Gerichte des Bundes aktuell
Anwaltskritik im Internet keine Nötigung
Eine Frau hatte auf einer Internetseite eine Rezension zu einer Luzerner Anwaltskanzlei verfasst: «Minus fünf Sterne. Sehr inkompetentes Verhalten vom Chef persönlich. Hat Appellationstermin verpasst und gibt die Schuld an Kunden zurück.» Später teilte die Kundin mit, dass sie bei einer Rückzahlung des Honorars bereit sei, über die Löschung der «unbequemen» Rezension zu reden. Die Luzerner Justiz verurteilte die Frau wegen versuchter Nötigung und übler Nachrede zu einer bedingten Geldstrafe von 40 Tagessätzen zu 100 Franken. Beide Schuldsprüche hat das Bundesgericht aufgehoben. Beim Vorwurf der üblen Nachrede fehlte es an einem gültigen Strafantrag, bei der vorgeworfenen Nötigung handelte es sich laut Bundesgericht um ein Angebot, um den bestehenden Konflikt zu lösen. Es fehlte an einem ernstlichen Nachteil, wie ihn der Tatbestand von Art. 181 StGB verlangt.
Bundesgericht 6B_150/2021 vom 11.1.2022
Milderes Urteil für Schwyzer Ex-Polizisten
Die Berufungskammer des Bundesstrafgerichts hat die Strafe gegen den Ex-Logistikchef der Kantonspolizei Schwyz reduziert. Statt einer Freiheitsstrafe von 28 Monaten (davon acht Monate unbedingt) und einer Geldstrafe von 180 Tagessätzen sprach die Kammer eine bedingte Freiheitsstrafe von 14 Monaten und eine Geldstrafe von 120 Tagessätzen aus. Die Kammer bestätigte die Einstellung des Verfahrens hinsichtlich des unerlaubten Waffenhandels, weil die Taten mangels Vorliegens einer Gewerbsmässigkeit verjährt sind. Bezüglich der Veruntreuung von Munition erachtet die Kammer den Tatvorwurf lediglich betreffend die vom Beschuldigten anerkannten Munitionsbestellungen im Umfang von gut 53 000 Franken als rechtsgenüglich erwiesen. Die übrigen Bestellungen im Umfang von 130 000 Franken können nicht ohne begründete Zweifel zugeordnet bzw. angelastet werden. Das Urteil kann beim Bundesgericht angefochten werden.
Bundesstrafgericht CA.2021.11 vom 21.1.2022
Zurechtweisung zeugt nicht von Befangenheit
Eine Gesuchstellerin beklagte sich im Rahmen eines Revisionsgesuchs vor Bundesgericht darüber, dass sie in einem kürzlich ergangenen Urteil «auf ungewöhnliche, geradezu lehrmeisterliche Art und Weise mit fragwürdigen Formulierungen richtiggehend zurechtgewiesen» worden sei. Das Bundesgericht habe sich im Ton vergriffen, wenn es von «weitschweifigen Erörterungen» schreibe oder erkläre «auch die weiteren Beanstandungen sind zum Scheitern verurteilt». Diese grundlos negativ geprägte Haltung erwecke offenkundig den Anschein von Befangenheit und Voreingenommenheit. Für das Bundesgericht vermögen die beanstandeten Ausdrucksweisen und Schreibarten objektiv betrachtet keine ernsthaften Zweifel an der für einen korrekten und fairen Prozess notwendigen Offenheit der mitwirkenden Gerichtspersonen hervorzurufen.
Bundesgericht 5F_23/2021 vom 12.1.2022
Polizist beging Amtsmissbrauch
Das Basler Appellationsgericht hat einen Polizisten korrekterweise wegen Amtsmissbrauchs zu einer bedingten Geldstrafe von 180 Tagessätzen verurteilt. Der Polizist hatte anlässlich einer Anhaltung einen wehrlos in Bauchlage auf dem Boden liegenden Mann mit seinem rechten Fuss in das Gesicht getreten und mehrfach den Kopf des Opfers gegen den Boden geschlagen. Der Polizist argumentierte in Lausanne, es sei gemäss Art. 53 StGB (Wiedergutmachung) von einer Strafe abzusehen, da er sich mit dem Opfer aussergerichtlich geeinigt und dieses sein Desinteresse am Strafverfahren bekundet habe. Wie die Vorinstanz findet auch das Bundesgericht, dass von einer Strafbefreiung abzusehen ist. Es bestehe ein öffentliches Interesse daran, dass sich Polizisten in Ausübung des Gewaltmonopols regelkonform verhalten.
