Ende 2022 ist die Verordnung 2022/2065 des Europäischen Parlaments und des Rates über den Binnenmarkt für digitale Dienste, der sogenannte Digital Services Act (DSA), in Kraft getreten. Er gilt seit Mitte Februar dieses Jahres unmittelbar in jedem EU-Mitgliedstaat für «sehr grosse Online-Plattformen und sehr grosse Online-Suchmaschinen». Das sind laut der Verordnung Internetfirmen mit durchschnittlich mindestens 45 Millionen Benutzern.
Diese auf EU-Ebene veranlasste Gesetzgebung hat die nationale Gesetzgebung der 27 Mitgliedstaaten in weitgend abgelöst. Beim Digital Services Act handelt es sich um ein umfangreiches Gesetz mit insgesamt 93 Artikeln auf 102 Seiten.
Gemäss der Europäischen Kommission sollen mit dem DSA «strenge Regeln zur Wahrung europäischer Werte» verankert werden. Artikel 1 DSA hält aber fest, dass die Meinungs- und die Informationsfreiheit trotz der Regulierung entsprechend der «Charta der Grundrechte der Europäischen Union» geschützt werden müssen.
Nicht nur rechtswidrige Einträge betroffen
«Dieses Bekenntnis zum Schutz von Artikel 11 der EU-Grundrechtecharta, Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention und letztlich auch Artikel 5 des Grundgesetzes trügt jedoch», sagt Manfred Kölsch. Der Berliner Jurist amtete über 40 Jahre als Richter und arbeitet heute als Rechtsanwalt. In den vergangenen Monaten setzte er sich intensiv mit dem DSA und der Verordnung auseinander. Der ehemalige Richter warnt: «Die Meinungsfreiheit in der EU ist durch den DSA in akuter Gefahr.»
Manfred Kölsch weist auf diverse problematische Gesetzesartikel und Begründungen hin. So müssen die Plattformen nach Artikel 34 nicht nur «rechtswidrige Einträge» löschen. Sie müssen bei der Überprüfung der Einträge ihr besonderes Augenmerk auch auf «kritische» und auf «nachteilige» Einträge legen. Je nach Ergebnis ihrer Analyse haben die Plattformen nach Artikel 35 die zu beanstandende Eintragung zu löschen oder erweiterte Sanktionen gegen den Nutzer auszusprechen. Artikel 34 fordert die Plattformen auf, ihre Algorithmen, Moderationssysteme und allgemeinen Geschäftsbedingungen sowie die Auswahl der Werbung anzupassen.
«Schädliche Informationen» sind zu löschen
Laut Nummer 5 der Erwägungsgründe sind nicht nur rechtswidrige, sondern auch «anderweitig schädliche Informationen» zu löschen. In Erwägungsgrund 84 heisst es: «Bei der Bewertung der in dieser Verordnung ermittelten systemischen Risiken sollten sich diese Anbieter auf die Informationen konzentrieren, die zwar nicht rechtswidrig sind, aber zu den in dieser Verordnung ermittelten systemischen Risiken beitragen.
Solche Anbieter sollten daher besonders darauf achten, wie ihre Dienste zur Verbreitung oder Verstärkung irreführender oder täuschender Inhalte, einschliesslich Desinformationen, genutzt werden.» Und die Nummer 82 spricht von Risiken, welche «die tatsächlichen oder absehbaren negativen Auswirkungen auf demokratische Prozesse, die gesellschaftliche Debatte und Wahlprozesse sowie auf die öffentliche Sicherheit» betreffen.
Falsche, irreführende oder schädliche Meinungsäusserungen sind laut Manfred Kölsch jedoch nicht notwendig rechtswidrig. Es sei entlarvend, so der Jurist, dass Artikel 34 auch «voraussichtlich kritische» oder Äusserungen mit «voraussehbar nachteiligen Auswirkungen» auf die «gesellschaftliche Debatte», auf «Wahlprozesse», «die öffentliche Sicherheit» oder auf den «Schutz der öffentlichen Gesundheit» als Desinformation qualifiziere. Damit werde Zensur betrieben.
Der Bürger bleibe orientierungslos zurück, wenn er seine Mitteilungen an dem ausrichten müsse, was in den aktuellen politischen Meinungskorridor passe. «Er wird deshalb das vom DSA gelegte Minenfeld nicht betreten, um soziale Nachteile für sich zu vermeiden. «Das Lebenselement freiheitlicher Grundordnung, die ständige geistige und demokratische Auseinandersetzung auch mit gegenteiligen Meinungen, wird verkümmern», kritisiert Kölsch und fügt hinzu: «Betreutes Denken wird um sich greifen.»
Den Plattformen drohen Bussen in Milliardenhöhe
Grosse Internetfirmen und Suchmaschinen wie Facebook, Google, Tiktok oder Youtube neigen laut Kölsch dazu, übermässig viele Kommentare zu blockieren. Das sei eine verständliche Reaktion, weil die Betreiber der Plattformen und Suchmaschinen nur schon aus eigenem wirtschaftlichem Interesse im Zweifel eine Eintragung löschen, um nicht mit den gemäss Richtlinie «wirksamen» und «abschreckenden» Sanktionen rechnen zu müssen. Den Internetkonzernen drohen bei der Nichteinhaltung einer im DSA festgelegten Verpflichtung Bussen in Höhe von bis zu sechs Prozent des weltweiten Umsatzes des vorangegangenen Geschäftsjahrs.
