Anwalt haftet wegen mangelnder Substanziierung
Das St. Galler Kantonsgericht hat einen Anwalt zu Recht wegen Pflichtverletzung im Rahmen der Prozessführung zu Schadenersatz von fast 393 000 Franken plus Zins verurteilt. Ein Landwirt hatte im Mai 2010 nach längeren Vertragsverhandlungen bei einem Unternehmen eine selbstfahrende Erntemaschine bestellt. Sie wurde nicht geliefert, worauf der Landwirt einen Anwalt beauftragte. Dieser klagte daraufhin auf vertragsgemässe Ablieferung und auf Zahlung von Schadenersatz. Doch das Gericht wies die Klage ab – soweit sie nicht zurückgezogen war –, weil es der Anwalt unterlassen hatte, die Schadenersatzforderung rechtzeitig zu substanziieren, obwohl er bei Einreichung der Replik über die geltend gemachten Schadenspositionen im Bilde gewesen war.
Bundesgericht 4A_187/2021 vom 22.9.2021
Familien dürfen wieder nach Italien überstellt werden
Ende 2018 trat in Italien das «Salvini-Dekret» in Kraft, das weitreichende Auswirkungen auf die Unterbringung von Asylsuchenden hatte. Dublin-Rückkehrer aus andern Ländern wurden in Erstaufnahmezentren oder in temporären Einrichtungen untergebracht, die oft überfüllt waren und den Bedürfnissen von Familien mit Kindern oder Personen mit gravierenden Gesundheitsproblemen nicht gerecht wurden. Ende 2019 entschied das Bundesverwaltungsgericht, dass Dublin-Überstellungen von Familien oder erkrankten Asylsuchenden nach Italien nur zulässig seien, wenn die dortigen Behörden vorgängig individuelle Garantien für eine angemessene Betreuung abgaben. Italien hat das «Salvini-Dekret» Ende 2020 weitgehend aufgehoben, die Schweiz darf wieder Familien mit minderjährigen Kindern nach Italien zurückschicken.
Bundesverwaltungsgericht F-6330/2020 vom 18.10.2021
Zu hohe Gebühr für Urteilskopie
Ein Mann ersuchte das Zuger Obergericht um Zustellung eines im Jahr 2020 in einer Strafsache ergangenen Urteils in anonymisierter Form. Das Obergericht teilte daraufhin mit, das verlangte 48-seitige Urteil werde nach Bezahlung der mit der Anonymisierung verbundenen Kosten von 240 Franken herausgegeben. Das Bundesgericht erklärte die Gebühr von 5 Franken pro Seite für unzulässig. Zwar räumt es ein, dass es sich bei der Anonymisierung um eine zeitintensive Aufgabe handelt, die den Beizug eines Gerichtsschreibers erfordert. Auf der andern Seite sei aber zu berücksichtigen, dass die von den Gerichten eingenommenen Gebühren die Kosten bei Weitem nicht decken. Mangels hinreichender Verankerung in einem formellen Gesetz ist die erhobene Gebühr von 240 Franken bundesrechtswidrig.
Bundesgericht 1C_411/2020 vom 29.9.2021
Gebühr für Rettungsdienst verhältnismässig
Eine Frau alarmierte nachts den Rettungsdienst 144, weil es ihrem Mann schlecht ging. Nach einer ersten Untersuchung erfolgte ein Transport ins Spital. Die Strecke betrug 18 km, der Einsatz dauerte etwas mehr als eine Stunde. Dafür stellte das Kantonsspital Obwalden 1325 Franken in Rechnung. Dagegen erhob der Patient Beschwerde und argumentierte, das Kostendeckungs- und Äquivalenzprinzip seien verletzt. Das Bundesgericht erachtet die Gebühr – Pauschale für Primäreinsatz 900 Franken, Nachtzuschlag 225 Franken und Pauschalbeitrag für medizinische Leistungen 200 Franken – als zulässig. Einerseits ist der Rettungsdienst nicht kostendeckend, andererseits verstossen Pauschalbeiträge nicht gegen das Kostendeckungsprinzip.
