Bei Verwaltungsstreitigkeiten dominiert in sämtlichen Verfahrensstadien die Schriftlichkeit. Gemäss den Artikeln 52, 57 und 61 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVG) müssen die Beschwerde, die Vernehmlassung und der Entscheid schriftlich sein. Jedoch kann das Gericht gestützt auf Artikel 57 Absatz 2 VwVG auf jeder Verfahrensstufe eine Verhandlung mit den Parteien ansetzen.
Das Gericht kann also innerhalb einer parteiöffentlichen Instruktionsverhandlung die Parteien oder Drittpersonen befragen. Zudem kann es zu einer öffentlichen Verhandlung vorladen. Laut Artikel 40 des Verwaltungsgerichtsgesetzes (VVG) ist es dazu aber nicht verpflichtet. Ähnlich ist die Regelung auch bei den kantonalen Gerichten. In der Praxis machen die Gerichte davon jedoch sehr selten Gebrauch.
Mündliche Verhandlungen fördern Vertrauen
Für Kilian Meyer, Oberrichter in Schaffhausen, wird die Schriftlichkeit beim Bund wie auch in den meisten Kantonen überstrapaziert. Das Problem liege in der «Kultur der Schriftlichkeit», schrieb er im vielbeachteten Beitrag «Mündlichkeit im Beschwerdeverfahren vor Bundesverwaltungsgericht» in der Schweizer Richterzeitung «Justice – Justiz – Giustizia» 1/2017. Meyer fordert, der Verwaltungsprozess sollte sich dem traditionellen Bild einer mündlichen Gerichtsbarkeit annähern. Und damit bei Parteien, Medien und Öffentlichkeit jenes Vertrauen fördern, auf das die Justiz angewiesen sei.
Diese Kultur der Schriftlichkeit steht laut Benjamin Schindler, Professor in St. Gallen, in scharfem Gegensatz zu angelsächsischen Ländern. Dort sind mündliche Verwaltungsprozesse selbstverständlich. Der Zürcher Rechtsanwalt Marc Spescha machte die Erfahrung, dass auch in Deutschland Verwaltungsstreitigkeiten nicht in Abwesenheit der Betroffenen abgehandelt werden. Die zu Artikel 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) entwickelte Rechtsprechung verlangt, dass rechtsuchende Personen ihre Argumente dem nationalen Gericht mündlich in einem öffentlichen Verfahren vortragen können. In der Schweiz wird dies im Ausländerrecht nicht berücksichtigt.
Oft schwere Eingriffe ins Privatleben
Rechtsanwalt Babak Fargahi aus Zürich betont die Notwendigkeit mündlicher Verhandlungen auch im Migrationsrecht. Im Strafrecht seien Verhandlungen grundsätzlich vorgesehen – «weil es Personen betrifft, die mit harten Sanktionen belegt werden können». Dies mache es notwendig, dass sich Richter vorher ein umfassendes Bild der beschuldigten Person machen könnten. Analog zum Strafrecht müsste das Gleiche im Migrationsrecht gelten, so Fargahi. «Vor allem vor dem Hintergrund, dass die Konsequenzen im Migrationsrecht zum Teil viel härter sind als im Strafrecht.»
Fargahi verweist auch darauf, dass Entscheide im Migrationsrecht teilweise extreme Auswirkungen auf die Familie der Betroffenen haben können. In Eheschutz- und Scheidungsverfahren würden die Kinder angehört – im Migrationsrecht aber nicht, obwohl es beispielsweise um die Trennung der Kinder von einem Elternteil geht. «Erst wenn in einem solchen Fall das Kind und die Eltern angehört werden, kann man die Konsequenzen auf das Kindeswohl und das Familienleben wirklich einschätzen.» Viele Entscheide dürften dann einen anderen Ausgang nehmen. «Aber das will man nicht.»
