Am 26. Mai 2021 hat der Bundesrat die Verhandlungen mit der Europäischen Union über den Abschluss eines bilateralen institutionellen Rahmenabkommens (InstA) nach sieben Jahren für beendet erklärt. Diesem Vertrag hätten die wichtigsten fünf bestehenden bilateralen Abkommen, darunter das Personenfreizügigkeitsabkommen, und alle neuen «Marktzugangsabkommen», zum Beispiel in den Bereichen Stromhandel, Gesundheit und Dienstleistungen, unterstehen sollen. Auch die Unterstellung des Freihandelsabkommens von 1972 war vorgesehen.
Für die unmittelbare Zukunft will der Bundesrat mit der EU einen «politischen Dialog» führen; konkrete Vorstellungen über die Gestaltung der Zukunft sind aber nicht ersichtlich. Die institutionellen Fragen sollen erst ab 2024 wieder aufs Tapet kommen. Darunter versteht man die Rechtsübernahme, die Überwachung der Vertragstreue, die Konfliktlösung, auch Streitbeilegung genannt, und die Beendigungsordnung. Um die verstimmte EU zu beschwichtigen, hat das Parlament auf Insistieren des Bundesrats die berühmte zweite Kohäsionsmilliarde zugunsten der weniger wohlhabenden EU-Staaten bewilligt, ohne Gegenleistung. Bei dieser bescheidenen Agenda spielen auch innenpolitische Überlegungen eine Rolle. Es geht um die Frage, ob die FDP ihren zweiten Bundesratssitz wird halten können.
Die EU hat die dynamische Rechtsübernahme, die Überwachung der Vertragstreue der Schweiz sowie die Lösung von Konflikten durch einen supranationalen Gerichtshof zur conditio sine qua non einer weiteren (partiellen) privilegierten Teilnahme an ihrem Binnenmarkt gemacht. Die Frage der Streitbeilegung bleibt für die Union aktuell. Das wurde spätestens anlässlich des Besuchs von Bundesrat Cassis vom 15. November 2021 bei Kommissions-Vizepräsident Maroš Šefčovič in Brüssel klar. Richtig wäre daher, die Zeit zu nutzen und eine Auslegeordnung unter Beizug von Vertretern der Zivilgesellschaft zu erstellen. Die Union hat einige ihrer Drohungen aus der Zeit vor dem 26. Mai 2021 wahrgemacht. Sie hat die Schweiz bei der Forschungsförderung degradiert, Schritte gegen Schweizer Medtechfirmen unternommen, und die Verhandlungen über ein Stromabkommen sind auf Eis gelegt. Zugleich fordert Brüssel eine Verstetigung der Kohäsionszahlungen. Ohne InstA sollen keine neuen «Marktzugangsverträge» mit der Schweiz abgeschlossen werden. Bestehende Abkommen will man «erodieren» lassen, das heisst, nicht an neue Entwicklungen des EU-Rechts anpassen. Die Schlechterstellung bei der Forschungsförderung erfolgte entgegen einer klaren Zusage, dieses Dossier sei vom InstA unabhängig.
Die EU schiesst sich damit selbst in den Fuss. Die Schikanen der Medtechbranche sind gemäss dem Rechtsgutachten einer renommierten Brüsseler Anwaltskanzlei rechtswidrig. Bei dieser Zeche zahlen EU-Bürger und Unternehmen mit. Und ob ein Stromabkommen die hausgemachten Schweizer Versorgungsprobleme lösen könnte, ist angesichts der Schwierigkeiten innerhalb der EU mehr als fraglich. Wichtig wäre, dass der Bundesrat in all diesen Fragen klar kommuniziert und sich gegebenenfalls nicht scheut, den Rechtsweg zu beschreiten.
