Zulässige Auflagen für Diabetiker am Steuer
Im Rahmen einer Fahreignungsuntersuchung ergab sich, dass ein Autolenker die medizinischen Mindestanforderungen für den Führerausweis wegen eines insulinpflichtigen Diabetes mellitus Typ 2 nur mit Auflage erfüllen kann. Die zuständige Motorfahrzeugkontrolle verfügte daraufhin, dass der Lenker im Auto immer rasch verfügbare Kohlenhydrate (wie Traubenzucker), ein Blutzuckermessgerät und den Diabetikerausweis mitzuführen hat. Zudem muss der Lenker bestimmte Essenszeiten einhalten und darf bei Alkoholkonsum kein Fahrzeug lenken. Laut Verfügung muss er vor jeder Fahrt den Blutzucker messen. Bei zu tiefen Blutzuckerwerten ist er verpflichtet, erst den Anstieg des Blutzuckerwertes abwarten, bevor er abfährt. Ausserdem hat der Lenker jährlich einen ärztlichen Verlaufsbericht abzuliefern, der Aufschluss über den Diabetes gibt und ihm die Fahreignung attestiert. Das Bundesgericht hat all diese Auflagen für zulässig erklärt.
Bundesgericht 1C_391/2019 vom 16.7.2020
Anschein der Befangenheit bei Oberrichter erfüllt
Jedermann hat Anspruch darauf, dass seine Streitsache von einem unbefangenen, unvoreingenommenen und unparteiischen Gericht beurteilt wird. Die Garantie des verfassungsmässigen Gerichts wird bereits verletzt, wenn bei objektiver Betrachtung Gegebenheiten vorliegen, die den Anschein der Befangenheit oder die Gefahr der Voreingenommenheit zu begründen vermögen. Ein Richter hat dementsprechend in den Ausstand zu treten, wenn er in einer anderen Stellung, insbesondere als Mitglied einer Behörde oder aus anderen Gründen, insbesondere wegen Freundschaft oder Feindschaft mit einer Partei, befangen sein könnte. Fall eines Thurgauer Oberrichters, der während des Scheidungsverfahrens, das Gegenstand eines zu revidierenden Entscheids war, vorübergehend als Anwalt der Beschwerdeführerin tätig gewesen war. Somit besteht ein Sachzusammenhang; zudem lag die anwaltliche Tätigkeit zeitlich nicht derart weit zurück, dass sie bei objektiver Betrachtung keine Rolle spielen würde.
Bundesgericht 5A_237/2020 vom 3.7.2020
Nach EGMR-Entscheid: Revisionsgesuch abgewiesen
Vor neun Jahren war ein Mann wegen eines Tötungsdelikts zu vier Jahren Freiheitsentzug verurteilt worden. Vor Ende der Strafe wurde seine Rückbehaltung im Rahmen einer fürsorgerischen Freiheitsentziehung in der Justizvollzugsanstalt Lenzburg angeordnet und mehrmals verlängert. Der Mann klagte gegen die fürsorgerische Unterbringung nach Strafvollzug beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), welcher die Klage guthiess und dem Mann 25 000 Euro Genugtuung zusprach. Der EGMR befand, die Schweiz verfüge über keine genügende gesetzliche Grundlage, um eine Person allein wegen Fremdgefährdung fürsorgerisch unterzubringen. In der Folge forderte der Mann eine Revision der ihn betreffenden Bundesgerichtsentscheide und eine angemessene Entschädigung für den immateriellen Schaden aufgrund der fürsorgerischen Unterbringung. Das Bundesgericht hat das Revisionsgesuch abgewiesen. Die vom EGMR zuerkannte Entschädigung sei geeignet, die Folgen der festgestellten Verletzung der EMRK auszugleichen.
Bundesgericht 5F_14/2019 vom 22.6.2020
Temporärer Schulausschluss wegen Masern rechtmässig
Vor drei Jahren war in der Klasse einer Primarschülerin ein Kind an Masern erkrankt. Die Kantonsärztin schloss eine andere Primarschülerin in der Folge für zwei Wochen vom Besuch der Schule aus, da sie nicht gegen Masern geimpft und noch nie an Masern erkrankt war. Dagegen erhoben die Eltern der Schülerin Beschwerde ans Bundesgericht mit dem Argument, die Gabe von Immunglobulin stelle im Verhältnis zum temporären Schulausschluss die mildere Massnahme dar. Allerdings verlangten die Eltern die Gabe von Immunglobulin nicht für ihre Tochter, sondern für die nicht impfbaren Kinder. Diese Argumentation ist nicht haltbar. Als milderer Eingriff als der temporäre Schulausschluss der Primarschülerin kann nur eine Massnahme in Frage kommen, die sie selbst betrifft. Massnahmen gegenüber Dritten können unter Berufung auf das Verhältnismässigkeitsprinzip nicht verlangt werden.
