Für Polizei und Staatsanwaltschaft kommt Öffentlichkeitsarbeit oft einem Drahtseilakt gleich. Wer sich dabei von den Medien hetzen lässt, riskiert eine Verletzung des Amtsgeheimnisses (Artikel 320 des Strafgesetzbuches). Zudem auferlegt Artikel 73 der Strafprozessordnung (StPO) den Mitgliedern von Strafbehörden eine Geheimhaltungspflicht. Davon darf gemäss Artikel 74 StPO nur unter bestimmten Bedingungen abgewichen werden: Sofern dies zur Fahndungsunterstützung notwendig ist oder wenn aufgrund der besonderen Bedeutung des Falles ein überwiegendes öffentliches Interesse für eine Orientierung der Öffentlichkeit spricht. Dabei sind die Behörden laut Artikel 74 verpflichtet, die Unschuldsvermutung und die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen zu beachten.
Die Umsetzung dieser Vorgaben ist in der Praxis anspruchsvoll. Es kommt vor, dass anstelle der hängigen Verfahren, über die berichtet wird, die Medienarbeit selbst zum Gegenstand der Diskussionen oder gar eines Strafverfahrens wird. Beispiel: Im Fall «Seebach» standen anstelle der vermeintlichen Vergewaltiger schnell einmal zwei Polizeibeamte im Fokus der Justiz. Diese hatten vorschnell und unter Missachtung der Unschuldsvermutung über eine Vergewaltigung eines 13-jährigen Mädchens durch Jugendliche berichtet, die so nie stattfand.
«Kriminalfälle faszinieren die Bevölkerung»
Elisabeth Strebel ist sich der Brisanz des Problems bewusst. Die 36-jährige Juristin dissertierte zum Thema der Grenzen medialer Öffentlichkeitsarbeit der Staatsanwaltschaft. Sie leitet die Medienstelle der Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau, hat ihren Job aber gekündigt. Strebels Befund: «Kriminalfälle faszinieren die Bevölkerung. Jene Medien verkaufen sich gut, die ausführlich und wenn möglich in Echtzeit parallel zu den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft berichten können.» Via Bild- und Tondokumente von Leserreportern sei die Presse heutzutage im Nu über Polizeieinsätze und Vorfälle informiert. Dementsprechend schnell werde die zuständige Medienstelle kontaktiert. Die mediale Neugier kontrastiere aber stark mit der Geheimhaltungspflicht: «Wir versuchen jeweils das zu kommunizieren, was wir gesetzlich dürfen, um den Medien Wind aus den Segeln zu nehmen und Ruhe ins Verfahren zu bringen», so Strebel.
Das beobachtet auch der Zürcher Strafrechtsprofessor Daniel Jositsch: «Früher wurde von Seiten der Strafverfolgungsbehörden – wenn überhaupt – nur sehr passiv informiert. Heutzutage ist man offener und versucht so, das mediale Interesse ein wenig zu steuern.» Jositsch will diese Tendenz weder positiv noch negativ werten. Fakt sei, dass sich die Justiz in der heutigen Medienwelt nicht verstecken könne und die Behörden auf das öffentliche Interesse reagieren müssten.
«Die Polizei hat ein anderes Denken»
Die zuständigen Stellen verschiedener Staatsanwaltschaften erklären gegenüber plädoyer, höchstens über den Stand laufender Verfahren zu berichten. Der Tagespresse lassen sich aber regelmässig minutiös rapportierte Sachverhaltsschilderungen entnehmen.
Dass Medien bereits in frühen Ermittlungsstadien über enorme Detailkenntnisse verfügen, führt Elisabeth Strebel unter anderem auf die offensive Pressearbeit der Polizei zurück: «Die Polizei hat ein anderes Denken. Liegt ein Geständnis vor oder sind die Fingerabdrücke einer verdächtigen Person gesichert, ist die beschuldigte Person aus ihrer Perspektive gefunden und die Arbeit getan. Sie setzt sich mit den Tatbeständen des Strafgesetzbuches oder den prozessualen Schritten zu wenig auseinander.»
Als Beispiel nennt Strebel die Pressekonferenz der Aargauer Kantonspolizei über das Jahr 2013. Die Polizei sprach dabei von einer bestimmten Anzahl geklärter Tötungsdelikte, obwohl zu diesem Zeitpunkt gerade einmal in einem Fall Anklage erhoben worden war und noch kein Fall rechtskräftig abgeschlossen war. «Die Polizei zeigt ihre Ergebnisse gerne auf und verkauft sie entsprechend», so Strebel.
Dieser Problematik begegnete die Staatsanwaltschaft des Kantons Bern mit einer Leistungsvereinbarung. Darin wurde die Medienarbeit von Polizei und Staatsanwaltschaft koordiniert. «Wir treffen mit der jeweils für den Fall zuständigen Staatsanwaltschaft und der Medienstelle der Polizei klare Absprachen, was wir zum konkreten Fall sagen dürfen und wollen. So sichern wir uns dagegen ab, uns zu weit aus dem Fenster zu lehnen», sagt Christof Scheurer, Staatsanwalt und Informationsbeauftragter.
Im Aargau hingegen kämpft die Staatsanwaltschaft noch damit, die ihr durch die Strafprozessordnung erteilte Verfahrensleitung auch in kommunikativer Hinsicht wahrnehmen zu können. «Die Polizei agierte gerade im Aargau enorm lange autonom. Sie verfügt über einen gut funktionierenden Apparat, während es die Staatsanwaltschaft in der heutigen Form erst sei drei Jahren gibt», sagt Strebel. So stehen ihr als einziger Mediensprecherin der Staatsanwaltschaft fünf Mediensprecher der Polizei gegenüber.
Strebels persönlicher Wunsch wurde noch nicht erfüllt: die Medienstellen der Polizei und der Staatsanwaltschaft zusammenzuzuführen. «Es wird wohl noch ein paar Jahre dauern, bis ein Umdenken stattfindet, die Staatsanwaltschaft im Verfahren die Führung hat und der Polizei gegebenenfalls den Mund verbieten kann», meint Strebel.
«Die Behörden haben ihren Job nicht verstanden»
Der Fall «Carlos» zeigte jüngst, wie die Medienpraxis von Behörden in einem Fiasko enden kann. Opfer der Geschichte bleibt der Betroffene, der aus den Medien entnehmen musste, wie die Jugendstaatsanwaltschaft und der Zürcher Justizdirektor Martin Graf etliche Details aus seinem Leben an die Presse weitergaben. Noch einschneidender war die – vom Bundesgericht als rechtswidrig erachtete – Inhaftierung des Jugendlichen.
Daniel Jositsch: «Hier können wir nicht wie im Fall ‹Seebach› nur von unglücklicher Kommunikation sprechen. Die Justiz hat sich in diesem Fall von den Medien antreiben lassen und aufgrund des Mediendrucks eine Vollzugsänderung vorgenommen. Dies ist für mich nicht mehr eine Frage der Medienarbeit. Das bedeutet, dass die Behörden ihren Job nicht verstanden haben.»