Die Vernehmlassungsvorlage des Bundesamts für Justiz (BJ) für eine Revision der Strafprozessordnung (StPO) wurde in plädoyer 3/2018 kritisch kommentiert. Insbesondere, dass das Strafverfolgungsmodell aus dem Gleichgewicht geraten würde, wenn die Vorschläge des BJ tatsächlich umgesetzt würden. Mittlerweile liegt die Botschaft vor.1 Die Befürchtungen bewahrheiteten sich nicht nur – sie wurden übertroffen: Die Botschaft nahm klammheimlich weitere Änderungen vor. Sie gehen alle zulasten der Beschuldigten.
1. Unausgewogene Revision
Die Revision segelt unter dem Motto: Überprüfung der Praxistauglichkeit der Schweizerischen Strafprozessordnung StPO. Als nicht praxistauglich wurden etwa bald nach Inkrafttreten die Teilnahmerechte der beschuldigten Personen bezeichnet, aber auch jene der weiteren teilnahmeberechtigten Parteien (vor allem Privatkläger in Massenfällen wie umfangreiche Anlagebetrügereien: Probleme mit der Terminkoordination mit einer Unzahl von teilnahmeberechtigten Privatklägern sowie dementsprechend Raumprobleme). Geändert wird aber nur das Teilnahmerecht der beschuldigten Person, und zwar zu ihren Lasten, indem dieses nach dem neuen Art. 147a StPO eingeschränkt werden kann.
Die Einführung eines effizienteren Beweisantragsrechts, wie es von der Verteidigung schon lange gefordert wird, unterblieb.
Ein weiteres Problemfeld ist das Strafbefehlsverfahren. In diesem verzichtet die beschuldigte Person zugunsten der Beschleunigung auf einiges an Rechtsstaatlichkeit. Darum hat die Vernehmlassungsvorlage zu Recht vorgeschlagen, die Bestimmungen zu streichen, nach welchen eine Einsprache gegen einen Strafbefehl als zurückgezogen gilt, wenn die beschuldigte Person danach einer Vorladung der Staatsanwaltschaft (Art. 355 Abs. 2 StPO) oder des erkennenden Gerichts (Art. 356 Abs. 4 StPO) unentschuldigt keine Folge leistet. In der Botschaft wird an diesen Bestimmungen festgehalten. Warum aber soll die beschuldigte Person das Recht auf eine gerichtliche Überprüfung der Sache verlieren, wenn sie einer Vorladung unentschuldigt keine Folge leistet? Dabei handelt es sich immerhin um ein in Art. 6 Ziff. 1 EMRK garantiertes Recht.
Bereits diese Beispiele belegen, dass es nicht um die Herstellung einer praxistauglicheren StPO geht, sondern um Vereinfachungen des Verfahrens, aber immer und nur zulasten der beschuldigten Person, indem ihre (Verfahrens-)Rechte weiter eingeschränkt werden. Womit das zu rechtfertigen ist, bleibt unerklärt und unerklärlich.
2. Wichtigste Kritikpunkte
2. Mitwirkungspflicht, Nemo--tenetur-Grundsatz
In der Botschaft zur Schweizerischen StPO wurde dargelegt, dass man ein straffes Strafverfahren will, das mit möglichst wenig Wiederholungen auskommt. Nicht zuletzt das war der Grund, warum man auf eine unmittelbare Hauptverhandlung (HV) verzichtet hat. Als Kompensation für diesen Mangel – der immerhin bedeutet, dass das Gericht sich nicht sämtliche Beweismittel selbst zu Gemüte führt und würdigt, sondern im Wesentlichen auf die Würdigung durch die Staatsanwaltschaft abstellt – und die damit einhergehende Stärkung der Rolle der Staatsanwaltschaft im Vorverfahren hat der Gesetzgeber bewusst ausgebaute Teilnahmerechte der beschuldigten Person eingeführt (so explizit auch das Bundesgericht in BGE 139 IV 25 ff., E. 5.4).
