Verkehrsbetriebe haften nicht für Unfall mit Velofahrer
Ein ortskundiger Radfahrer fuhr mit seinem Velo verbotenerweise auf dem Trottoir einer Einbahnstrasse und wollte eine Querstrasse überqueren. Als er ein vortrittsberechtigtes Tram wahrnahm, bremste er brüsk ab, um eine Kollision zu verhindern. Dabei verlor er das Gleichgewicht, stürzte und wurde vom Tram einige Meter mitgeschleift. Dabei wurde er schwer verletzt. Seine Unfallversicherung übernahm diverse Leistungen. Später klagte sie gegen die Verkehrsbetriebe und forderte die Zahlung von 1,86 Millionen Franken: Angesichts der hohen Betriebsgefahr und der strengen Kausalhaftung müssten die Verkehrsbetriebe für den Schaden aufkommen. Nach dem Zürcher Obergericht kommt auch das Bundesgericht zum Schluss, dass das Selbstverschulden des Velofahrers als so schwer zu gewichten ist, dass dieses als alleinige Ursache des Unfalls gewertet werden muss (siehe auch Seite 54 im Beitrag zur Praxis des Haftpflichtrechts).
Bundesgericht 4A_91/2022 vom 31.5.2022
Behandlungsfehler – aber Spital muss nicht zahlen
Im Rahmen eines operativen Eingriffs an der Halswirbelsäule in einem Spital erlitt ein Patient eine Rückenmarkverletzung. Er leidet seither an einer Tetraplegie. Die Unfallversicherung lehnte eine Leistungspflicht ab. Experten bejahten zwar einen Behandlungsfehler, jedoch sei der Operateur nicht vom medizinisch Üblichen ganz erheblich abgewichen. Das Bundesgericht kommt ebenfalls zum Schluss, dass kein Unfall vorliegt, weil das Merkmal der Ungewöhnlichkeit des äusseren Faktors nicht erfüllt sei. Bei der Operation habe es sich um ein Verfahren gehandelt, das standardmässig durchgeführt werde und keine erheblichen, unüblichen Risiken einschliesse. Es habe auch keine Anhaltspunkte für ein unsorgfältiges Vorgehen des Operateurs gegeben. Ein Ausklinken des Biegeinstruments komme extrem selten vor und sei auch möglich, wenn die Operation lege artis erfolge.
Bundesgericht 8C_688/2021 vom 8.6.2022
Sexualdelikt: Keine Sicherheitshaft für 85-Jährigen
Die Zürcher Justiz führt gegen einen 85-jährigen Anwalt eine Strafuntersuchung wegen Sexualdelikten – begangen zum Nachteil seines Stiefsohns. Die Staatsanwaltschaft beantragt eine Strafe von 8 Jahren Freiheitsentzug. Das Zürcher Obergericht verlängerte die Sicherheitshaft wegen Fluchtgefahr bis zur Hauptverhandlung vor dem Bezirksgericht Dietikon. Das Bundesgericht hiess eine dagegen eingereichte Beschwerde des Anwalts gut. Zwar bejaht auch das Bundesgericht die Gefahr einer Flucht des Anwalts, der ein Vermögen von mehreren hunderttausend Franken hat und über Anteile an einem Schloss in Frankreich verfügt. Allerdings halte die Beurteilung, wonach das Risiko einer Flucht beträchtlich sei, nicht vor Bundesrecht stand. Denn das hohe Alter des Anwalts und sein Gesundheitszustand würden nicht nur eine Flucht, sondern auch ein Leben auf der Flucht erheblich erschweren. Noch offen ist die Frage, ob die Sicherheitshaft aufrechterhalten wird, weil Kollusionsgefahr besteht. Die Zürcher Justiz muss diese Frage unverzüglich klären.
