Verwertungsverbot zu spät geltend gemacht
Anfang Juni 2019 verurteilte die Staatsanwaltschaft einen Lenker, der mehrfach rechts überholt und die nötigen Abstände nicht eingehalten hatte, aufgrund einer privaten Dashcam-Aufzeichnung zu einer bedingten Geldstrafe von 18 000 Franken und 3000 Franken Busse. Der Lenker akzeptierte den Strafbefehl. Drei Monate später entzog ihm die Administrativbehörde den Führerausweis für fünf Monate, was die Rekurskommission Anfang April 2020 bestätigte. Vor Bundesgericht argumentierte der Anwalt des Lenkers einige Monate später, die privaten Video-Aufzeichnungen dürften nicht als Beweis verwendet werden, da sie gemäss neuester Rechtsprechung gegen das Datenschutzgesetz verstiessen. Das Bundesgericht hat die Beschwerde abgewiesen. Der Anwalt hätte die Frage der Nichtverwertbarkeit der Aufnahmen bereits im Strafverfahren einbringen müssen, da bereits in jenem Zeitpunkt die Verwertbarkeit von Beweismitteln aus einer privaten Videoüberwachung äusserst umstritten war.
Bundesgericht 1C_415/2020 vom 17.2.2021
16 Seiten sind keine «Kurzbegründung»
Im Rahmen eines strafrechtlichen Verfahrens verurteilte das Bezirksgericht Lenzburg AG einen Mann zu einer bedingten Geldstrafe von 22 200 Franken. Das Urteil wurde ihm einige Zeit später mit einer Kurzbegründung zugestellt. 20 Tage nach Eingang des Urteils reichte der Täter beim Aargauer Obergericht eine Berufung ein. Das Obergericht trat nicht darauf ein. Es befand, bei dem im Dispositiv zusammen mit der «Kurzbegründung» zugestellten Urteil habe es sich um ein blosses Urteilsdispositiv gehandelt, weshalb die Berufung innert 10 Tagen bei der Erstinstanz hätte eingereicht werden müssen. Das Bundesgericht hat dieses Vorgehen beanstandet. Einerseits ist eine «Kurzbegründung» in der StPO nicht vorgesehen, andererseits wich die 16-seitige «Kurzbegründung» hinsichtlich Sprachgebrauch und Begründungsdichte kaum von einer Urteilsbegründung ab. Das Dispositiv und die Kurzbegründung waren geeignet, beim juristischen Laien ohne anwaltliche Vertretung den Anschein zu erwecken, dass es sich um die schriftliche Begründung handelt und er damit innert Rechtsmittelfrist von 20 Tagen Berufung einzureichen hat.
Bundesgericht 6B_425/2020 vom 10.3.2021
Tödlicher Arbeitsunfall ist genauer zu untersuchen
Beim Hantieren an einem ferngesteuerten Hallenkran wurde ein Arbeiter beim Anheben einer Last von der pendelnden Last erfasst und zur Seite geschleudert. Er erlitt tödliche Verletzungen. Die Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren hinsichtlich eines aussergewöhnlichen Todesfalls ein, weil sowohl ein technischer Defekt am Hallenkran als auch ein aktives Zutun eines Dritten ausgeschlossen werden konnten. Das Bundesgericht hiess eine Beschwerde der Ehefrau des Opfers gut. Die Vorinstanz hatte es willkürlich unterlassen, die Sicherheitskultur im Betrieb unter die Lupe zu nehmen. Dem Arbeitgeber obliegt nicht nur die Ausbildung und Instruktion des Arbeitnehmers, sondern auch die Überwachung und Kontrolle der Einhaltung der Regeln für die Arbeitsplatzsicherheit. Die Vorinstanz verletzte Bundesrecht, indem sie von einem klaren Fall der Straflosigkeit ausging.
