Mit der Überlastung der Strafjustiz ist es so eine Sache: In einigen Kantonen sprechen die Behörden seit einiger Zeit von unhaltbaren Zuständen aufgrund einer nicht mehr zu bewältigenden Zahl von Strafverfahren. Im letzten Sommer behaupteten die Tamedia-Zeitungen, die Schweizer Justiz stehe «vor dem Kollaps». Der Artikel nannte die Zahl der Pendenzen. Zahlen zu eingegangenen Fällen oder Stellen bei den Staatsanwaltschaften fanden sich im Beitrag aber nicht.
Tatsache ist: In einigen Kantonen wie Zürich wuchs der Personalbestand in den letzten Jahren schneller als die Zahl der Fälle. Eine einheitliche Erhebung in sämtlichen Kantonen fehlt bis anhin.
Einige Strafverteidiger ziehen die Darstellung von den überlasteten Strafverfolgern denn auch in Zweifel. Sie werfen die Frage auf, ob effektiv ein strukturelles Problem besteht und ob dieses so gravierend ist wie teils geschildert. Und sie fragen sich, ob allfällige Probleme nicht vor allem hausgemacht sind (plädoyer 6/2023).
Andere Strafverteidiger wie der Zürcher Thomas Fingerhuth sprechen ebenfalls von «dramatischen» Zuständen. Sie regten einen runden Tisch mit Staatsanwälten, Verteidigern und Richtern an. Ziel: mögliche Ursachen analysieren und Lösungsansätze diskutieren.
Die Idee wurde letzten Herbst aufgegriffen. An einer Sitzung trafen sich Vertreter aus Advokatur, Strafverfolgung und Justiz zum Austausch. Doch das Projekt sei abgebrochen worden, sagt der Solothurner Strafverteidiger Konrad Jeker. Der Schweizerische Anwaltsverband und die Staatsanwaltschaftskonferenz hätten sich nicht hinter das Vorhaben gestellt.
«Strafprozessordnung verkompliziert Verfahren»
Nun nimmt sich ein anderes Gremium dem Thema an: die Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren (KKJPD). Sie teilte Anfang April mit, dass sie Ausmass und Gründe der Überlastung analysieren will. In einer Medienmitteilung führte sie aus, die angespannte Situation bei den Strafverfolgungsbehörden sei «eine direkte Konsequenz der Verkomplizierung des Strafverfahrens seit der Einführung der eidgenössischen Strafprozessordnung vor zwölf Jahren.»
Die KKJPD stellte ihr Projekt Anfang Mai in der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrats vor. Für Jeker zeigt dies, wie einflussreich die KKJPD ist. Ihr Vorhaben bezeichnet er als «gefährlich und einseitig». Dies zeige sich etwa daran, dass in der Medienmitteilung der KKJPD «die Ursachen offenbar bekannt sind, bevor das Projekt begonnen hat».
Zwar hätten an der Anhörung in der nationalrätlichen Kommission auch Vertreter des Anwaltsverbands teilgenommen – die Perspektive der Verteidigung und auch jene der Gerichte würden aber zu kurz kommen, so Jeker.
Benjamin Brägger, Sekretär der Strafrechtskommission der KKJPD, ist federführend beim Projekt. Er sagt, dass auch Anwälte und Verteidiger einbezogen würden – spätestens bei der sogenannten «Umweltanalyse», wenn es darum geht, die Gründe einer Überlastung auszumachen. Welche Zahlen für die «Situationsanalyse» erhoben werden sollen, stehe noch nicht fest.
Dass in der Pressemitteilung mit der «Verkomplizierung des Strafverfahrens» durch die StPO bereits die Gründe für die laut KKJPD unzweifelhafte Überlastung angegeben wurden, bezeichnet Brägger als Ausdruck einer «politischen Hypothese». «Wir müssen nun Zahlen sammeln und diese Hypothese verifizieren oder falsifizieren.» Die Ergebnisse der Analyse sollen im Frühling 2025 vorliegen.
