Französische Eingabe zulässig
Die Arbeitslosenkasse des Kantons Zürich strich einem französischen Staatsbürger wegen selbstverschuldeter Arbeitslosigkeit die Arbeitslosengelder. Dieser reichte eine in französischer Sprache verfasste Einsprache ein. Die Arbeitslosenkasse forderte den Franzosen auf, das Rechtsmittel auf Deutsch – der Amtssprache in Zürich – einzureichen, ansonsten auf die Beschwerde nicht eingetreten werde. Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich hob diesen Entscheid auf und verpflichtete die Arbeitslosenkasse, auf die Einsprache einzutreten. Es verwies auf die EG-Verordnung 883/2004, wonach Behörden und Gerichte eingereichte Anträge nicht zurückweisen dürfen, weil sie in einer Amtssprache eines anderen Mitgliedstaats abgefasst sind. Das Bundesgericht hat diese Auffassung bestätigt. Der Einwand der Arbeitslosenkasse, sie werde dadurch verpflichtet, Eingaben in allen 24 EG-Amtssprachen zu akzeptieren, spielt keine Rolle.
Bundesgericht 8C_248/2022 vom 30.8.2022
Amtliche Verteidigung rückwirkend aufgehoben
Im Rahmen eines Strafverfahrens im Baubereich hiess das Bezirksgericht Weinfelden ein Gesuch um amtliche Verteidigung gut. In der Folge verurteilte das Gericht zwei Personen wegen Widerhandlung gegen das Bau- und Planungsgesetz zu je 500 Franken Busse. Zugleich entzog es ihnen rückwirkend die zuvor bewilligte amtliche Verteidigung. Dagegen erhob der betroffene Anwalt Beschwerde ans Thurgauer Obergericht und forderte 4000 Franken Entschädigung. Das Obergericht trat nicht auf die Beschwerde ein. Zu Unrecht: Der Anwalt wurde als amtlicher Verteidiger eingesetzt, womit zwischen ihm und dem Kanton ein öffentlich-rechtliches Verhältnis mit entsprechenden Rechten und Pflichten bestand. Damit hat der Anwalt ein persönliches und geschütztes Interesse, sich gegen den rückwirkenden Widerruf seines Mandats zur Wehr zu setzen.
Bundesgericht 1B_555/2021 vom 1.9.2022
Anwaltskosten steuerlich nicht abzugsfähig
Im Rahmen von Eheschutzmassnahmen sprach die Genfer Justiz einer Frau Unterhaltsbeiträge für sich und ihre Kinder zu. Weil der Mann die Unterhaltszahlungen nicht leistete, leitete die Frau ein Arrestverfahren ein. Der Mann versuchte erfolglos, seine Unterhaltsverpflichtungen gerichtlich aufheben zu lassen. Die Frau wollte in der Folge in ihrer Steuererklärung die in diesen Verfahren entstandenen Anwaltskosten als Gewinnungskosten zum Abzug bringen. Weil die Genfer Justiz der Frau teilweise recht gab, erhob die Eidgenössische Steuerverwaltung Beschwerde ans Bundesgericht. Mit Erfolg: Als Gewinnungskosten gelten laut Rechtsprechung Auslagen, die wesentlich durch die Erzielung von Einkommen verursacht werden. Anwaltskosten im Zusammenhang mit dem Erlangen von Unterhaltszahlungen können nicht als Gewinnungskosten gelten.
Bundesgericht 2C_382/2021 vom 23.9.2022
Keine gewissenhafte Berufsausübung
In öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten herrscht vor Bundesgericht kein Anwaltsmonopol (Artikel 40 Absatz 1 Bundesgerichtsgesetz e contrario). Es ist deshalb auch ausländischen Anwälten, die nicht in einem kantonalen Anwaltsregister oder in der EU-/Efta-Liste eines Kantons eingetragen sind, gestattet, einen Klienten vor dem Bundesgericht zu vertreten. Doch der ausländische Anwalt muss seinen Beruf ebenso sorgfältig ausüben, wie es von anderen berufsmässigen Vertretern zu verlangen und zu erwarten ist. «Ein pflichtbewusst handelnder Rechtsvertreter mit Ansässigkeit im Ausland muss wissen, dass es sich bei der 30-Tage-Frist von Artikel 47 Absatz 1 BGG um eine gesetzliche Frist handelt, die als solche unter keinen Umständen erstreckbar ist.» Der Anwalt hatte um drei Monate Fristerstreckung ersucht, da es um komplexe Steuerfragen in Millionenhöhe mit russischem Konnex ging.