Nichtsdestotrotz bemängelte die Strafverfolgung kurz nach deren Inkraftsetzung, dass sie Beschuldigten aufgrund des Akteneinsichts- und Teilnahmerechts sämtliche Informationen offenlegen müsse, womit diese ihre eigenen Aussagen diesen anpassen könnten. Deshalb müsse es in der Anfangsphase einer Strafuntersuchung zulässig sein, die einzelnen Beschuldigten getrennt zu befragen, sodass sie und ihre Verteidiger wechselseitig von den Einvernahmen der anderen Mitbeschuldigten vorerst ausgeschlossen werden. Das Bundesgericht hat sich dieser Auffassung angeschlossen mit der Begründung, Art. 147 Abs. 1 StPO – immerhin eine vom Gesetzgeber beschlossene Bestimmung! – trage dem Zielkonflikt zwischen strafprozessualer Wahrheitsfindung und ausgebauten Teilnahmerechten nicht genügend Rechnung. Insofern könne die Staatsanwaltschaft im Einzelfall prüfen, ob sachliche Gründe für eine vorläufige Beschränkung der Parteiöffentlichkeit bestünden, insbesondere wenn im Hinblick auf noch nicht erfolgte Vorhalte eine konkrete Kollusionsgefahr gegeben sei. Deshalb dürften Beschuldigte, die zu diesen Sachverhalten noch nicht befragt worden seien, von der Teilnahme an der Befragung des Mitbeschuldigten zu diesen ausgeschlossen werden (BGE 139 IV 25 ff., E. 5.5.4.1).
Das Bundesgericht betont aber, dass die blosse Möglichkeit einer abstrakten «Gefährdung des Verfahrensinteresses» durch rechtmässiges prozesstaktisches Verhalten noch keinen Ausschluss von der Teilnahme rechtfertige (BGE 139 IV 25 ff., E. 5.5.4.1), dass eine Beschränkung nicht gerechtfertigt sei bei Beschuldigten, die bereits einschlägig einvernommen worden sind (BGE 139 IV 25 ff., E. 5.5.4.2), und dass die Staatsanwaltschaft das Teilnahmerecht nur in begründeten Einzelfällen einschränken könne.
2.1 Vernehmlassungs-vorschlag und Botschaft
Die Vernehmlassungsvorlage hatte diese Grundsätze übernehmen und die Teilnahme nur einschränken wollen, wenn zu befürchten ist, dass die beschuldigte Person ihre Aussagen an jene einer einzuvernehmenden Person anpassen könnte. Die Botschaft geht nun aber deutlich weiter und schlägt eine Bestimmung vor, die viel umfassendere Einschränkungen vorsieht und wie folgt lauten soll (Art. 147a Abs. 1): «Die Staatsanwaltschaft kann die beschuldigte Person von einer Einvernahme ausschliessen, solange sich die beschuldigte Person zum Gegenstand der Einvernahme nicht einlässlich geäussert hat.»
Mit dieser Erweiterung beachtet die Botschaft allerdings nicht, dass damit grundlegende strafprozessuale Prinzipien in ihrem Kern verletzt werden, insbesondere das Schweigerecht der beschuldigten Person und neu die faktische Einführung einer Mitwirkungspflicht.
2.1.1 Nemo tenetur se ipsum accusare
Das Selbstbelastungsprivileg besagt, dass eine beschuldigte Person nicht verpflichtet ist, zu ihrer eigenen Überführung beizutragen. Daraus folgt, dass ihr im Strafverfahren beispielsweise ein Schweigerecht und ein Mitwirkungsverweigerungsrecht zusteht. Formell wird dieser Grundsatz mit der Revision zwar nicht verletzt, aber der schweigende Beschuldigte soll neu von der Teilnahme an anderen Befragungen (von Mitbeschuldigten, Zeugen, Auskunftspersonen etc.) ausgeschlossen werden dürfen. Die Wahrnehmung eines prozessualen Rechts soll somit zur Beschränkung des Teilnahmerechts führen dürfen.
Wer jedoch von Einvernahmen – also von wesentlichen Beweiserhebungen – ausgeschlossen ist, kann sich nicht verteidigen, weil er nicht weiss, welche Belastungen gegen ihn vorliegen. Das führt zwangsläufig auch zu einer Behinderung oder Verweigerung der Verteidigung und läuft den Grundsätzen, die das Bundesgericht für die Beschränkung der Teilnahme aufgestellt hat, zuwider.
2.1.2 Mitwirkungspflicht für Beschuldigte
Das rechtmässige prozesstaktische Verhalten darf nicht zu einem Ausschluss von der Teilnahme an Beweiserhebungen führen. Wer also ihm um seiner selbst willen im Strafverfahren zustehende Rechte wahrnimmt, darf dafür nicht benachteiligt, geschweige denn gezwungen werden, auf diese Rechte verzichten zu müssen. Genau das aber tut Art. 147a Abs. 1 StPO, wenn Voraussetzung zur Teilnahme an Einvernahmen anderer Personen ist, dass sich jemand nicht nur bereits zur Sache geäussert hat, sondern dass er das auch noch einlässlich getan hat.