Staatsanwaltschaften als «Kriegsmaschinerien»
Brägger stellte das KKJPD-Projekt Ende Mai auch am Schulthess-Forum in Bern vor, wo sich Staatsanwälte, Verteidiger, Richter und andere Juristen zum Thema Überlastung der Strafjustiz austauschten. Das Forum des Schulthess-Verlags war laut Mitorganisator Jeker in gewisser Weise auch ein runder Tisch, um verschiedene Standpunkte einzubringen, zu hinterfragen und zu diskutieren.
Der Freiburger Generalstaatsanwalt Fabien Gasser bezeichnete den Grundsatz «In dubio pro duriore» als «Katastrophe», der den Staatsanwaltschaften das Image von «Kriegsmaschinerien» verleihe und der sie hindere, Verfahren wegen Bagatellen einzustellen. Auch die Anzeigepflicht nach Artikel 302 StPO führe zu einer Vielzahl von «sinnlosen Anzeigen».
Gasser äusserte den Wunsch nach mehr Ermessensspielraum für die Behörden bei der Verfolgung und Priorisierung von Fällen. Das Strafrecht solle vermehrt nur als «ultima ratio» zum Zug kommen, statt als Allheilmittel. Mit einer Erhöhung des Personalbestands sei es nicht getan, es gelte das Credo «Qualität statt Quantität».
Die Qualitätsfrage griff auch der emeritierte Strafprozessrechtsprofessor und Baselbieter Kantonsrichter Niklaus Ruckstuhl in seinem Referat auf. Er sprach von «Qualitätsproblemen auf allen Ebenen» des Strafverfahrens. In Basel-Stadt würden etwa junge Kriminalbeamte bei medizinstrafrechtlichen Fällen Chefärzte einvernehmen.
«Die Kripo-Beamten verstehen nur Bahnhof.» In grösseren Fällen würden auch Staatsanwälte immer wieder haarsträubende Fehler begehen, zum Beispiel im Fall Vincenz. Solche Missstände führten zu Mehraufwand und Leerläufen vor Gericht: Fälle würden zur nochmaligen Beweiserhebung an die Staatsanwaltschaften zurückgewiesen, Gerichte müssten Beweise erheben, die schon die zuständige Staatsanwaltschaft hätte erheben müssen.
Objektive Analyse statt «subjektiver Erfahrungen»
Der Zürcher Anwalt Matthias Brunner fragte sich schon verschiedentlich, ob die Strafverfolgungsbehörden nichts Besseres zu tun hätten, als Bagatelldelikte zu verfolgen. Aber solche persönlichen Erfahrungen liessen kaum Rückschlüsse auf strukturelle Probleme zu, so Brunner.
Wenn es bei den Strafverfolgungsbehörden ein Problem mit Überlastung gäbe – was Brunner offen lässt –, komme man um eine Bestandesaufnahme und eine Analyse der Ursachen nicht herum. Diese dürften aber nicht von einer «Partei» gemacht werden.
Brunner spielt auf die KKJPD und ihre geplante Erhebung an, von der er wenig hält: «Wer auch immer eine solche Bestandesaufnahme macht, hat eine eigene Optik und verfolgt Eigeninteressen. Dass den Anwälten dabei so etwas wie rechtliches Gehör eingeräumt werden soll, macht die Sache nicht besser.» Geeignet für die Schirmherrschaft einer Erhebung wäre nach Brunners Ansicht eine von den Parteien unabhängige Stelle, etwa ein universitäres Institut.
Auch müsste sich eine Analyse zwingend mit der Frage auseinandersetzen, in welchen Bereichen und von welcher Seite wie viele Verfahren initiiert würden – und welches die Prioritäten der Behörden seien. «Worauf man in der Strafverfolgung den Fokus legt, wie viel Aufwand man betreibt – das liegt in der Hand von Polizei und Staatsanwaltschaften. Und hat in erheblichem Mass politische Hintergründe.»