Bundesgericht 6B_781/2020 vom 17.1.2022
Maskenverweigerer ist nicht vermittlungsfähig
Ein Mitarbeiter eines Restaurants meldete sich nach Auflösung seiner Arbeitsstelle im gegenseitigen Einverständnis beim zuständigen RAV und ersuchte um die Ausrichtung von Taggeldern der Arbeitslosenversicherung. Da sich der Versicherte weigerte, bei der Arbeit eine Gesichtsmaske zu tragen, verneinte das RAV die Vermittlungsfähigkeit und den Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung. Die Maskenpflicht am Arbeitsplatz sei eine zulässige Massnahme, so das Bundesgericht. Durch seine Weigerung, eine Maske zu tragen, hat der Versicherte seine Arbeitsmöglichkeit im Gastgewerbe selbstverschuldet in übermässiger Weise eingeschränkt.
Bundesgericht 8C_494/2021 vom 27.1.2022
Unzulässige Einschränkung des Verteidigerverkehrs
Das Zürcher Zwangsmassnahmengericht (ZMG) schränkte den freien Verteidigerverkehr zwischen einem Beschuldigten und seiner amtlichen Verteidigerin auf Antrag der Staatsanwaltschaft ein. Kontakte waren für sechs Monate nur noch in einem Besucherraum mit Trennscheibe zulässig. Das ZMG warf der Verteidigerin einen Missbrauch des Verteidigerverkehrs vor, weil sie einen Brief des Beschuldigten entgegengenommen und diesen drei Tage später an eine Drittperson – konkret an den polizeilichen Sachbearbeiter der Kantonspolizei Zürich – per Einschreiben weitergeleitet hatte. Laut Bundesgericht kann dies nicht als missbräuchliche Umgehung der Briefkontrolle gewertet werden. Nach dem klaren Wortlaut von Art. 235 Abs. 3 StPO hat die Verfahrensleitung die Korrespondenz des inhaftierten Beschuldigten mit Aufsichts- und Strafbehörden keiner Briefkontrolle zu unterziehen. Zu Letzteren gehört auch die Polizei.
Bundesgericht 1B_447/2021 vom 25.1.2022
Al-Qaida-Propaganda: Schuldsprüche bestätigt
Die Berufungskammer des Bundesstrafgerichts hat zwei Vorstandsmitglieder eines Vereins in zweiter Instanz der Widerhandlung gegen das Al-Qaida/IS-Gesetz schuldig gesprochen. Der Verein hatte 2015 ein Video eines geistigen Führers der Gruppierungen Jaysh Al-Fath und der Jabhat Al-Nusra auf seinem Youtubekanal verbreitet und in einem Hotelsaal den Film «Die wahrhaftige Morgendämmerung» aufgeführt und auf Youtube verbreitet. Beide Videos enthalten Propaganda für Al-Qaida. Die Vorstandsmitglieder bewarben die Videos laut Berufungskammer vorbehaltlos und billigten den Aufruf zum bewaffneten Dschihad. Das Urteil kann beim Bundesgericht angefochten werden.