Wenn man noch damit leben könnte, dass beschuldigte Personen von Einvernahmen Dritter so lange ausgeschlossen sind, als sie selbst nicht mit dem entsprechenden Vorhalt konfrontiert worden sind, so ist es offenkundig eine unzulässige Sanktionierung der Wahrnehmung von prozessualen Rechten, wenn ein Ausschluss so lange zulässig sein soll, als die beschuldigte Person sich zu diesem Gegenstand nicht einlässlich geäussert hat. Damit wird das Aussageverweigerungsrecht, das doch immerhin in Art. 158 Abs. 1 lit. b. StPO ausdrücklich festgehalten ist, faktisch abgeschafft und zugleich eine Mitwirkungspflicht der beschuldigten Person eingeführt – ein absolutes No-Go.
Davon abgesehen wird ein weiteres Diskussionsfeld über die Frage eröffnet: Wann hat sich jemand «einlässlich geäussert» und wann nicht? Reicht Bestreiten?
3. Notwendige Verteidigung
In der Vernehmlassungsvorlage wurde noch ein neuer Art. 139 lit. d StPO vorgeschlagen, der vorgesehen hätte, dass auch dann ein Fall notwendiger Verteidigung vorliegt, wenn die Staatsanwaltschaft vor dem Zwangsmassnahmengericht (ZMG) persönlich auftritt. In der Revisionsvorlage ist das wieder gestrichen worden, wobei die Gründe dafür nicht ersichtlich sind.
Dass es vor dem ZMG um das höchste Gut des Menschen – seine Freiheit – geht und deshalb der Staat eine besondere Fürsorgepflicht gegenüber den davon Betroffenen hat, interessiert offenbar nicht. Oder geht es darum, auf dem Buckel des Beschuldigten Geld, nämlich die Kosten der notwendigen Verteidigung, zu sparen? Und ein Schelm, wer unterstellt, dass damit auch die Hoffnung verbunden ist, dass es weniger Weiterzüge von ZMG-Entscheiden gibt, wenn in diesen Verhandlungen keine Verteidigung dabei ist.
4. Verfahren zur Haftprüfung
Für das Vorgehen bei Festnahme und Anordnung von Untersuchungshaft enthält Art. 5 Ziff. 3 EMRK zwingende Vorgaben, auf welche auch nicht verzichtet werden kann, wie sich aus dem Wortlaut der Bestimmung ergibt («Jede Person […] muss […]»).2
Zentral sind dabei drei Bedingungen, die das nationale Haftrecht erfüllen muss:
Erstens muss die festgenommene Person einem Richter oder einer zur Ausübung richterlicher Aufgaben ermächtigten Person vorgeführt werden. Dabei versteht die EMRK unter richterlicher Aufgabe, dass diese Behörde auch die Kompetenz hat, die festgenommene Person zu entlassen.3
Zum Zweiten muss die verhaftete Person dieser richterlichen Person eben vorgeführt werden, was bedeutet, dass sie die verhaftete Person persönlich anhören und alle für und gegen eine Haft sprechenden Umstände prüfen muss.4
Drittens muss diese Vorführung unverzüglich geschehen, was nach der Rechtsprechung der Strassburger Organe bedeutet, dass die richterliche Behörde spätestens innert vier Tagen 5 über Freilassung oder Freiheitsentzug zu entscheiden hat. Eine Vorführung vor eine richterliche Behörde nach mehr als vier Tagen gilt prima facie immer als Verletzung von Art. 5 Ziff. 3 EMRK.6
Diese formellen Vorgaben muss jedes nationale Haftanordnungsrecht erfüllen, ansonsten es schadenersatzpflichtig wird, unabhängig davon, ob die Haft materiell rechtmässig ist oder nicht.
4.1 Ausweitung durch das Bundesgericht
Das Haftanordnungsverfahren nach der Schweizerischen StPO hat bislang die EMRK-Vorgaben erfüllt. Über die Anordnung von Haft entscheidet als Gericht das ZMG spätestens vier Tage (96 Stunden) nach erfolgter Festnahme. Das ZMG hat auch die Kompetenz, die verhaftete Person zu entlassen (vgl. Art. 226 Abs. 3 StPO).7 Gegen Entscheide des ZMG hat nach Art. 222 StPO nur die verhaftete Person ein Beschwerderecht, damit bleibt die Haftentlassungskompetenz des Gerichts gewahrt.8
Die Staatsanwaltschaften wollten ihren Ausschluss vom Beschwerderecht nicht akzeptieren und wehrten sich dagegen bis vor Bundesgericht, mit Erfolg: Dieses stellte fest, die Nichterwähnung der Staatsanwaltschaft als beschwerdeberechtigte Partei könne nur ein gesetzgeberisches Versehen sein, und führte dieses Beschwerderecht der Staatsanwaltschaft (quasi als Gesetzgeber) ein (vgl. BGE 137 IV 22, E. 1.2–1.4, bestätigt in 137 IV 87, E. 3.1). Zudem regelte es mit vielen Anweisungen, wie dieses konkret wahrzunehmen ist (vgl. BGE 138 IV 92, E. 3.3; 138 IV 148, E. 3.2–3.4).