Bundesgericht 1B_280/2022 vom 28.6.2022
Gemeindepolizist hat keinen Amtsmissbrauch begangen
Nach der Zürcher Justiz lehnte es auch das Bundesgericht ab, grünes Licht für für ein Strafverfahren gegen einen Polizisten zu geben. Der Gemeindepolizist von Dietlikon ZH hatte einen Grundeigentümer aufgefordert, einen Fussball, der vom Pausenplatz des gegenüberliegenden Schulhauses in seinem Garten gelandet war, zu holen und ihm auszuhändigen. Falls er sich weigere, so der Polizist, mache er sich des Nichtbeachtens einer polizeilichen Anordnung schuldig und könne mit einer Busse bestraft werden. Entgegen der Auffassung des Grundeigentümers kann bei der Aufforderung zur Herausgabe des Balls nicht von Zwang oder von unrechtmässiger Anwendung von Amtsgewalt gesprochen werden. Das Vorgehen des Polizisten sei durch das Zürcher Polizeigesetz gedeckt.
Bundesgericht 1C_32/2022 vom 14.7.2022
Suiziddrohung ist eine strafbare Handlung
Im Rahmen eines Streits in seiner Wohnung drohte ein Mann, Säure auf eine Bekannte zu schütten und ihrer Tochter etwas Schlimmes anzutun. Später schrieb er ihr mehrere Textnachrichten wie «Ich bin bei der Brücke und nehme mir das Leben» oder «Ich sterbe wegen Dir». In einer weiteren Nachricht erklärte er, er sei am Sterben, habe seine Pulsader aufgeschnitten, überall sei Blut. Die St. Galler Justiz sprach den Mann unter anderem der mehrfachen Drohung schuldig. Das Bundesgericht bestätigte die Verurteilung. Eine Suiziddrohung könne für das Opfer aus verschiedenen Gründen ein Übel darstellen. Suizide können starke Schuldgefühle bei nahen Angehörigen auslösen – selbst wenn diese objektiv betrachtet keine realistische Chance hatten, die Selbsttötung zu verhindern. Es liege auf der Hand, dass solche Schuldgefühle noch verstärkt werden, wenn der Suizident einer bestimmten Person implizit oder explizit die Schuld am Suizid zuweist.
Bundesgericht 6B_555/2021 vom 29.6.2022
Krankenkasse muss Häftling nicht versichern
Ein litauischer Staatsangehöriger muss wegen krimineller Aktivitäten voraussichtlich bis Anfang 2023 eine Haftstrafe verbüssen. Die Arcosana nahm den Mann nach seiner Verhaftung in die obligatorische Krankenversicherung auf, hob diese aber nach wenigen Tagen wieder auf. Grund: Voraussetzung für eine Aufnahme in die obligatorische Krankenversicherung sei ein Wohnsitz in der Schweiz. Die Unterbringung in einer Strafanstalt begründe keinen Wohnsitz (Artikel 23 ZGB). Die Zürcher Behörden wehrten sich gegen das Vorgehen der Krankenkasse und argumentierten vor Bundesgericht, die Nichtaufnahme verletze das Grundprinzip der Chancengleichheit in der Gesundheitsversorgung und das Diskriminierungsverbot. Das Bundesgericht wies die Beschwerde ab.
Bundesgericht 9C_574/2021 und 9C_575/2021 vom 21.6.2022
Eizellenspenderin darf sich nicht als Mutter ausgeben
Ein Ehepaar hatte mit einer Frau in den USA einen Vertrag über eine Eizellenspende abgeschlossen. Ein Jahr später erhob das Ehepaar gegen die Spenderin Klage wegen Persönlichkeitsverletzung. Sie hatte gegenüber Freunden und Bekannten die Umstände der Zeugung des Kindes offengelegt und sich als Mutter ausgegeben. Die Zürcher Justiz bejahte eine Persönlichkeitsverletzung und verbot der Spenderin unter Androhung einer Bestrafung nach 292 StGB im Wiederholungsfall, über die Zeugung des Kindes zu sprechen und sich als Mutter auszugeben. Vor Bundesgericht argumentierte die Spenderin, es fehle an der Intensität einer Persönlichkeitsverletzung, weil eine Eizellenspende keine «anrüchige» Angelegenheit sei. Das Bundesgericht bestätigte das Urteil auch deshalb, weil die Spenderin die Aussagen im Bewusstsein um deren Geheimnischarakter gemacht hatte.