Bundesgericht 2C_992/2020 vom 23.9.2021
Beweisverwertungsverbot wegen fehlendem Hinweis
Im Rahmen einer Strafuntersuchung gegen ein Ehepaar wegen Urkundenfälschung wurde die Ehefrau als Beschuldigte befragt. Dabei wurde sie bei der Einvernahme durch die Staatsanwaltschaft auf das Selbstbelastungsprivileg und das allgemeine Aussageverweigerungsrecht aufmerksam gemacht. Auf das spezifische Aussageverweigerungsrecht bezüglich des mitbeschuldigten Ehegatten wurde sie nicht hingewiesen. In seinem Urteil hält das Bundesgericht fest, dass von Bundesrechts wegen ein Anspruch darauf besteht, vor der Befragung zum Verhalten des mitbeschuldigten Ehegatten auf das diesbezügliche spezifische Aussageverweigerungsrecht aufmerksam gemacht zu werden. Eine Verletzung dieser Hinweispflicht führt zu einem partiellen Beweisverwertungsverbot.
Bundesgericht 1B_56/2021 vom 5.10.2021
Vermeintlicher Schweizer nicht erleichtert eingebürgert
Nach Art. 29 des alten Bürgerrechtsgesetzes kann ein Ausländer, der wenigstens fünf Jahre in gutem Glauben gelebt hat, er sei Schweizer Bürger, und während dieser Zeit von den Behörden tatsächlich als solcher behandelt worden ist, erleichtert eingebürgert werden. Voraussetzung ist ein einwandfreier betreibungsrechtlicher Leumund. Dies wird einem Mann zum Verhängnis, der in Winterthur als Sohn eines Libanesen und einer schweizerisch-französischen Doppelbürgerin zur Welt kam. 2015 stellten die Behörden fest, dass er nicht im elektronischen Zivilstandsregister erfasst und 22 Jahre fälschlicherweise als Schweizer Bürger behandelt worden war. Infolge mehrerer Betreibungen und Verlustscheinen über total 20 000 Franken lehnte auch das Bundesgericht ab, den Mann erleichtert einzubürgern.
Bundesgericht 1C_683/2020 vom 1.10.2021
Bei Dringlichkeit kein Durchsuchungsbefehl nötig
Um eine Atemalkoholkontrolle durchführen zu können, betrat die Polizei die Garagenbox eines mutmasslich betrunkenen Lenkers. Das zuständige Gericht verurteilte den Lenker in der Folge wegen Fahrens in angetrunkenem Zustand zu einer bedingten Geldstrafe von 6000 Franken und einer Busse von 1500 Franken. Vor Bundesgericht argumentierte der Lenker, die Alkoholmessung sei unverwertbar, weil sie ohne Hausdurchsuchungsbefehl auf Privatgrund erhoben worden sei. Zwar räumte der Lenker ein, dass die Polizei insofern korrekt gehandelt habe, als Gefahr im Verzug war und sie deshalb ohne Hausdurchsuchungsbefehl die Garagenbox betreten durfte. Er stellte sich aber auf den Standpunkt, dass auch bei Gefahr im Verzug nachträglich ein Durchsuchungsbefehl auszustellen ist. Das Bundesgericht sieht es anders. Ein Hausdurchsuchungsbefehl müsse in einem solchen Fall auch nachträglich nicht ausgestellt werden.
Bundesgericht 6B_913/2021 vom 25.10.2021
Grobes Selbstverschulden der Fussgänger – keine Haftung
Eine Frau überquerte mit ihrer fünfjährigen Tochter zu Fuss eine Strasse. Dabei wurden sie von einem vortrittsberechtigten und mit normaler Geschwindigkeit fahrenden Motorrad erfasst und zu Boden geschleudert. Das Kind erlitt schwere Verletzungen. Die Bündner Justiz wies eine Klage gegen die Haftpflichtversicherung des Motorradfahrers wegen groben Selbstverschuldens der Mutter ab. Mit zwei Taschen beladen und dem Kind an der Hand habe die Frau die Strasse bei Feierabendverkehr an einer ungeeigneten Stelle unvorsichtig überquert, obwohl sie nicht vortrittsberechtigt war und mit schnellen Fahrzeugen – auf der Strasse galt Tempo 80 – habe rechnen müssen. Ihr Verhalten, so bereits das Graubündner Kantonsgericht, sei «schlicht unverständlich und hochriskant» gewesen. Den Motorradfahrer traf keine Schuld, er durfte laut Bundesgericht davon ausgehen, dass sich die übrigen Verkehrsteilnehmer korrekt verhalten.
