhalten hat, kann bei weiterem Aufenthalt schon wenig später erneut dafür bestraft werden – und die Strafe wird aufgrund der Vorstrafe erhöht», sagt zum Beispiel die Zürcher Rechtsanwältin Lea Hungerbühler vom Verein Asylex.
Die allermeisten Fälle per Strafbefehl erledigt
Von den 15 007 Verurteilungen wegen AIG-Delikten wurden 13 663 nicht von Gerichten, sondern von Staatsanwälten per Strafbefehl ausgesprochen – das entspricht einer Quote von 91 Prozent.
In keinem Bereich dürften die Verteidigungsrechte der Betroffenen derart tangiert sein wie im Ausländerstrafrecht: Immer wieder werden Strafbefehle nicht oder unvollständig übersetzt, eine Praxis die auch vom Bundesgericht gerügt wurde. Die Zeitschrift «Beobachter» berichtete zudem jüngst über eine Studie des Zürcher Strafrechtsprofessors Marc Thommen, laut der Strafbefehle den Betroffenen oft nur fiktiv zugestellt werden – die Bestraften erhalten davon gar nie Kenntnis. Bei 439 untersuchten Strafbefehlen wegen AIG-Verstössten in den Kantonen Bern, Neuenburg, St. Gallen und Zürich wurde in 23 Prozent der Fälle eine Freiheitsstrafe ausgesprochen. Bei Strafbefehlen wegen Verstössen gegen das Strafgesetz betrug die Quote der Freiheitsstrafen nur 11,6 Prozent, bei Strassenverkehrsdelikten nur 0,7 Prozent.
“Verteidigungsrechte ausgehebelt”
Rechtsanwalt Peter Nideröst fasst seine Erfahrungen mit Strafverfahren gegen Ausländer ohne Aufenthaltsrecht so zusammen: «Rechtsstaatlichkeit ist so gut wie nicht vorhanden. Die Verteidigungsrechte sind eigentlich ausgehebelt.» Es gebe weder auf der Ebene Gesetzgebung noch auf der Ebene Justiz wirksame Mittel, die dem eindeutigen Risiko der Benachteiligung von Leuten ohne Schweizer Pass entgegenwirken. Und alle Verantwortlichen wüssten dies genau.
“Fluchtgefahr nimmt man automatisch an”
Ausländer landen öfter in Untersuchungshaft als Schweizer: Von 15 595 Personen, die in der Schweiz 2021 mit angerechneter Untersuchungshaft verurteilt wurden, waren laut Bundesamt für Statistik 12 237 Ausländer – also 78 Prozent. Bei einem Grossteil (9533) handelt es sich um Ausländer ohne Wohnsitz in der Schweiz. Geht es um die Anordnung von U-Haft, sind auch Ausländer mit einer Aufenthaltsbewilligung gegenüber Schweizern schlechtergestellt: Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung wird bei Personen mit einem ausländischen Pass allgemein von höherer Fluchtgefahr ausgegangen, weshalb gegen sie im Vergleich häufiger U-Haft verfügt wird.
Statistiken zum Umgang mit Ausländern in Strafprozessen vor Gerichten existieren nicht. Peter Albrecht, ehemaliger Präsident am Strafgericht Basel-Stadt, spricht jedoch von einem «Ausländerzuschlag» bei der Strafzumessung für ausländische Beschuldigte. Marianne Heer, ehemalige Luzerner Oberrichterin, pflichtet ihm bei: «Ich habe mehrfach beobachtet, dass man Ausländern gegenüber viel strenger war.»
Werden Ausländer zu unbedingten Freiheitsstrafen verurteilt, werden ihnen anders als Schweizern oft keine Vollzugslockerungen zugestanden. Denn alternative Vollzugsformen wie die gemeinnützige Arbeit oder die elektronische Überwachung setzen das Fehlen von Fluchtgefahr voraus. «Fluchtgefahr nimmt man bei Ausländern ohne Aufenthaltsbewilligung eigentlich automatisch an», so der Berner Strafrechtsprofessor Jonas Weber. Das führt gemäss Marianne Heer dazu, dass ausländische Straftäter, die von einer Massnahme betroffen sind, auch praktisch nie in den Genuss von Lockerungen kommen.