Bundesgericht 5A_817/2021 vom 17.5.2022
Aargau: Anwaltshonorare wurden zu stark gekürzt
Einige amtliche Verteidiger aus dem Kanton Aargau haben vor Bundesstrafgericht mit Erfolg die Kürzung ihrer Anwaltsentschädigung seitens der Strafkammer des Aargauer Obergerichts angefochten. Einem amtlichen Verteidiger war die Kostennote in der Höhe von 40 500 auf 6470 Franken gekürzt worden. Ein anderer erhielt statt der geforderten 21 000 nur 11 000 Franken. In einem dritten Fall hatte die Strafkammer die Kostennote von 13 000 auf 4650 Franken gekürzt. In all diesen und weiteren Fällen muss das Aargauer Obergericht nochmals über die Bücher gehen. In einem Obiter Dictum weist das Bundesstrafgericht darauf hin, dass in den letzten sechs Jahren aus allen Kantonen 115 Beschwerden gegen die Festsetzung des Honorars der amtlichen Verteidiger erhoben wurden, wovon 33 auf die Strafkammer des Aargauer Obergerichts entfielen. Mit ihrem Kürzungsregime setze die Strafkammer «einen Circulus vitiosus mangelnden Vertrauens in Gang», meint das Gericht. Das könne dazu führen, dass entweder zu hohe Rechnungen gestellt oder Verteidiger ihr Kostenrisiko so gering wie möglich halten und in ihr Mandat so wenig Aufwand wie möglich investieren würden.
Bundesstrafgericht BB.2021.84 vom 28.6.2022, BB.2022.55 vom 12.7.2022, BB.2021.38 vom 28.6.2022 und BB.2021.243 vom 4.7.2022
Fahrzeughalter: Nein zu überrissener Sorgfaltspflicht
Fahrzeuge dürfen nur in betriebssicherem und vorschriftsgemässem Zustand verkehren. Sie müssen so beschaffen und unterhalten sein, dass die Verkehrsregeln befolgt werden können und dass der Fahrzeugführer Mitfahrer und andere Strassenbenützer nicht gefährdet. In der Schweiz gibt es jedoch keine Norm, die einen Lastwagenchauffeur verpflichtet, vor jeder Fahrt die Bremsscheiben des Fahrzeugs und die Befestigung der Stossdämpfer zu prüfen. Die Sorgfaltsanforderungen an einen Lastwagenführer würden überspannt, wenn er ohne besondere Anhaltspunkte regelmässig die Bremsscheiben seines Fahrzeugs durch die Radfelgenlöcher von Auge prüfen müsste.
6B_225/2022 vom 30.5.2022
Erdnägel auf Nachbargrundstück sind zu entfernen
Im Zuge einer Baugrubensicherung wurden 20 Bohrlöcher in eine Nachbarparzelle gebohrt und Erdnägel angebracht, die bis 4,5 Meter in die benachbarte Parzelle ragten. Vier Jahre später forderten die Grundstückeigentümer die Entfernung der Erdnägel. Grund: Sie wollten eine Erdwärmesonde errichten lassen. Die Eigentumsfreiheitsklage wurde vom Kanton gutgeheissen. Da der Bau einer Erdsondenheizung in der betreffenden Gegend möglich ist, hat auch das Bundesgericht zugunsten der Grundstückeigentümer entschieden.
Bundesgericht 5A_319/2021 vom 2.6.2022
Kurzer Prozess bei verschlepptem Verfahren
In einem Strafverfahren wegen gewerbsmässigen Betrugs hatte das Richteramt Solothurn trotz umfangreichen Bemühungen grosse Probleme bei der Festsetzung eines Termins für die Hauptverhandlung. Zahlreiche Terminvorschläge seitens des Gerichts scheiterten an den amtlichen Verteidigern. Schliesslich entliess der Amtsgerichtspräsident die beiden Anwälte. Dagegen erhoben die beiden Angeklagten Beschwerde: Durch die Entlassung ihrer langjährigen Verteidiger und die Einsetzung neuer amtlicher Verteidiger würde ihnen ein Nachteil erwachsen. «Nachdem die Anklageerhebung gegen die Beschwerdeführer bereits vor rund zwei Jahren erfolgte, ist das Verfahren gegen sie nunmehr ohne (weitere) Verzögerung zum Abschluss zu bringen», urteilte das Bundesgericht und schützte das Vorgehen der kantonalen Justiz.
Bundesgericht 1B_360/2022 und 1B_362/2022 vom 8.8.2022