Bundesstrafgericht CA.2020.22 vom 16.12.2021
Anwalt wegen Verhalten vor Gericht gebüsst
Ein Anwalt hatte in einem Mordprozess die Haftbedingungen mehrfach als degradierend, persönlichkeitsverletzend und menschenunwürdig angeprangert. Der Angeklagte befinde sich rund um die Uhr in einer teilverglasten Zelle, in der er sich unter dauernder Zurschaustellung umziehen, schlafen und seine Notdurft verrichten müsse. Er forderte eine Verlegung in ein anderes Gefängnis und die Sistierung der Hauptverhandlung, damit sich sein Mandant angemessen auf das Verfahren vorbereiten könne. Weil das Gericht den Antrag ablehnte, stand der Anwalt auf, packte seine Sachen und verliess den Gerichtssaal. Das Gericht büsste den Anwalt mit 700 Franken wegen Verstosses gegen die Standesregeln – laut Bundesgericht zu Recht. Das Verlassen der Hauptverhandlung durch den Verteidiger sei nur gerechtfertigt, wenn dies das einzige Mittel darstellt, um durch Prozessunterbrechung einen dem Angeklagten drohenden, nicht wiedergutzumachenden Nachteil abzuwenden. Da die Haftbedingungen nicht menschenrechtswidrig seien, war diese Voraussetzung nicht gegeben.
Bundesgericht 1B_113/2021 vom 25.1.2022
Rüffel aus Bellinzona für das Bundesverwaltungsgericht
Das Bundesverwaltungsgericht stellte auf den 1. August 2020 einen neuen Leiter Personalentwicklung ein, der zugleich als stellvertretender Leiter Human Resources (HR) fungierte. Nach einem Monat wurde ihm die interimistische HR-Leitung übertragen. Wiederum einen Monat später eröffnete die Generalsekretärin dem Mitarbeiter, sie ziehe eine Kündigung des Arbeitsverhältnisses in Erwägung. Offenbar hatte sein Verhalten zur Verunsicherung und Destabilisierung des ganzen Teams geführt. Ende Oktober 2020 verfügte die Generalsekretärin die Auflösung des Arbeitsvertrages in der Probezeit mit einer Kündigungsfrist von sieben Tagen. Der Entlassene akzeptierte die Kündigung nicht und forderte 82 000 Franken Entschädigung. Die Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts hat dem Mann nun eine Entschädigung von sechs Monatslöhnen zugesprochen. Die Persönlichkeitsverletzung des zum Zeitpunkt der Kündigung knapp 59-Jährigen sei «als erheblich einzustufen».
Bundesstrafgericht RR.2020.318 vom 6.12.2021
Streit um Ausschreibung für E-Justiz-Plattform
Die Justizkonferenz und die Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren wollen ein einheitliches schweizerisches Justizportal (Justitia 4.0) schaffen. Der Dienstleistungsauftrag für die Plattform wurde im Juli 2021 öffentlich ausgeschrieben. Dagegen erhob unter anderem der Verein Digitale Gesellschaft Beschwerde. Er beantragte, die Ausschreibung sei für nichtig zu erklären. Dies mit der Begründung, das Projekt verfüge über keine eigene Rechtspersönlichkeit, weshalb dieses nicht zum Erlass von Verfügungen im Bereich des öffentlichen Beschaffungswesens befugt sei. Zudem fehle es an einer gesetzlichen Grundlage für die bevorstehende Beschaffung. Das Bundesverwaltungsgericht hat dem Verein die Legitimation zur Verbandsbeschwerde abgesprochen. Das Urteil kann beim Bundesgericht angefochten werden.
Bundesverwaltungsgericht B-3595/2021 vom 3.1.2022
Frist trotz Arztzeugnis verschuldet verpasst
Das Bundesgericht trat in einem Verfahren nicht auf eine drei Tage zu spät erhobene Beschwerde ein. Der betreffende Anwalt ersuchte um Wiederherstellung der Frist. Mit Arztzeugnissen belegte er, dass er nach einem Herzstillstand zu 50 Prozent und teilweise zu 100 Prozent arbeitsunfähig war. Zudem habe er die Anwaltskanzlei auf Geheiss des Bundes teilweise im «Homeoffice-Modus» führen müssen. Das Bundesgericht lehnte das Wiederherstellungsgesuch ab. Die Fristwahrung gehöre zu den Kernaufgaben rechtsanwaltlicher Tätigkeit und sei auch bei reduzierter Arbeitsfähigkeit und pandemiebedingten Erschwernissen zu gewährleisten. Die Frist sei nicht unverschuldet versäumt worden, weil der Anwalt innerhalb der Frist 21 Tage zu 50 Prozent arbeitsfähig war.
Bundesgericht 1B_10/2022 vom 20.1.2022