Bundesgericht 6B_958/2020 vom 22.3.2021
Liegenschaftenunterhalt: Anwaltskosten abzugsfähig
Nach Art. 32 Abs. 2 des Bundesgesetzes über die direkte Bundessteuer können bei Liegenschaften im Privatvermögen unter anderem die Unterhaltskosten abgezogen werden. Auch Anwalts- und Gerichtskosten können abziehbare Unterhalts- oder Liegenschaftsverwaltungskosten darstellen. Erforderlich ist, dass diese Aufwendungen der Sicherung des Grundeigentums dienen. Die Abzugsfähigkeit hängt grundsätzlich nicht davon ab, ob der Steuerpflichtige vor Gericht mit allen Rechtsbegehren durchdrang. Es wird indes vorausgesetzt, dass das entsprechende Verfahren nicht offensichtlich aussichtslos erscheint. Fall eines Hausbesitzers, der einen Umbau auf der Nachbarliegenschaft verhindern wollte. Er konnte glaubhaft machen, das Verfahren angestrengt zu haben, um eine Wertverminderung des Grundstücks zu verhindern.
Bundesgericht 2C_603/2020 vom 11.2.2021
Indizien für den Lebensmittelpunkt
Zwischen den Zürcher Steuerbehörden und einem Rentner, der zusammen mit seiner Lebenspartnerin je eine Eigentumswohnung in Zürich und in Graubünden besitzt, entstand ein Streit zur Frage des Steuerdomizils. Das Zürcher Verwaltungsgericht kam zum Ergebnis, dass sich der Lebensmittelpunkt des Rentners in Graubünden befindet. Denn er hält sich seit seiner Pensionierung sehr oft in Graubünden auf, wo auch seine Lebenspartnerin herkommt und deren Familie lebt. Er jasst dort oft und spielt im örtlichen Golfclub mit. Zudem hat er im Bündnerland im selben Haus eine kleine Wohnung als Büro angemietet. All dies spricht dafür, dass der Rentner seinen Lebensmittelpunkt ins Bündnerland verlegt hat. Daran ändert auch nichts, dass der Neo-Bündner wenige Monate nach seiner Wohnsitzverlegung eine Kapitalleistung von 1,9 Millionen Franken empfangen hat, was im Kanton Graubünden – verglichen mit Zürich – zu einer Steuerersparnis von rund 150 000 Franken führt.
Bundesgericht 2C_596/2020 vom 10.3.2021
Anspruch nur auf einen einzigen Rechtsbeistand
Wenn es zur Wahrung seiner Rechte «wirklich geboten» und notwendig ist, erhält ein Rechtsuchender einen unentgeltlichen Rechtsbeistand. Kriterien sind etwa die Tragweite der Angelegenheit für die betroffene Person, die tatsächliche und rechtliche Schwierigkeit des Falls oder das Postulationsvermögen und die Sachkunde des Gesuchstellers. Eine massgebliche Rolle spielt auch, ob die Gegenpartei anwaltlich vertreten ist. Es besteht aber kein Automatismus. Vielmehr ist aufgrund der konkreten Umstände zu entscheiden, ob eine unentgeltliche Rechtsverbeiständung zur Herstellung der Waffengleichheit notwendig ist. Folglich steht es den Parteien in einem Zivilverfahren auch nicht frei, sich nach eigenem Gutdünken mehrere Rechtsvertreter als Rechtsbeistände gerichtlich beigeben zu lassen. Selbst in sehr komplexen Verfahren ist es «kaum denkbar», dass die Bestellung mehrerer Rechtsbeistände geboten scheint.
Bundesgericht 4A_492/2020 vom 19.1.2021
Anwaltskosten der Richterin zulasten Bundesstrafgericht
Vor einiger Zeit führte die Verwaltungskommission des Bundesgerichts ein aufsichtsrechtliches Verfahren betreffend Vorkommnissen am Bundesstrafgericht durch, in dessen Rahmen verschiedene Richter einvernommen wurden. Nach der Veröffentlichung des Berichts wurde in den Medien gegenüber einer Richterin der ungerechtfertigte Vorwurf der Amtsgeheimnisverletzung erhoben. Wenig später stand die Richterin auch wegen Äusserungen des ehemaligen Bundesgerichtspräsidenten im Fokus der Medien. Die Richterin ersuchte in der Folge die Verwaltungskommission des Bundesstrafgerichts um Kostengutsprache für einen externen, auf Medienrecht spezialisierten Anwalt, was diese ablehnte. Anders sah es das Bundesverwaltungsgericht, weil auch gegenüber Richtern die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers besteht. Die Kostengutsprache zur Wahrung der Persönlichkeitsrechte ist auch deshalb zu erteilen, weil der gegenüber der Richterin öffentlich und nicht anonymisierte Vorwurf der Amtsgeheimnisverletzung nicht gerechtfertigt war.