Bundesgericht 2C_395/2019 vom 8.6.2020
«Heiratsstrafe»: 91 Prozent höhere Steuern zulässig
Vor vier Jahren heirateten der Vater eines Kindes und die Mutter zweier Kinder, behielten aber je einen eigenen steuerrechtlichen Wohnsitz im Kanton St. Gallen und im Kanton Graubünden. Da sie ihren jeweiligen Unterhalt aus eigenem Einkommen und Vermögen bestreiten und damit die Gemeinschaftlichkeit der Mittel fehlt, wurden sie von den Steuerbehörden des Kantons St. Gallen und Graubünden für die Staats- und Gemeindesteuern je separat, aber zum Gesamtsteuersatz und dem Verheiratetentarif veranlagt. Die Bundessteuer veranlagte der Kanton Graubünden für beide Ehegatten. Konsequenz: Gegenüber einer Besteuerung als jeweils Alleinstehende ergab die Bundessteuer eine Mehrbelastung von 91,3 Prozent. Das Ehepaar wollte diese «Heiratsstrafe» nicht akzeptieren und lud das Bundesgericht ein, seine «gängige Praxis zu überdenken und im Einzelfall gegen eine massive Ungleichbehandlung einzuschreiten». Ohne Erfolg. Die Richter verweisen auf Art. 190 BV, welcher dem Bundesgericht nicht erlaubt, Bundesgesetze auf ihre Verfassungsmässigkeit hin zu überprüfen. Immerhin verzichtete das Bundesgericht «mit Blick auf die besonderen Umstände» auf Gerichtskosten.
Bundesgericht 2C_616/2020 vom 7.8.2020
Sicherheitshaft wegen Cannabishandel zulässig
Ein Beschuldigter handelte über sechs Jahre mit mehr als 300 kg Haschisch. Die Genfer Justiz ordnete deshalb Sicherheitshaft an. Eine dagegen eingereichte Beschwerde hat das Bundesgericht jetzt abgewiesen. Gewerbsmässiger Cannabishandel in grossem Umfang stellt eine ernsthafte Bedrohung für die Gesundheit und die Sicherheit, insbesondere von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, dar. In solchen Fällen ist eine Sicherheitshaft bei dringendem Tatverdacht und bei Annahme von Wiederholungsgefahr zulässig. Zwar sei Cannabis eine «weiche» Droge. Dennoch beeinträchtige Cannabis die Gesundheit der Konsumenten, namentlich der sich mitten in ihrer physischen und psychischen Entwicklung befindlichen Jugendlichen.
Bundesgericht 1B_393/2020 vom 2.9.2020
Aargauer Notar zum zweiten Mal gemassregelt
Die Notariatskommission des Kantons Aargau hat gegen einen Rechtsanwalt und Notar zu Recht ein Disziplinarverfahren eröffnet und diesem wegen Verletzung des Klarheitsgebots gemäss § 28 Abs. 2 des kantonalen Beurkundungs- und Beglaubigungsgesetzes sowie der Verfahrensvorschriften gemäss Art. 512 ZGB in Verbindung mit den Art. 499–504 ZGB bei der öffentlichen Beurkundung 1500 Franken Busse auferlegt. Die Notariatskommission qualifizierte zwei Verträge als Erbverzichtsverträge und warf dem Notar im Wesentlichen vor, die potenziellen Erben nicht als Parteien aufgeführt und sie nicht in die Zeugenbescheinigung einbezogen zu haben. Hinsichtlich eines weiteren Vertrages stellte die Notariatskommission fest, dass der Notar Elemente des Erbvertrages und der letztwilligen Verfügung vermischte, was gestützt auf den Numerus clausus unzulässig sei. Das Bundesgericht hat nun bestätigt, dass disziplinarrechtlich relevante Berufspflichtverletzungen vorlagen und die Busse von 1500 Franken verhältnismässig ist – zumal es sich um die zweite Disziplinierung des Notars innert kurzer Zeit handelte.
Bundesgericht 2C_114/2020 vom 25.5.2020
Grobe Nachlässigkeit in einer Anwaltskanzlei
In einer Anwaltskanzlei ist bei fristauslösenden Zustellungen besondere Vorsicht walten zu lassen, damit die Sendung intern an den zuständigen Anwalt gelangt. In einem konkreten Fall war eine Kostenvorschussverfügung ohne Fristvermerk in ein falsches Postfach abgelegt worden, und zwar in das Fach einer Anwältin im Mutterschaftsurlaub. Eine Fristwiederherstellung ist nicht möglich. Ein Anwalt hat sich das Verhalten von Hilfspersonen voll anrechnen zu lassen, ohne dass er sich exkulpieren kann. Zwar war dem Sekretariat die Weisung erteilt worden, das Postfach der für längere Zeit abwesenden Anwältin wöchentlich zu kontrollieren. Dies genügt jedoch nicht. Vor dem Hintergrund, dass die Anwältin Mandanten ihrer abwesenden Kollegin betreute, ohne deren Postfach regelmässig selber persönlich zu sichten, liegt eine grobe Nachlässigkeit vor.
Bundesgericht 2C_373/2020 vom 8.6.2020