Konsequenz: Erhebt die Staatsanwaltschaft Beschwerde gegen haftbeendende Entscheide, muss die beschuldigte Person vorläufig weiterhin in Haft verbleiben, bis die Beschwerdeinstanz vorläufig oder definitiv über den Freiheitsentzug befindet, das ZMG hat keine Haftentlassungskompetenz mehr.
4.2 Beschwerderecht der Ankläger -verletzt die EMRK
Die Einführung dieses Beschwerderechts der Staatsanwaltschaft und nun seine Umsetzung in der Botschaft führt dazu, dass das Haftanordnungsverfahren fundamental gegen Art. 5 Ziff. 3 EMRK verstösst, weil das ZMG nicht mehr die richterliche Haftüberprüfungsbehörde nach dieser Bestimmung ist, weil eben die Staatsanwaltschaft die Haftentlassung durch das ZMG mit Erhebung der Haftbeschwerde unterbinden kann. Dies verletzt folgende Minimalanforderungen von Art. 5 Ziff. 3 EMRK:
4.2.1 “Unverzüglich” vor richterliche Behörde
Wie ausgeführt muss eine festgenommene Person unverzüglich einer richterlichen Behörde vorgeführt werden. Das ZMG ist nach dem Gesagten aber keine richterliche Behörde im Sinne von Art. 5 Ziff. 3 mehr, sondern erst die Beschwerdeinstanz. Das hat zur Folge, dass die Fristbestimmung der EMRK («unverzüglich») nicht mehr im Verfahren vor ZMG eingehalten werden muss, sondern ab Festnahme bis und mit Entscheid der Beschwerdeinstanz. Das anerkennt auch die Botschaft, wenn sie bei der Diskussion der Verfassungsmässigkeit der neuen Bestimmungen festhält, dass neu maximal viereinhalb Tage vergehen, bis die Verfahrensleitung (gemeint ist jene der Beschwerdeinstanz) über die Fortdauer der Haft oder deren Beendigung entschieden habe, womit der Fristbestimmung der EMRK Genüge getan sei.9
Unabhängig davon, dass diese Ausführungen falsch sind, anerkennt die Botschaft damit immerhin, dass das ZMG nicht mehr die von Art. 5 Ziff. 3 EMRK geforderte richterliche Behörde ist, sondern dass das erst die Beschwerdeinstanz ist.
4.2.2 Mehr als eine Woche bis zum Entscheid
Weil erst die Beschwerdeinstanz die nach Menschenrechtskonvention massgebende richterliche Behörde ist, muss die staatsanwaltschaftliche Beschwerde so rasch entschieden werden, dass die Unverzüglichkeit im Sinne von Art. 5 Ziff. 3 EMRK nach wie vor gegeben ist. Dies ist nach der Botschaftsvorlage nicht der Fall, trotz der anderslautenden Beteuerungen, wie ein Blick auf das neu geregelte staatsanwaltschaftliche Beschwerdeverfahren zeigt.10
Gemäss der Botschaft des Bundesrats kommen im Fall einer Haftbeschwerde durch die Staatsanwaltschaft folgende zusätzlichen Fristen bis zu einem Entscheid der Beschwerdeinstanz hinzu:
Sechs Stunden ab Entscheid ZMG für die Einreichung der Haftbeschwerde durch die Staatsanwaltschaft (Art. 226a Abs. 2 StPO),
dann sechs Stunden bis zum Entscheid der Verfahrensleitung über die vorläufige Fortdauer der Haft (Art. 226a Abs. 4 StPO),
danach 72 Stunden bis zum Haftentscheid der Beschwerdeinstanz (Art. 226a Abs. 4 StPO), somit also weitere 78 Stunden oder drei Tage und sechs Stunden zu den 96 Stunden für das Verfahren vor ZMG. Das führt zu einer Verfahrensdauer bis zum Entscheid der Beschwerdeinstanz von insgesamt über sieben Tagen, also mehr als einer Woche.