Rechtsanwalt Spescha ergänzt: Laut Artikel 12 der Kinderrechtskonvention müssten die Kinder in relevanten Fragestellungen angehört werden. Er kritisiert den unterschiedlichen Umgang mit den konventions- und verfassungsrechtlichen Vorgaben im Familienrecht einerseits und in ausländerrechtlichen Kontexten andererseits: «Die bundesgerichtliche Rechtsprechung in diesen beiden Rechtsgebieten zeigt klar auf, dass dem Kindeswohl und dem Kindeswillen im Ausländerrecht ein viel zu geringes Gewicht zugemessen wird.»
Für Spescha ist ein Verlust etwa einer Aufenthaltsbewilligung ein schwerer Eingriff in das Privatleben, der vielfach schwerer wiege als eine Freiheitsstrafe. Es sei unverständlich und rechtsstaatlich bedenklich, dass entsprechende Massnahmen – anders als im Strafrecht – häufig einer vertieften Begründung entbehrten. «Stattdessen wird bei aufenthaltsbeendenden Massnahmen und diesen zugrunde gelegten Prognosestellungen weitgehend Gefühlsjurisprudenz betrieben.»
Vier Kantone fallen positiv auf
Eine Umfrage in verschiedenen Kantonen zeigt jedoch auch, dass im Kanton Aargau, in beiden Basel und im Kanton Schaffhausen der Antrag auf eine Verhandlung vor Verwaltungsgericht nicht chancenlos ist. Im Kanton Basel-Stadt erledigte das Verwaltungsgericht laut Präsident Stephan Wullschleger 2018 von 265 Fällen immerhin 33 Verfahren nach einer öffentlichen Hauptverhandlung. Dabei handelte es sich vor allem um Verfahren in kinds- und erwachsenenschutzrechtlichen Beschwerden sowie um bau- und planungsrechtliche Rekurse. «Hier verbinden wir die Verhandlung jeweils mit einem Augenschein, was nicht sehr aufwendig, aber meist sehr aufschlussreich ist», sagt Wullschleger.
Und im Kanton Aargau sagt Marc Busslinger: «Sowohl als Präsident des Rekursgerichts im Ausländerrecht (1997 bis 2012) als auch als zuständiger Verwaltungsrichter für Migrationsrecht (seit 2013) führte ich immer wieder Verhandlungen mit Partei- und Zeugenbefragungen durch», sagt Busslinger. Insbesondere in Verfahren betreffend Ausländerrechtsehen habe es das Gericht hin und wieder als notwendig erachtet, ein persönliches Bild der Betroffenen zu erhalten. Es komme aber auch sehr oft vor, dass eine Parteibefragung verlangt werde, das Gericht jedoch zur Auffassung gelange, der Sachverhalt sei klar und der Betroffene habe seine Situation rechtsgenüglich schildern können. Hier würden keine mündlichen Verhandlungen durchgeführt.
Keine Anhörungen im Kanton Zürich
Ein Antrag auf eine Parteibefragung ist offenbar vor allem beim Zürcher Verwaltungsgericht chancenlos. Laut Rechtsanwalt Valerio Priuli hat der Urkundenbeweis faktisch Vorrang. Marc Spescha sagt, in Migrationssachen gebe es auf keiner Verfahrensstufe Anhörungen durch Personen, die zu Entscheiden befugt seien. Priuli: «Das Gericht entscheidet hinter verschlossenen Türen über das Schicksal der Betroffenen.» Mehrere angefragte Anwälte aus dem Migrationsbereich machten die gleiche Erfahrung. Tatsächlich ist laut der Statistik des Verwaltungsgerichts in den vergangenen sechs Jahren kein einziger Fall im Ausländerrecht mündlich verhandelt worden.
Das Zürcher Verwaltungsgericht verhandelte 2018 sechs Mal mündlich: drei Mal handelte es sich um gerichtliche Beurteilungen von Steuerbussen, je ein Fall betraf Sozialhilfe, Führerausweisentzug und das Zivilstandswesen.