Das InstA ist nach offizieller Lesart daran gescheitert, dass man sich in drei materiellrechtlichen Punkten nicht einigen konnte: dem Schutz der hohen Schweizer Löhne, wenn Unternehmen aus der EU grenzüberschreitende Dienstleistungen anbieten, der Frage, ob die Unionsbürgerschaftsrichtlinie der EU unter das InstA fallen sollte, und der Frage, ob das Beihilfeverbot des EU-Rechts übernommen werden sollte. In diesen Punkten war die Situation von Anfang an schwierig, weil der Bundesrat, um sich die Unterstützung wichtiger Stakeholder zu sichern, zu Verhandlungsbeginn rote Linien definiert hatte, die er nicht zu überschreiten versprach.
Schon bisher fussen die bilateralen Verträge mit der EU auf deren Recht. Die Rechtsübernahme erfolgt aber statisch. Das InstA sah einen Wechsel zur dynamischen Rechtsübernahme vor. Im Gegenzug sollte der Schweiz beim Erlass neuen InstA-relevanten EU-Rechts ein Mitspracherecht eingeräumt werden. Was die Überwachung angeht, so wurde im InstA-Entwurf gesagt, die Schweiz kontrolliere sich selbst. Da die Europäische Kommission aber jederzeit einseitig, das heisst ohne Zustimmung der Schweiz, ein Streitbeilegungsverfahren hätte anstrengen können, wäre sie zur faktischen Überwachungsbehörde der Schweiz geworden. Für die Streitentscheidung selbst wäre ein Schiedsgericht zuständig gewesen, das aber in praktisch allen wichtigen Fällen den EuGH um ein verbindliches Urteil hätte ersuchen müssen. Wäre ein dem InstA unterstehendes Abkommen dahingefallen, so hätte das zur Beendigung aller Abkommen geführt.
In den institutionellen Fragen hat der Bundesrat dem Verhandlungsergebnis Ende 2018 zugestimmt. Seither haben freilich die Bedenken zugenommen, ob die diesbezüglichen Regelungen des InstA-Entwurfs in einer Volksabstimmung akzeptiert worden wären. Es ist vor allem klar geworden, dass das Schiedsgericht der Camouflage der Tatsache gedient hätte, dass tatsächlich der EuGH, das per definitionem nicht neutrale Gericht der Gegenpartei, das Sagen gehabt hätte. Kein EU-Staat hätte ein solches Modell unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten akzeptiert. Gleiches gilt für Island und Norwegen. Das Modell des Pro-Forma-Schiedsgerichts mit dem EuGH hinter dem Vorhang ist den Assoziationsverträgen der EU mit den früheren Sowjetrepubliken Armenien, Georgien, Moldawien und Ukraine entnommen – was der Bundesrat nur zögerlich zugegeben hat. Diese Abkommen sollen die genannten Staaten an die Ideen der Demokratie, des Rechtsstaates und der Marktwirtschaft heranführen. Die Schweiz hat solche Handreichung von Seiten der EU nicht nötig.
EU-Vertreter und ehrliche Schweizer InstA-Befürworter haben freimütig eingeräumt, dass faktisch der EuGH entscheiden würde. Sie haben aber geltend gemacht, das sei das Normalste der Welt. Der Binnenmarkt sei nun einmal eine Einrichtung der EU, die bilateralen Verträge fussten auf EU-Recht und daher sei es nur logisch, ja zwingend, dass der EuGH im Konfliktfall entscheide.
Dieser Schluss ist falsch. Es geht nicht um Logik, es geht um Macht. Zum einen funktionieren die bestehenden bilateralen Verträge ohne supranationale Rechtsprechungszuständigkeit des EuGH. Der EuGH ist nur für die EU zuständig, während die Schweiz der Kompetenz des Bundesgerichts untersteht. Und zum anderen gibt es einen anderen supranationalen Gerichtshof, der das Binnenmarktrecht auslegen darf (und muss). Es ist der Gerichtshof der drei EWR/Efta-Staaten Island, Liechtenstein und Norwegen. Tatsächlich hat die EU der Schweiz im Jahr 2013 das Andocken an den Efta-Gerichtshof vorgeschlagen. Die bilateralen Verträge wären also diesem, für die Schweiz neutralen, Gericht unterstellt worden. Gleichzeitig, so die Offerte der EU, hätte die Schweiz mit Island, Liechtenstein und Norwegen das Recht aushandeln sollen, in den sie betreffenden Fällen einen Richter am Efta-Gerichtshof zu stellen. Dieses grosszügige Angebot wurde vom Bundesrat auf Betreiben des EDA abgelehnt.