Dass diese Dauer nicht mehr EMRK-kompatibel ist, blieb auch den Verfassern der Botschaft nicht verborgen. Sie versuchen nun, mit einem Trick die EMRK-Konformität wiederherzustellen: Sie verweisen für die Frage des unmittelbaren Entscheids auf den Entscheid der Verfahrensleitung der Beschwerdeinstanz über die vorläufige Fortdauer der Haft für die Dauer des Beschwerdeverfahrens. Dieser Entscheid ergehe nach viereinhalb Tagen nach Festnahme und erfülle somit die Anforderungen von Art. 54 Ziff. 3 EMRK.
Das ist aber ein leicht durchschaubares «Buebetrickli». Denn diese Argumentation könnte nur verfangen, wenn der Entscheid der Verfahrensleitung über die vorsorgliche Fortdauer der Haft jene Haftüberprüfung wäre, die Art. 5 Ziff. 3 EMRK meint. Das kann aber aus zwei Gründen nicht der Fall sein:
Zum Ersten verlangt Art. 5 Ziff. 3 EMRK die unverzügliche Vorführung vor eine richterliche Behörde und damit eben die persönliche Anhörung der verhafteten Person.11 Die Verfahrensleitung entscheidet aber schriftlich, die verhaftete Person wird gar nicht vorgeführt, und zudem ist die Gewährung des rechtlichen Gehörs gemäss Art. 226a Abs. 4 explizit ausgeschlossen. Schon aus diesen formalen Gründen kann dieser Entscheid die Garantien von Art. 5 Ziff. 3 EMRK gar nicht erfüllen. Abgesehen davon, dass das unbedingte Replikrecht der betroffenen Person, das im Haftanordnungsverfahren gilt, ebenfalls verweigert wird.
Zum Zweiten ist dieser Entscheid der Verfahrensleitung nicht der definitive Haftentscheid. Dieser ergeht erst, wenn die Berufungsinstanz materiell über die Beschwerde entscheidet. Erst in diesem Endentscheid befindet die Beschwerdeinstanz, ob der Haftantrag der Staatsanwaltschaft gutzuheissen oder abzuweisen ist, und bis zu diesem Zeitpunkt dauert das Verfahren eben über sieben Tage und ist damit offensichtlich überlang.
Quintessenz: Der EMRK-konforme Entscheid ist erst der definitive Beschwerdeentscheid der Beschwerdeinstanz. Er ergeht erst nach über einer Woche, womit die EMRK-widrigkeit dieses Verfahrens offenkundig ist.
4.2.3 Staatsanwaltschaft und Inhaftierte gleich behandeln
Das Spezialverfahren für die Haftbeschwerde der Staatsanwaltschaft führt weiter zu einer Ungleichbehandlung von Staatsanwaltschaft und inhaftierter Person. Die Staatsanwaltschaft kann durch ihre Haftbeschwerde faktisch ein zweites mündliches Haftprüfungsverfahren erzwingen: nach jenem vor dem ZMG ein analoges vor der Beschwerdeinstanz.
Führt hingegen die verhaftete Person Beschwerde, dann findet vor der Beschwerdeinstanz kein zweites mündliches Haftprüfungsverfahren statt, sondern das übliche schriftliche Beschwerdeverfahren, das mindestens einen Monat dauert und damit die Garantien der EMRK erst recht in zeitlicher Hinsicht nicht einhält. Auch erfolgt keine Vorführung vor der relevanten Behörde, womit die Mindestanforderungen von Art. 5 Ziff. 3 EMRK ohnehin nicht eingehalten sind.
Wie sollte es zudem zu rechtfertigen sein, dass unterschiedliche Verfahrensarten gelten, die insbesondere unterschiedliche Verfahrensdauern zur Folge haben, je nachdem, wer Beschwerde führt (Staatsanwaltschaft: kürzeres Verfahren; inhaftierte Person: langes Verfahren)? Dafür gibt es keinen stichhaltigen Grund. Es wird auch keiner genannt.
4.3 Korrektur der Fehlentwicklung versäumt
Die Einführung eines Beschwerderechts der Staatsanwaltschaft durch die «Fehl-Sprechung» des Bundesgerichts führt – wie ausgeführt – zur generellen EMRK-Widrigkeit des Haftanordnungsverfahrens vor ZMG. Und zwar egal, ob dagegen Beschwerde geführt wird oder nicht, und falls ja, von wem. Denn das ZMG ist nicht mehr die richterliche Behörde gemäss Art. 5 Ziff. 3 EMRK. Und es dauert bis zu einem EMRK-konformen richterlichen Entscheid, eben jenem der Beschwerdeinstanz, mindestens sieben Tage. Als erstes Fazit kann festgehalten werden, dass alle Haftentscheide des ZMG, egal, ob sie angefochten werden oder nicht, nicht mehr EMRK-konform sind. Dies haben die Verfasser der Botschaft offensichtlich nicht bedacht und korrigieren es auch nicht.