Das Gericht bestätigt die Zurückhaltung in der Anordnung mündlicher Verhandlungen. Es führt zur Begründung an, dass im Kanton Zürich insbesondere im Ausländerrecht vor dem Verwaltungsgericht bereits zwei verwaltungsinterne Vorinstanzen, nämlich das Migrationsamt und die Sicherheitsdirektion den Sachverhalt erstellen: «Deswegen beschränkt sich die Kognition des Verwaltungsgerichts auf Rechtsverletzungen. Eine mündliche Verhandlung und eine Befragung von Parteien oder Zeugen dient aber vor allem der ergänzenden Abklärung des Sachverhalts.»
Dieser Wahrnehmung wird entschieden entgegengehalten, dass es für die rechtsuchende Partei sehr wohl Gründe gibt, die für eine mündliche Anhörung sprechen. Laut Kilian Meyer etwa dann, «wenn der Ausgang des Verfahrens in massgeblicher Weise von der sozialen und sprachlichen Integration einer Person abhängt». Wenn zur sorgfältigen Abklärung des Sachverhalts erforderlich sei, dass sich das Gericht ein erschöpfendes – auch persönliche oder intime Aspekte umfassendes – Bild einer Person oder Situation mache oder «wenn der Ausgang des Verfahrens davon abhängt, ob der Sachdarstellung einer Person, deren Rechte durch einen staatlichen Akt erheblich beeinträchtigt werden, in einem zentralen Punkt Glauben geschenkt wird».
Aktuelle Situation und zusätzliche Fragen klären
Darauf verweisen auch Gerichtspräsident Wullschleger aus Basel und Oberrichter Busslinger. Wullschleger: «Mit einer adressatengerechten, mündlichen Eröffnung kann zudem die Akzeptanz des Urteils tendenziell erhöht werden.» Auch Busslinger, der als Verwaltungsrichter oft migrationsrechtliche Beschwerdeverfahren beurteilt, erachtet es immer wieder «als notwendig, ein persönliches Bild der Betroffenen zu erhalten».
Niklaus Ruckstuhl, Richter am Kantonsgericht Baselland, Abteilung Verfassungs- und Verwaltungsrecht, kann dem nur zustimmen. In Ausländerrechtsfällen komme es häufig vor, «dass wir die betroffene Person wegen zusätzlichen Fragen und zur Feststellung der aktuellen Situation sehen wollen». Seit dem vorinstanzlichen Entscheid sei oft bis zu ein Jahr vergangen. Ruckstuhl nennt ein Beispiel: «Wenn es um Verschuldung geht, wollen wir wissen, was bei der betroffenen Person schiefgelaufen ist. Warum konnte sie die Schulden nicht abzahlen? Warum hat sie Geld verloren? Warum arbeitet sie nicht?» Das seien wichtige Fragen, «die wir direkt besprechen wollen, weil wir uns ein Bild machen und sehen wollen, wie die betroffene Person sich erklärt». Ruckstuhl erinnert sich an einen Fall, in dem ein Ausländer eine vierjährige Freiheitsstrafe wegen Drogenhandels und schwerer Körperverletzung erhalten hatte. «Wir ordneten eine Parteiverhandlung an. Und sie überzeugte uns, dass sie ihre Taten ernsthaft bereue und ihrem Leben eine neue Richtung zu geben bereit war.»
Solchen biografischen Kehrtwenden misst das Bundesgericht in seiner neueren Rechtsprechung laut Spescha eine ausschlaggebende Bedeutung zu. So wurde das Urteil, bei dem Ruckstuhl mitgewirkt hatte, bis vor Bundesgericht weitergezogen. Die Bundesrichter schützten den vorinstanzlichen Entscheid in Anerkennung der Tatsache, dass die Vorinstanz den Betroffenen mündlich angehört hatte, weshalb deren Urteil eine «erhöhte Sachnähe» attestiert wurde.