Bundesgericht 4A_234/2021 vom 9.9.2021
Unzulässige Änderung des Spruchkörpers
Will ein Gericht im Verlaufe eines Verfahrens den Spruchkörper ändern, müssen hinreichende sachliche Gründe bestehen. Eine Veränderung kommt namentlich in Betracht, wenn ein Mitglied des Gerichts altershalber ausscheidet, wegen länger dauernder Krankheit oder Mutterschaftsurlaubs das Amt nicht ausüben kann oder wenn eine Neukonstituierung des Gerichts die Auswechslung erfordert. Die kurzfristige Abwesenheit wegen Ferienbezugs stellt keinen sachlichen Grund zur nachträglichen Änderung des den Parteien bekannt gegebenen Spruchkörpers dar. Es obliegt den Behörden, sich so zu organisieren, dass sie die Verfahren unter Einhaltung der prozessualen Vorschriften ohne Verzögerungen durchführen und abschliessen. Im konkret beurteilten Fall ist für das Bundesgericht nicht ersichtlich, weshalb ein seit neun Monaten hängiges Verfahren, das schriftlich geführt wurde und keine Terminabsprachen erforderte, nicht vor oder allenfalls nach der Ferienabwesenheit des Kammerpräsidenten in ordnungsgemässer Besetzung hätte beendet werden können.
Bundesgericht 6B_434/2020 vom 14.9.2021
Kein Anspruch auf juristisch ausgebildeten Richter
Gemäss den Artikeln 30 BV und 6 EMRK hat jede Person Anspruch darauf, dass ihre Sache von einem unparteiischen, unvoreingenommenen und unbefangenen Richter ohne Einwirken sachfremder Umstände entschieden wird. Aus diesen Bestimmungen lässt sich kein verfassungsmässiger Anspruch auf juristisch gebildete Richter ableiten. Der Anspruch auf einen unabhängigen Richter und auf ein faires Verfahren kann berührt sein, wenn unerfahrene Laienrichter (ohne Möglichkeiten, eine unabhängige Fachperson beizuziehen) ihres Amtes walten müssen. Im konkreten Fall brachte der Beschwerdeführer vor, ein vom Volk gewählter, 70-jähriger Oberrichter ohne juristische Ausbildung sei nicht in der Lage, ein komplexes Strafverfahren mit 6600 Seiten Akten zu leiten. Das Bundesgericht wies das Ausstandsgesuch ab, da der Laienrichter über mehrjährige Erfahrung verfügt, einen Gerichtsschreiber zur Seite hatte und es nicht um das Strafverfahren, sondern um ein Ablehnungsverfahren gegen den Staatsanwalt ging.
Bundesgericht 1B_331/2021 vom 7.10.2021
Verwerfliches Verhalten ist keine Vergewaltigung
Die Baselbieter Justiz hat einen Mann zu Unrecht wegen Vergewaltigung in Mittäterschaft verurteilt. Zwei Männer hatten eine Frau kennengelernt und waren nach durchzechter Nacht in ein Asylheim gegangen, wo einer der Männer offiziell wohnte. In der Folge hatte der im Asylheim wohnhafte Mann einvernehmlich sexuellen Kontakt mit der Frau. Sie weigerte sich jedoch, mit dem andern Mann ebenfalls sexuell zu verkehren. In der Folge verliess der bereits befriedigte Mann das Zimmer im Wissen darum, dass sein Kumpel die Frau vergewaltigen könnte, was dann auch geschah. Für das Bundesgericht mag sein Verhalten «zwar verwerflich und unter moralischer Betrachtung vorwerfbar erscheinen». Weil er aber am strafbaren Verhalten nicht aktiv mitwirkte und ihn auch keine Garantenstellung trifft, bleibt sein Verhalten in strafrechtlicher Hinsicht folgenlos.
Bundesgericht 6B_1437/2020 vom 22.9.2021