Zweites Fazit: Da erst die Beschwerdeinstanz mit ihrem Endentscheid die Vorgaben von Art. 5 Ziff. 3 EMRK erfüllt, dieses Verfahren aber vor allem die Zeitvorgaben der EMRK nicht einhält (mindestens siebeneinhalb Tage bei Beschwerde durch die Staatsanwaltschaft, mindestens ein Monat bei Beschwerde durch Verteidigung), ist auch das Beschwerdeverfahren nicht das EMRK-konforme Haftanordnungsverfahren.
Damit ist festzuhalten, dass das Haftanordnungsverfahren weder nach revidierter, aber auch schon jetzt nach geltender StPO wegen der Ergänzung durch die «Fehl-Sprechung» des Bundesgerichts nicht EMRK-konform ist. Die Schweiz hat somit seit Zuerkennung eines Beschwerderechts an die Staatsanwaltschaft kein EMRK-konformes Haftanordnungsverfahren mehr. Sie wird mit der Revisionsvorlage erst recht kein solches erhalten. Ein EMRK-konformes Haftanordnungsverfahren kann nur dadurch wieder- hergestellt werden, dass das Parlament das Beschwerderecht der Staatsanwaltschaft explizit ausschliesst. Etwa, indem Art. 222 wie folgt ergänzt wird: «Einzig die verhaftete Person kann Entscheide … anfechten.»).
5. Haftgrund der Fortsetzungsgefahr
Die StPO verankert in Art. 221 Abs. 1 lit. c den an sich schon systemwidrigen Haftgrund der Fortsetzungsgefahr. Dieser Haftgrund ist deshalb systemwidrig, weil Haft immer nur dazu dienen kann und darf, die Durchführung des Strafverfahrens sicherzustellen, also dessen Beeinträchtigung zu verhindern. Klassische Gefahren dafür sind die Kollusion und die Flucht, um sich dem Verfahren zu entziehen. Fortsetzungsgefahr hingegen hat nichts mit der Beeinträchtigung des laufenden Verfahrens zu tun, sondern mit dem Schutz der Bevölkerung vor weiteren Delikten durch dieselbe Person. Sie verfolgt somit präventive Gründe. Damit gehört dieser Haftgrund vielmehr in die Polizeigesetzgebung, mit welcher klassische Prävention betrieben wird.
Mit dem Erlass der Schweizerischen StPO wurde die Wiederholungsgefahr so definiert, dass diese dann vorliegen kann, wenn jemand eines schweren Vergehens oder Verbrechens verdächtig ist und die Gefahr besteht, dass er weitere solche begehen könnte, nachdem er bereits früher gleichartige Straftaten verübt hat. Verlangt sind also drei Delikte: das vergangene, das untersuchte und das künftig befürchtete – wobei alle drei gleichartig sein müssen. Der Kanton Zürich kannte in seiner kantonalen StPO die qualifizierte Fortsetzungsgefahr bereits, welche Haft rechtfertigte, wenn jemand ein besonders schweres Delikt begangen hatte und wenn befürchtet wurde, er könne Ähnliches wieder tun. Deshalb liess sich der Ständerat und Strafrechtsprofessor Daniel Jositsch von der Staatsanwaltschaft vor den Karren spannen und verlangte in einer Motion die Einführung dieses Haftgrundes auch auf Bundesebene. Dem kommt nun die Botschaft nach, nachdem bereits das Bundesgericht entsprechende Entscheide gefällt und dabei den Wortlaut des Gesetzes missachtet hatte, indem trotz fehlendem Vordelikt eine Fortsetzungsgefahr angenommen wurde (BGer 1B_160/2016, E. 2.2.1).
Wie erwähnt besteht der zulässige Zweck der strafprozessualen Haft immer nur darin, das Verfahren vor Beeinträchtigung von aussen zu schützen. Die Wiederholungsgefahr, die nun in qualifizierten Fällen bereits nach einem einmaligen Delikt angeordnet werden kann, das erst noch untersucht wird, wenn somit noch gar nicht feststeht, dass die betroffene Person es auch begangen hat, entspricht doch effektiv dem früheren Haftgrund des besonders schweren Delikts und dient einzig der Beruhigung der Bevölkerung. Das Befriedigen der kochenden Volksseele oder die Vorwegnahme von Strafe bei einem besonders schweren Delikt haben beide nichts mit der Sicherstellung der Strafuntersuchung zu tun. Um nichts anderes aber geht es bei dem Haftgrund der qualifizierten Wiederholungsgefahr. Mit ihm wird dem Populismus gefrönt (Besänftigung der kochenden Volksseele nach einem besonderes Aufsehen erregenden Delikt) und Missbrauch betrieben (Vorwegnahme von Strafe), weshalb seine Einführung abgelehnt werden muss.