Stattdessen optierte der Bundesrat für das Gericht der Gegenpartei, den EuGH, wobei das Verhandlungsmandat ab Frühjahr 2018 dahin abgeändert wurde, dass das genannte Schein-Schiedsgericht zwischengeschaltet würde. Die diesbezüglichen Behauptungen des EDA waren vor und nach 2018 samt und sonders unrichtig. Es handelte sich nach der berühmten Definition des US-amerikanischen Moralphilosophen Harry G. Frankfurt um «Bullshit»: «Speech aimed at persuading without regard to truth» (Äusserungen mit dem Ziel, ohne Rücksicht auf die Wahrheit zu überzeugen). Die grössten Sottisen waren Aussagen wie etwa: «Der EuGH wird lediglich Gutachten zuhanden der Gemischten Ausschüsse erstatten, während der Efta-Gerichtshof die Schweiz verurteilen könnte.» Oder: «Die Urteile des Efta-Gerichtshofs sind für die EU und ihre Mitgliedstaaten nicht verbindlich.» Mit solchen Aussagen wäre jeder Student durch die Europarechtsprüfung geflogen. Auch die Behauptung, das Ukraine-Schiedsgericht hätte weitgehend unabhängig operieren können, entbehrt jeder Grundlage. Man muss daher annehmen, dass der Entscheid zugunsten des EuGH durch den Wunsch motiviert war, einen Point of no Return auf dem Weg zu einem EU-Beitritt zu setzen.
Dazu muss man wissen, dass das EDA und ihm folgend eine Mehrheit des Bundesrats seit 1992 das Ziel eines EU-Beitritts verfolgt haben. Diesem Ziel ist am 6. Dezember 1992 auch der Beitritt der Schweiz zum multilateralen Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) zum Opfer gefallen. Ein halbes Jahr vor der Volksabstimmung stellte der Bundesrat einen Antrag auf Beitritt zur EU. Damit war es für absolute Integrationsgegner leicht zu behaupten, es gehe beim EWR-Referendum in Wahrheit um den ersten Schritt in die EU.
Die Lage in Europa hat sich gegenüber 2013 stark verändert. Der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU hat eine neue Situation geschaffen. Im vorliegenden Kontext ist von Interesse, dass die EU das Andocken an den Efta-Gerichtshof 2018 auch den Briten vorgeschlagen hat. Die haben diese Offerte ebenso wenig seriös geprüft wie der Bundesrat im Jahr 2013 – allerdings haben sie auf eine Bullshitkampagne nach Berner Vorbild verzichtet. Am 1. Januar 2021 trat das Vereinigte Königreich aus dem Binnenmarkt aus. Streitigkeiten aus ihrem Handels- und Kooperationsabkommen mit der EU sollen echte Schiedsgerichte entscheiden.
Allerdings sind die Briten mit dem neuen Regime nicht zufrieden. In diesem Zusammenhang ist auf einen Vorschlag des Brüsseler Thinktanks Bruegel vom 29. August 2016 hinzuweisen. Danach könnten in Europa zwei Strukturen bestehen: die auf politische Integration ausgerichtete EU und eine zweite, die auf wirtschaftliche Integration beschränkt ist. Letzterer sollten die EWR/Efta-Staaten Island, Liechtenstein, Norwegen, der vierte Efta-Staat Schweiz und das Vereinigte Königreich angehören. Beide Pfeiler wären durch ein Continental Partnership Agreement verbunden. Beide hätten ihre eigene unabhängige Überwachungsbehörde und ihren eigenen unabhängigen Gerichtshof. Neues Recht würde in der EU geschaffen, aber die fünf Partnerschaftsstaaten sollten mehr als ein Mitspracherecht erhalten, nämlich ein politisches Mitentscheidungsrecht.