Bundesverwaltungsgericht A-3584/2020 vom 12.4.2021
Keine Aufenthaltsbewilligung trotz Adoption
Eine heute 26-jährige Äthiopierin kam im Alter von 20 Jahren in die Schweiz, wo sie ein Asylgesuch stellte. Es wurde rechtskräftig abgewiesen. Die Frau verblieb trotz Wegweisungsentscheids in der Schweiz. Im November 2019 wurde sie durch ein Schweizer Ehepaar adoptiert. Ein darauf gestütztes Gesuch um Erteilung der Aufenthaltsbewilligung scheiterte auch vor Bundesgericht. Die Äthiopierin ist als Volljährige von Schweizer Bürgern adoptiert worden. Die Erwachsenenadoption vermittelt nicht das Schweizer Bürgerrecht. Und ein Recht auf Familiennachzug scheitert daran, dass die Frau im Zeitpunkt der Gesuchseinreichung älter als 18-jährig war. Auch aus Art. 8 der EMRK (Recht auf Familien- und Privatleben) kann die Frau keinen Anspruch auf Verbleib in der Schweiz ableiten.
Bundesgericht 2C_1062/2020 vom 25.3.2021
Chirurg der fahrlässigen Tötung schuldig
Ein Patient litt an einer Divertikelerkrankung, worauf ihm ein Stück des Dickdarms mittels Schlüssellochchirurgie entfernt wurde. Die Operation erfolgte lege artis und verlief problemlos. Im postoperativen Verlauf klagte der Patient jedoch trotz wiederholter Verabreichung von Schmerzmitteln über heftige abdominelle Schmerzen. In der Folge fanden verschiedene ärztliche Kontrollen und Massnahmen statt; die heftigen Schmerzen im Unterbauch blieben. Der Arzt beruhigte den Patienten am Telefon und erklärte ihm, dass aufgrund der durchgeführten Untersuchung aus chirurgischer Sicht kein Handlungsbedarf bestehe. Am nächsten Morgen fand man den Patienten regungslos im Bett vor. Nach erfolglosen Reanimationsversuchen wurde sein Tod festgestellt. Die Berner Justiz sprach den Arzt der fahrlässigen Tötung schuldig und bestrafte ihn mit einer bedingten Geldstrafe von 50 Tagessätzen zu 120 Franken. Das Bundesgericht hat die vom Arzt gegen die Verurteilung vorgetragenen Einwände allesamt abgewiesen.
Bundesgericht 6B_63/2020 vom 10.3.2021
Versicherter beantwortete Gesundheitsfragen nicht
Am 1. Juli 2015 trat ein Mann eine neue Stelle an und unterstand damit erstmals der schweizerischen Berufsvorsorgegesetzgebung. Knapp zwei Wochen später verstarb der Versicherte. Er hinterliess Ehefrau und zwei Kinder. Die PKG Pensionskasse sprach den Hinterlassenen nur die BVG-Mindestleistungen zu, Leistungen aus der überobligatorischen Versicherung lehnte sie ab. Sie begründete dies damit, dass der Versicherte den Gesundheitsfragebogen nicht eingereicht habe. Das Bundesgericht schützte dieses Vorgehen der Pensionskasse. Kommt eine Person, welche einen Vorsorgevertrag abschliessen will, der Obliegenheit, bei der Datenerhebung im Zusammenhang mit einem Gesundheitsvorbehalt mitzuwirken, nicht nach, darf die Vorsorgeeinrichtung den Abschluss des Vorsorgevertrages verweigern. Im konkreten Fall haben die Hinterlassenen weder Anspruch auf höhere Renten noch auf ein Todeskapital, obwohl der Versicherte laut ihren Aussagen im Zeitpunkt des Arbeitsbeginns vollständig gesund war.
Bundesgericht 9C_385/2020 vom 2.3.2021