Google erwirtschaftete 2023 einen weltweiten Jahresumsatz von über 200 Milliarden Dollar. Beim Konzern Meta, zu dem Facebook gehört, waren es rund 134,9 Milliarden Dollar. Für grosse Konzerne geht es also um Bussen in Milliardenhöhe. Deshalb ist es nicht erstaunlich, dass in den vergangenen sechs Monaten von den Plattformbetreibern über 12,2 Milliarden Einträge gelöscht wurden. Deren Zahl steigt stetig. Dies geht aus der «DSA-Transparenzdatenbank» der Europäischen Kommission hervor. Auf dieser Internetseite können Nutzer auch die Begründung lesen, weshalb beispielsweise Google, Tiktok oder Youtube eine Löschung vornahmen.
Eine aktuelle Studie der Organisation «The Future of Free Speech» zeigt, dass bei Facebook und Youtube mehrheitlich gesetzlich zulässige Kommentare gelöscht werden. Eine Auswertung in Deutschland, Frankreich und Schweden während zweier Wochen ergab, dass von den gelöschten Kommentaren 87,5 bis 99,7 Prozent gesetzlich zulässig sind.
Die Autoren der Studie sammelten Kommentare von den 20 grössten Facebook-Seiten und Youtube-Kanälen in jedem der drei Länder und verfolgten, welche Kommentare innerhalb eines Zeitraums von zwei Wochen verschwanden. Die hohe Löschungsquote rechtlich zulässiger Einträge deute stark darauf hin, «dass Plattformen, Seiten oder Kanäle übermässig Inhalte entfernen, um regulatorische Strafen zu vermeiden», schreibt die Organisation.
Als Instrument in Zeiten ziviler Unruhe genehm
Mit der Studie wollen die Autoren zeigen, dass die neuen Regeln zunehmend «regulatorische und politische Konsequenzen in der realen Welt» haben, «während sich der potenzielle Umfang des DSA weiter erweitert». So planten vergangenes Jahr sowohl Frankreichs Präsident Emmanuel Macron als auch Thierry Breton, EU-Kommissar für Binnenmarkt und Dienstleistungen, den DSA in Zeiten ziviler Unruhen zu nutzen, um Social-Media-Plattformen zu schliessen. Einzig dank einer schnellen und empörten Zurechtweisung durch zivilgesellschaftliche Organisationen ruderte die EU zurück.
Weshalb gibt es nicht mehr Widerstand gegen die zunehmende Zensur durch die Behörden? Laut Kölsch eignete sich der DSA allein schon wegen seines Umfangs und seiner Komplexität nicht zur öffentlichen Debatte. «Er betrifft die Bürger nicht direkt, sondern schleichend», mahnt Kölsch. Seine Brisanz sei nicht unmittelbar erkennbar, weil er sich als eine rechtsstaatliche Grundsätze achtende Gesetzgebung präsentiere, welche die Monopolisierungsbestrebungen der grossen Internetplattformen gesetzlich einschränken will. «Hinter dieser Fassade der Rechtsstaatlichkeit wird jedoch wissentlich das Recht auf Meinungs- und Informationsfreiheit ausgehöhlt.»
Bundesrat regelt, welche Kommentare er löscht
Der Bundesrat und die Bundesämter haben Kriterien festgelegt, nach denen sie ab August unerwünschte Kommentare auf ihren Profilen löschen, die sie bei Facebook, Instagram oder Tiktok betreiben. Der Bundesrat hat dafür Mitte Juni die Regierungs- und Verwaltungsorganisationsverordnung (RVOV) um neue Artikel ergänzt. Die neuen Bestimmungen in der RVOV regeln, wann Behörden Kommentare löschen oder Nutzer blockieren dürfen.
Das ist der Fall, wenn Kommentare
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- Werbung enthalten, offensichtlich maschinell erzeugt wurden (Spam),
- mehrfach ohne Themenbezug gepostet wurden,
- offensichtlich falsch und desinformierend sind.
Regeln auch für kleinere Internetplattformen
Der Digital Services Act der Europäischen Union stellt nicht nur Regeln für Grosskonzerne auf. Folgende Pflichten gelten auch für kleinere Online-Plattformen:
- Vertrauenswürdige Hinweisgeber: Meldungen von vertrauenswürdigen Hinweisgebern wie Amtsstellen müssen priorisiert behandelt werden. Eine staatliche Stelle bestimmt, wer vertrauenswürdig ist. Berichte über diese Meldungen sind jährlich zu veröffentlichen. Bei Missbrauch kann der Status des Hinweisgebers vorübergehend aufgehoben werden.
- Massnahmen bei missbräuchlicher Verwendung: Nutzer, die wiederholt rechtswidrige Inhalte bereitstellen, müssen nach einer Warnung vorübergehend gesperrt werden. Die Bearbeitung von Meldungen und Beschwerden von Personen, die häufig unbegründete Meldungen einreichen, kann vorübergehend ausgesetzt werden.
- Transparenzberichtspflichten: Online-Plattformen müssen alle sechs Monate Informationen über die Anzahl ihrer aktiven Nutzer veröffentlichen. Diese Berichte gehen an den nationalen Koordinator für digitale Dienste und auf Verlangen an die Kommission.