Dass ein Mitmachen des Vereinigten Königreichs die Schlagkraft der Nicht-EU-Staaten erhöhen würde, wurde auch in Island und in Norwegen erkannt. Die Schweiz hatte zum Vereinigten Königreich stets ein freundschaftliches Verhältnis. Mit dem Glauben an den Freihandel und an ein liberales Menschenbild haben beide Länder wichtige Gemeinsamkeiten. Die hegelianische Vorstellung, der Staat sei «die Wirklichkeit der sittlichen Idee», fehlt in beiden Ländern.
Schweizer glauben grundsätzlich nicht, dass das Heil vom Staat kommt, grossen Würfen wie der EU steht man zurückhaltend gegenüber. Es besteht eine merkantile Grundhaltung im Lande, die etwa das echte Schiedsgerichtswesen begünstigt. Nähme man Werner Sombarts Gegenüberstellung von Helden und Händlern, wären die Schweizer nicht bei den Helden, sondern bei den Händlern – wie die Briten. Napoleon bezeichnete sie als Nation von Shopkeepern (Ladeninhabern). Die Bemerkung war abschätzig gemeint, aber sie kann auch als Kompliment aufgefasst werden. Auch die Schweizer sind Shopkeeper.
Der Bundesrat wäre gut beraten, wenn er sich in Sachen europäische Integration mit dem Vereinigten Königreich und den drei EWR/Efta-Staaten Island, Liechtenstein und Norwegen kurzschlösse, um auszuloten, ob ein Modell wie das von den Bruegel-Leuten vorgeschlagene machbar ist. Es trifft zu, dass Brexit-Britannien in den vergangenen Jahren oft einen konfusen Eindruck machte. Aber das wird sich wieder einpendeln.
In den Tag hineinleben (in der Sprache von Aussenminister Ignazio Cassis: «Vivere alla giornata») ist Vogel-Strauss-Politik. Sollten die Briten kein Interesse an einer Allianz haben, so blieben drei Möglichkeiten: das Andocken wie von der EU 2013 vorgeschlagen, das Ukraine-Modell, das allerdings mit einem Abstieg in die Liga der Nachbarschaftsstaaten (wohlverstanden mit der Pflicht zu Kohäsionszahlungen) verbunden wäre und der (schleichende) Austritt aus dem Binnenmarkt in der Hoffnung, man könne in der Welt allein bestehen.
Im Gegensatz zum Vereinigten Königreich liegt die Schweiz aber im Herzen Europas. Täglich überqueren 350 000 Grenzgänger aus der EU ihre Grenze, es besteht Personenfreizügigkeit und mit der Neat hat die Schweiz – abgesehen von Kohäsionszahlungen – einen enormen Beitrag zur Verbindung Italiens mit der restlichen EU geleistet. Der Ukraine-Mechanismus ist nach der hier vertretenen Auffassung abzulehnen. Er hat zu viel Ähnlichkeit mit den extraterritorialen Gerichten, welche die imperialistischen Staaten des Westens im 19. Jahrhundert China, Japan und dem Osmanischen Reich aufzwangen. Einen Unequal treaty sollte eine alte, ungebrochene und wirtschaftlich erfolgreiche Demokratie nicht eingehen.
Carl Baudenbacher Professor, Senior Partner Baudenbacher Law, Zürich/Brüssel, Visiting Professor London School of Economics, Präsident des Efta-Gerichtshofs a.D.1
1 Der Autor verfasste im Februar 2019 ein Rechtsgutachten zur Streitentscheidungsregelung des InstA-Entwurfs zu Handen der Kommission des Nationalrates für Wirtschaft und Abgaben WAK (www.parlament.ch/centers/documents/de/rechtsgutachten-professor-carl-baudenbacher.pdf).