6. DNA-Proben auch für künftige Delikte
Art. 255 Abs. 1 StPO normiert die Voraussetzungen, unter denen eine DNA-Probe genommen und ein entsprechendes Profil erstellt werden kann und darf (das dann in das DNA-Register aufgenommen und mit den vorhandenen Profilen abgeglichen wird). Die Bestimmung ist insofern sprachlich unklar, als dies «zur Aufklärung eines Verbrechens oder Vergehens» zulässig ist. Damit wird nicht ganz klar, ob damit das untersuchte Delikt gemeint ist oder auch andere, insbesondere auch künftige. Dies spielte dann eine Rolle, wenn zur Aufklärung des vorgeworfenen Deliktes eine DNA-Probenahme nicht nötig war, weil etwa bei einem Vergewaltigungsvorwurf der Beschuldigte den Geschlechtsverkehr nicht bestritt, aber einwendet, dieser sei einvernehmlich erfolgt. Dennoch wollte die Strafverfolgung von diesem Beschuldigten eine DNA-Probe nehmen und mit dem Register abgleichen zur Klärung der Frage, ob diese Person eventuell für weitere andere Delikte – seien es gleichgelagerte oder völlig andere – in Frage kommt.
Dieser verdachtsunabhängige Abgleich mit dem DNA-Register schafft zwangsläufig Zufallsfunde. Es können sich Hinweise auf eine mögliche Verwicklung des Betroffenen in völlig andere Delikte ergeben, für welche ihm gegenüber nie ein Tatverdacht bestanden hat. Die bewusste Schaffung und Erhebung von Zufallsfunden wurde bislang vom Bundesgericht als «fishing expedition» bezeichnet und für unzulässig erklärt. Einzig bezüglich dem DNA-Register erachtet das Bundesgericht dieses Vorgehen als zulässig, dies gestützt auf den angeblichen Willen des Gesetzgebers, das DNA-Register möglichst breit einzusetzen. Ein kleinerer Teil der Lehre hat sich konsequent dagegen zur Wehr gesetzt, dass der Gesetzestext so interpretiert werden darf. Vergeblich, wie die Botschaft nun aber zeigt. Die bundesgerichtliche Auslegung soll Gesetzestext werden.
Warum wehrte sich eine eher kleine Gruppe so vehement gegen diese Gesetzesinterpretation und damit gegen eine breitere Anwendung der DNA-Technik? Ganz einfach deshalb, weil sich der Gesetzgeber durch die Technik vorschreiben lässt, welche Grundrechtseingriffe zulässig sein sollen, anstatt dass ein Diskurs darüber geführt wird, welche Eingriffe sich rechtlich verantworten lassen. Zur Zeit zumindest ist alles zulässig, was technisch möglich ist, weil die Strafverfolgung das verlangt. Insbesondere dann, wenn die davon Betroffenen ohnehin die «anderen» sind. Das grosse Erstaunen kommt erst, wenn die sogenannt «Guten» plötzlich auch davon betroffen werden (etwa durch den Kameraeinsatz bei Geschwindigkeitsübertretungen, die dann zu Führerausweisentzügen führen).
Zulässig sind nach der allgemeinen Bestimmung in Art. 36 BV Grundrechtseingriffe dann, wenn dafür ein öffentliches Interesse besteht und der Eingriff verhältnismässig ist. Bislang wurde das im Strafverfahren so verstanden, dass Grundrechtsbeschränkungen zulässig sind, wenn ein Tatverdacht besteht und die Schwere des Tatverdachts die Schwere des Eingriffs rechtfertigt. Nach diesem Grundsatz ist aber ein Eingriff so lange unzulässig, als kein Tatverdacht auf die Begehung eines Delikts besteht. Die DNA-Probenahme und der Registerabgleich im Hinblick auf künftige Delikte sichert diese Daten nicht, um künftige Delikte auch tatsächlich aufklären zu können, sondern tut das Gegenteil: Das Profil der verdächtigen Person wird mit Tatortspuren unaufgeklärter Delikte abgeglichen, obwohl überhaupt kein Tatverdacht besteht, dass diese Person für eines dieser unaufgeklärten Delikte in Frage kommt. Das nennt man eben «fishing expedition», und das ist verboten. Deshalb muss der Gesetzestext wieder dahingehend korrigiert werden, dass die Erstellung eines DNA-Profils und dessen Abgleich mit dem Register nur zur Aufklärung des untersuchten Deliktes zulässig ist. Und das auch nur dann, wenn er zur Aufklärung notwendig ist.