Bundesgericht 2C_618/2022 vom 6.9.2022
Betreuungsgutscheine sind keine liquiden Mittel
Im Rahmen eines Eheschutzprozesses hatte die Mutter von zwei Kindern ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung eingereicht. Die Obwaldner Justiz lehnte das Gesuch ab. Aufgrund ihrer Einnahmen sei die Mutter in der Lage, die Gerichts- und Anwaltskosten zu bezahlen. Dabei rechnete das Obergericht Betreuungsgutscheine von 2210 Franken an, welche die Mutter als wirtschaftliche Sozialhilfe von der Stadt Luzern erhält. Diese Bestimmung der Bedürftigkeit ist falsch. Betreuungsgutscheine sind keine liquiden Mittel, die zur Finanzierung des Berufungsverfahrens zur Verfügung stehen. Die Gutscheine können nur bei Institutionen eingelöst werden, mit denen die Stadt Luzern eine Vereinbarung abgeschlossen hat.
Bundesgericht 5A_1045/2021 vom 18.8.2022
Wirkung des Rückzugs einer Berufung auf Parteivertreter
Ein Rechtsanwalt hatte in einem Strafverfahren gegen zwei Personen den Privatkläger als unentgeltlicher Beistand vertreten. Er reichte gegen die Urteile hinsichtlich Zahlung einer Parteientschädigung Berufung ein, zog diese aber nach aussergerichtlichen Vergleichsverhandlungen zurück. Monate später forderte er, dass ihn der Staat für seine Aufwendungen in den aussergerichtlichen Vergleichsverhandlungen zu entschädigen habe, was ihm verweigert wurde. Zu Recht: Mit dem Rückzug der Berufungsanmeldung fand das Berufungsverfahren unmittelbar seinen Abschluss. Der unentgeltliche Rechtsvertreter des Privatklägers hätte Entschädigungsansprüche im Zeitpunkt des Rückzugs einfordern müssen, damit die Rechtsmittelinstanz im Abschreibungsbeschluss darüber befinden kann.
Bundesgericht 6B_963/2021 vom 26.9.2022
Schenkung geht Hausverkauf vor
Eine Frau schenkte ihrer Nichte ein Carigiet-Bild. Es befand sich im Haus, das die Schenkerin bewohnte. Gemäss schriftlichem Vertrag behielt sich die Schenkerin die Nutzniessung am Gemälde vor, solange sie im Haus wohnte. Eine Woche später verkaufte die Schenkerin das Haus ihrem Enkel. Zugleich begründeten die Vertragsparteien eine lebenslange Nutzniessung zugunsten der Verkäuferin. Der Kaufvertrag hielt fest: «Die Einrichtungsgegenstände sind Gegenstand des Kaufvertrags, soweit sie nicht durch Schenkungen und/oder Vermächtnisse Drittpersonen zugewendet» sind. Später verfasste die Dame einen Testamentszusatz, mit dem sie dem Enkel Möbel, Bilder, Teppiche und sämtliches Inventar vermachte. Als die Frau ins Altersheim zog, forderte die Nichte vom Enkel die Herausgabe des «Carigiet». Laut Bundesgericht muss er das Bild herausgeben.
Bundesgericht 5A_71/2022 vom 14.9.2022
Rechtfertigender Notstand zurückhaltend anzunehmen
Die Zürcher Justiz hat einen Mann zu Unrecht unter Hinweis auf einen rechtfertigenden Notstand vom Vorwurf der qualifiziert groben Verletzung von Verkehrsregeln freigesprochen. Der Mann war auf der Autobahn mit Tempo 200 unterwegs, um seine mitfahrende herzkranke Ehefrau schnell mit Medikamenten versorgen zu können. Dieser Umstand rechtfertigt die Raserfahrt laut Bundesgericht nicht. Notstand ist nur mit grosser Zurückhaltung anzunehmen, und zwar auch dann, wenn der unmittelbare Schutz eines Menschenlebens auf dem Spiel steht. Denn gleichzeitig werden bei einer solchen Raserfahrt die Insassen und andere Verkehrsteilnehmer konkret gefährdet. Der Zeitgewinn von höchstens einigen Minuten steht in keinem Verhältnis zur massiv übersetzten Geschwindigkeit.
Bundesgericht 6B_322/2022 vom 25.8.2022
Umkleidezeit ist keine Arbeitszeit
Angestellte des Universitätsspitals Zürich gelangten an die Spitaldirektion und verlangten für die Umkleidezeit Lohnnachzahlungen. Das Zürcher Verwaltungsgericht kam – wie zuvor der Spitalrat – zum Ergebnis, dass die Umkleidezeit nicht als Arbeitszeit gilt. An sich widerspricht dies dem Arbeitsgesetz. Danach gilt als Arbeitszeit die Zeit, während der sich Angestellte zur Verfügung des Arbeitgebers zu halten haben. Für das Bundesgericht ist es nicht willkürlich, wenn sich das Verwaltungsgericht bei der Auslegung der anwendbaren Bestimmungen des Arbeitszeitreglements des USZ und der Personalverordnung nicht an der Rechtslehre und privatrechtlichen Rechtsprechung zum Begriff der Arbeitszeit orientierte, «sondern statt dessen in Anlehnung an die gelebte Praxis im Ergebnis zu einem engeren Verständnis der bezahlten Arbeitszeit gelangte».
Bundesgericht 8D_2/2022, 8D_1/2022 und 8C_28/2022 vom 4.10.2022