7. Fazit: Dringend Korrekturen nötig
Die obigen Ausführungen belegen, dass die Revision der StPO einzig zulasten der beschuldigten Personen gehen soll. Von einer Beibehaltung von ausgewogenen Parteirechten im Vorverfahren (Teilnahmerecht) zur Kompensation eines im Prinzip nur noch mittelbaren Hauptverfahrens kann keine Rede mehr sein. Das durch die «Fehl-Sprechung» des Bundesgerichts geschaffene Beschwerderecht für die Staatsanwaltschaft gegen Haftentscheide muss dringend abgeschafft werden, indem Art. 222 StPO so geändert wird, dass ausschliesslich die verhaftete Person ein Beschwerderecht hat. Alles andere führt zu einem grundsätzlich EMRK-widrigen Haftanordnungsverfahren. Das kann sich die Schweiz nicht leisten.
Botschaft vom 28.8.2019, BBl 2019, S. 6697 ff., und Entwurf, BBl 2019, S. 6789 ff.
Die Vorlage trägt die parlamentarische Geschäftsnummer 19.048. Erstbehandelnder Rat ist der Nationalrat. Dessen Rechtskommission (RK-NR) führt zu diesem Geschäft am 20.2.2020 Hearings mit interessierten Vernehmlassungsteilnehmern durch. Dort (und analog in der RK-SR) wird realistischerweise die letzte Möglichkeit sein, um noch substanzielle Änderungen an den vorgeschlagenen Revisionspunkten erreichen zu können.
Vgl. Jens Meyer-Ladewig et al., EMRK-Handkommentar, 4. Aufl., Baden-Baden 2017 (fortan: EMRK-Handkommentar), Rz. 74 zu Art. 5, mit Verweis auf die Rechtsprechung der Strassburger Organe: «Die Vorführung und richterliche Überprüfung darf nicht von einem Antrag abhängig gemacht werden, sie muss von Amts wegen geschehen.»
So schon Mark Villiger, Handbuch der EMRK, 2. Aufl., Zürich 1999 (fortan: Handbuch der EMRK), Rz. 353; ebenso EMRK-Handkommentar, Rz. 78 zu Art. 5; beide mit Verweis auf die Rechtsprechung der Strassburger Organe.
Vgl. Handbuch der EMRK, Rz. 353; ebenso EMRK-Handkommentar, Rz. 79 zu Art. 5; beide mit Verweis auf die Rechtsprechung der Strassburger Organe.
Handbuch der EMRK, Rz 358; ebenso EMRK-Handkommentar, Rz. 75 zu Art. 5; beide mit Verweis auf die Rechtsprechung der Strassburger Organe.
EMRK-Handkommentar, Rz. 75 zu Art. 5, mit Verweis auf die Rechtsprechung der Strassburger Organe, insbesondere Entscheid Brogan und andere c. Vereinigtes Königreich des EGMR vom 29.11.1988.
Fraglich ist nur, ob der Verzicht der verhafteten Person auf persönliche Anhörung, was nach Art. 225 Abs. 5 StPO möglich ist, überhaupt EMRK-konform ist.
Der Ausschluss der Staatsanwaltschaft ergibt sich aus dem Ursprung des Beschwerderechts an sich:
Er ist Folge des Umstands, dass sich vor Erlass des BGG nur Private wegen Verletzung verfassungsmässiger Rechte vor Bundesgericht beschweren konnten. Die Haftbeschwerde war eine klassische wegen Verletzung der persönlichen Freiheit, die der Staatsanwaltschaft gerade nicht zusteht.
Botschaft Revision StPO, 19.048, S. 85 unten.
Da es nun zwei verschiedene Beschwerdeverfahren geben soll, je nachdem, wer Beschwerde führt, wird hier vom staatsanwaltschaftlichen gesprochen, wenn es jenes ist, das auf Beschwerde der Staatsanwaltschaft hin stattfindet.
Vgl. Handbuch der EMRK, Rz. 353; ebenso EMRK-Handkommentar, Rz. 79 zu Art. 5; beide mit Verweis auf die Rechtsprechung der Strassburger Organe.